Europarecht

Flüchtlingsanerkennung für syrische Staatsangehörige nach Zuerkennung subsidiären Schutzes in Bulgarien

Aktenzeichen  M 22 K 15.30256

Datum:
17.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 26a, § 27a, § 71a
GG GG Art. 16a Abs. 2
VO (EG) 343/2003 Art. 16 Abs. 1
RL 2005/85/EG RL 2005/85/EG Art. 25, Art. 32 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Auf subsidiär Schutzberechtigter, deren Antrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt wurde, sind weiterhin die Dublin-Regelungen bezüglich der Bestimmung des zuständigen Staates entsprechend den Vorgaben der Dublin II-VO anwendbar. (redaktioneller Leitsatz)
2 Aufgrund des Anwendungsvorrangs der Richtlinie 2005/85/EG durfte in Fällen, in denen ein Asylbewerber aufgrund eines vor dem 1. Januar 2014 gestellten Antrags in einem anderen Mitgliedstaat subsidiären Schutz erhalten hat, die Prüfung des § 71a Abs. 1 AsylG im Hinblick auf einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG abhängig gemacht werden; vielmehr ist der Antrag in der Sache wie ein Erstantrag zu prüfen. (redaktioneller Leitsatz)
3 Rückkehrer, die im westlichen Ausland gelebt und dort ggf. einen Asylantrag gestellt haben, haben im Falle einer Abschiebung eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten und bereits diese Befragung löst eine Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter aus. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. März 2015 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, den Klägern zu 3) bis 9) zum Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit der Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2).
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Die Klage ist zulässig und im Hauptantrag begründet, da die Kläger wie tenoriert Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben. Dabei geht das Gericht davon aus, dass mit Blick auf den von der Klagepartei formulierten Antrag kein teilweises Unterliegen gegeben ist, es sich vielmehr in Bezug auf den Ausspruch im Urteil zur Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 3) bis 9) in Abhängigkeit von der Unanfechtbarkeit der Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2) der Sache nach nur um ein Klarstellung handelt.
1. Vorab ist weiter darauf hinzuweisen, dass nach Auffassung des Gerichts bei der hier gegebenen Konstellation der Ablehnung ohne Sachprüfung als unzulässig grundsätzlich ein Rechtsschutzbedürfnis für die Erhebung einer sog. isolierten Anfechtungsklage besteht, mit Blick auf die Besonderheiten des Falles, weil die Beklagte den Antrag als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG hätte sachlich prüfen müssen, daneben aber auch von der Zulässigkeit einer Verpflichtungsklage auszugehen ist, wobei der Klagepartei, weil ihr bei einem „Durchentscheiden“ eine Klageinstanz verloren ginge, ein Wahlrecht hinsichtlich des Vorgehens einzuräumen ist (allgemein zu dieser Problematik Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 42 Rn. 18 ff.; siehe hierzu auch BVerwG, U.v. 7.3.1995 – 9 C 264/94 – und, zum Durchentscheiden bei Asylfolgeanträgen, BVerwG, U.v. 10.2.1998 – 9 C 28/97 – beide in juris). Gegen die Umstellung des Klageantrags bestehen daher keine Bedenken (zur Beurteilung des Übergangs von einer isolierten Anfechtungsklage auf die Verpflichtungsklage als bloße Klageerweiterung im Sinne von § 264 Nr. 2 ZPO i. V. m. § 173 Satz 1 VwGO vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2008 – 11 C 08.889 – juris).
2. Das Bundesamt hat den Asylantrag der Kläger zu Unrecht unter Berufung auf § 26a AsylG abgelehnt. Des Weiteren scheidet eine Umdeutung in eine Ablehnung nach § 27a AsylG aus (3.). Der Antrag wäre vielmehr, wie schon erwähnt, als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG zu behandeln gewesen, allerdings mit Modifikationen als Folge der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Unter Berücksichtigung der daraus folgenden Anforderungen ist festzustellen, dass den Klägern ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht (4).
3. Die Ablehnung eines Asylantrags unter Berufung auf die Drittstaatenregelung (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a AsylG), wie hier geschehen, kommt u. a. dann nicht in Betracht, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (§ 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG). Das ist vorliegend der Fall.
3.1 § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG bezieht sich auf die Zuständigkeitsbestimmungen in den sog. Dublin-Verordnungen. Derzeit gilt die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 – Dublin III-VO -, mit der die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003 – Dublin II-VO – abgelöst wurde.
Wenn und soweit die Dublin-Regelungen anwendbar sind, bestimmt sich die Zuständigkeit allein nach deren Vorgaben. Ist danach davon auszugehen, dass ein anderer Dublinstaat für die Durchführung des Asylverfahrens bzw. nach Abschluss des dortigen Verfahrens für die Wiederaufnahme des Drittstaatsangehörigen zuständig ist, erfolgt eine Verbescheidung eines in Deutschland gestellten Asylantrags ohne materielle Prüfung nach § 27a AsylG. Ist nach diesen Bestimmungen dagegen von einer Zuständigkeit Deutschlands auszugehen, hat das Bundesamt den Asylantrag sachlich zu prüfen. Ein Rückgriff auf die Regelung des § 26a AsylG scheidet in einem solchen Fall unabhängig von der Einreise des Asylbewerbers aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG aus.
Die primäre Zielsetzung der Dublin-Regelungen ist darin zu sehen, dass es innerhalb der Mitgliedsstaaten nur einen zuständigen Staat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz geben soll (vgl. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO) und dieser für den Fall des negativen Verfahrensausgangs auch dafür zu sorgen hat, dass der Drittstaatsangehörige das Gebiet der Mitgliedsstaaten wieder verlässt, wenn ihm nicht aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht eingeräumt wird. Die Verordnung regelt daher neben der Zuständigkeit für die Durchführung des Verfahrens auf internationalen Schutz weiter auch die Modalitäten der Überstellung des Drittstaatsangehörigen in den zuständigen Mitgliedsstaat (Art. 20 ff. Dublin III-VO), und zwar auch für den Fall, dass der Drittstaatsangehörige nach Ablehnung seines Antrags in dem zuständigen Mitgliedsstaat in einen anderen Mitgliedsstaat weiterreist und dort ggf. einen weiteren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes stellt (vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO, bisher Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO).
Die Dublin-Regelungen sind folglich anwendbar, wenn über einen (Erst-)Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes im zuständigen Mitgliedsstaat noch nicht abschließend entschieden wurde oder aber – mit Blick auf eine Wiederaufnahmeverpflichtung – der Antrag bestandskräftig abgelehnt wurde. Im letzteren Falle kann allerdings bei erneuter Antragstellung je nach den Umständen auch eine Verpflichtung zur sachlichen Prüfung des weiteren Antrags durch den Mitgliedsstaat, in den der Antragsteller weitergereist ist, entstehen, wenn die für ein Wiederaufnahmeverfahren zu beachtenden Fristen nicht eingehalten wurden (vgl. Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO; Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Stand: 1.2.2014, Art. 23 K 6).
Zum Begriff des Antrags auf internationalen Schutz verweist die Dublin III-VO in Art. 2 Buchst. b auf Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie/Neufassung), wonach ein solcher Antrag vorliegt, wenn der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt. Die Dublin II-VO bezog sich dagegen nur auf Anträge, die als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedsstaates im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen werden konnten (vgl. Art. 2 Buchst. c Dublin II-VO), erfasste also nicht auch einen Antrag auf subsidiären Schutz.
Nach Maßgabe der Dublin II-VO galten daher Antragsteller, deren Antrag auf Flüchtlingsanerkennung abgelehnt und denen lediglich der subsidiäre Schutz in einem anderen Mitgliedsstaat zuerkannt wurde, als abgelehnte Asylbewerber mit der Folge, dass diese weiterhin dem Dublinregime unterfielen und sich auch deren Rückführung in den betreffenden Mitgliedsstaat nach den Regelungen der Verordnung richtete (vgl. Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO). Da die Dublin III-VO dagegen auch den subsidiären Schutz einbezieht, dürfte nunmehr in Fällen, bei denen dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedsstaat dieser Status zuerkannt wurde, der dort also zwar nicht als Flüchtling, aber als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt ist, auch soweit es um die Frage einer Rückführung in den betroffenen Mitgliedsstaat geht, die Verordnung nicht (mehr) anzuwenden sein (a.A. – die Zuerkennung subsidiären Schutzes hindert die Anwendung der Dublin III-VO nicht – wohl Funke-Kaiser, Asylmagazin 2015, 148/150; siehe hierzu auch VGH BW, U.v. 29.4.2015 – A 11 S 57/15 – juris Rn. 37 a.E. – und noch weitergehend Bergmann, ZAR 2015, 81/83).
Nach der hier vertretenen Auffassung sind aber jedenfalls für die Konstellation, dass die Zuerkennung des subsidiären Schutzes noch aufgrund eines Antrags erfolgte, auf den die Dublin II-VO anwendbar war (Übergangsfälle), die Dublin-Regelungen in Bezug auf eine Rückführung in den Schutz gewährenden Staat weiter anzuwenden.
Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 Dublin III-VO bestimmt, dass die Verordnung auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar ist, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats nach ihrem Inkrafttreten (das ist der 01.01.2014) gestellt werden – gemeint sind damit nur Erstanträge (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, a. a. O., Art. 49 K 3) – und ab diesem Zeitpunkt, ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung, für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern gilt. Die Dublin III-VO ist danach bei Antragstellern, die ihren maßgeblichen Erstantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt haben, zwar in Bezug auf die Verfahrensregelungen zu Gesuchen um Aufnahme oder Wiederaufnahme, im Übrigen aber nicht anwendbar. Die Festlegung der Zuständigkeit und damit der Pflicht des betroffenen Staates zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Drittstaatsangehörigen bestimmt sich in diesen Übergangsfällen allein nach den Vorschriften der Dublin II-VO.
Hinsichtlich subsidiär Schutzberechtigter, deren Antrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt wurde, verhält es sich nach Auffassung des Gerichts folglich so, dass auf diese – weil die Betroffenen nach der Dublin II-VO als abgelehnte Asylbewerber gelten – weiterhin die Dublin-Regelungen bezüglich der Bestimmung des zuständigen Staates entsprechend den Vorgaben der Dublin II-VO anwendbar sind (so auch Marx, InfAuslR 2014, 227 und Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 71a Rn. 31). Die Wiederaufnahmeverpflichtung folgt insoweit aus Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO. Das Verfahren zur Wiederaufnahme bestimmt sich dagegen nach den Regelungen der Dublin III-VO.
3.2 Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor, da die Kläger ihren Erstantrag noch unter Geltung der Dublin II-VO gestellt haben und ihnen in Bulgarien lediglich subsidiärer Schutz zuerkannt wurde. Für eine Überstellung der Kläger nach Bulgarien wären also die Dublin-Regelungen einschlägig gewesen, weshalb eine Ablehnung des Asylantrags unter Berufung auf § 26a AsylG nicht zulässig war.
3.3 Eine Umdeutung der Ablehnung nach § 26a AsylG in eine solche nach § 27a AsylG kommt gleichfalls nicht in Betracht, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des (weiteren) Verfahrens auf die Bundesrepublik übergegangen ist (vgl. Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO). Die Fristen zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs waren zum Zeitpunkt der Verbescheidung der Anträge längst abgelaufen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass Bulgarien weiterhin bereit wäre, die Kläger im Vollzug der Dublin-Regelungen wieder aufzunehmen.
4. Nach Gemeinschaftsrecht ist mithin von einer Zuständigkeit der Bundesrepublik für die Durchführung des weiteren Asylverfahrens auszugehen. Der Antrag ist aber nicht als Erstantrag zu behandeln, denn es liegt auf der Hand, dass die von den Klägern in Bulgarien gestellten Anträge teilweise – hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – abgelehnt wurden. Das Bundesamt hätte den in der Bundesrepublik gestellten weiteren Asylantrag folglich als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG einstufen und entsprechend verbescheiden müssen.
4.1 Dazu ist zunächst festzustellen, dass der Umstand, dass den Klägern in Bulgarien subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, der Geltendmachung eines Anspruchs jedenfalls auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Rahmen eines Zweitantragsverfahrens nicht entgegensteht.
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juni 2014 – 10 C 7.13 – (BVerwGE 150, 29), auf das sich die Beklagte insoweit ausweislich der Bescheidsbegründung beruft, betraf eine mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbare Fallgestaltung, da der Kläger in dem dortigen Verfahren in einem anderen Mitgliedsstaat als Flüchtling anerkannt worden war. Eine solche ausländische Flüchtlingsanerkennung hat zur Folge, dass der Betroffene nach § 60 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG kraft nationalen Rechts nicht in den Herkunftsstaat abgeschoben werden darf. Einen Anspruch auf eine erneute Statusanerkennung durch das Bundesamt hat er nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aber nicht. Dies gilt über § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch in Bezug auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Im hier zu entscheidenden Fall geht es dagegen um die Konsequenzen, die sich aus der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei vorheriger Gewährung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedsstaat für einen erneuten Asylantrag im Bundesgebiet ergeben.
Was diese hier vorliegende Konstellation angeht, dass eine Aufstockung des Schutzes begehrt wird, ist festzustellen, dass ungeachtet einer fehlenden nationalen Regelung, die eine Ablehnung als unzulässig rechtfertigen könnte, auch das maßgebliche Gemeinschaftsrecht einer solchen Vorgehensweise entgegensteht (vgl. BVerwG, B.v. 23.10.2015 – 1 B 41/15 – juris). Der Übergangsregelung in Art. 52 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie/Neufassung) ist zu entnehmen, dass für vor dem 20. Juli 2015 gestellte Anträge die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Maßgabe der Richtlinie 2005/85/EG vom 1. Dezember 2005 gelten. Für vor dem Stichtag gestellte Anträge – wie im Fall der Kläger – bestimmt sich gemeinschaftsrechtlich die Frage der Ablehnung als unzulässig daher nach Art. 25 der Richtlinie 2005/85/EG. Nach Abs. 2 Buchst. a dieser Bestimmung können die Mitgliedsstaaten einen Asylantrag wegen Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedsstaat aber nur als unzulässig betrachten, wenn der andere Mitgliedsstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Das war hier aber gerade nicht der Fall.
4.2 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass nach Auffassung des Gerichts aufgrund des Anwendungsvorrangs der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen die sachliche Prüfung vorliegend entgegen § 71a Abs. 1 AsylG nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG abhängig gemacht werden darf, vielmehr der Antrag wie ein Erstantrag zu prüfen gewesen wäre. Die wie bereits erwähnt aufgrund der Antragstellung vor dem 20. Juli 2015 weiter anwendbare Richtlinie 2005/85/EG sah in Art. 32 Abs. 2 bis 6 eine Zulässigkeitsprüfung hinsichtlich neuer Elemente und Erkenntnisse sowie das Unterbleiben einer weiteren Prüfung, wenn diese aufgrund Verschuldens des Antragstellers im früheren Verfahren nicht vorgebracht wurden, nur vor, wenn ein Folgeantrag im selben Mitgliedsstaat gestellt wurde (Art. 32 Abs. 1 Satz 1). Auf die Stellung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedsstaat (im Gemeinschaftsrecht werden auch solche Anträge als Folgeantrag bezeichnet) sind diese Einschränkungen nicht übertragbar. Die inhaltliche Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedsstaat entfaltet auch keine sog. Tatbestandswirkung in Bezug auf ein weiteres in einem anderen Mitgliedsstaat durchzuführendes Verfahren. Insoweit verbleibt es also bei einer Prüfung nach den allgemeinen Kriterien (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 71a Rn. 2 ff. m. w. N. zur Gegenmeinung; zur im Wesentlichen unveränderten Rechtslage unter Geltung der Richtlinie 2013/32/EU siehe dort Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40).
4.3 Die Kläger können danach die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen.
4.3.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich
1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Absätze 2 und 3 der Bestimmung beinhalten Exklusionsklauseln u. a. für den Fall des Verdachts der Begehung bestimmter schwerer Straftaten (Abs. 2) sowie bei anderweitiger Schutzgewährung durch eine Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR (Abs. 3).
Einzelheiten zum Begriff der Verfolgungshandlung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen, den Verfolgungs- bzw. Schutzakteuren sowie zur Frage eines etwaigen internen Schutz regeln die §§ 3a bis e und 28 Abs. 1a und Abs. 2 AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU.
Einem Ausländer, der Flüchtling nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG (weitere Ausschlussklausel bei Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bzw. bei Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit).
4.3.2 Die einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen jedenfalls bei den Klägern zu 1) und zu 2) vor.
Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob die Kläger zu 1) und 2) vor verfolgt aus Syrien ausgereist sind, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylVfG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.
Das erkennende Gericht geht wie auch eine Vielzahl anderer Gerichte (vgl. hierzu etwa VGH BW, B.v. 19.6.2013 – A 11 S 927/13 – und B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 -; OVG LSA, U.v. 18.7.2012 – 3 L 147/12 -; VG Köln, U.v. 26.6.2014 – 20 K 4130/13.A -; VG Frankfurt, U.v. 26.9.2014 – 3 K 1489/13.A -; VG Augsburg, U.v. 25.11.2014 – Au 2 K 14.30422 – alle in juris) auf der Grundlage einer Gesamtschau der Verhältnisse in Syrien davon aus, dass Rückkehrer, die im westlichen Ausland gelebt und dort ggf. einen Asylantrag gestellt haben, im Falle einer Abschiebung eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten hätten und bereits diese Befragung eine Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslösen würde (Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylG; zur Situation in Syrien siehe Auswärtiges Amt – AA -, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.02.2012: zu Repressionsmaßnahmen gegen echte und vermeintliche Oppositionelle allgemein siehe S. 7 f.; zur Menschenrechtslage – Foltergefahr, Haftbedingungen – siehe S. 10 ff.; zur Beobachtung exilpolitischer Aktivitäten durch syrische Geheimdienste siehe S. 10; zu Rückkehrbefragungen und damit zusammenhängend der Gefahr, verhaftet bzw. Opfer von Misshandlungen zu werden, vgl. AA, Lagebericht vom 27.09.2010, S. 19 f., AA, Ad hoc-Ergänzungsbericht vom 07.04.2010 und Amnesty International – AI -, Bericht vom 14.03.2012, „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“; siehe zur aktuellen Situation weiter auch die AI-Jahresberichte 2012 bis 2014 und Bundesamt, Syrien – Situation in den Provinzen, April 2014; dazu, dass das Fehlen von „Referenzfällen“ einer prognostischen Wertung in diesem Sinne nicht entgegensteht, vgl. OVG NRW, U.v. 14.2.2012 – 14 A 2708/10.A – juris; zu § 60 Abs. 2 AufenthG a. F.).
Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen auch die Bejahung des mit dem Kriterium der begründeten Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) der Sache nach vorgegebenen bzw. geforderten Gefährdungsgrades hinsichtlich einer entsprechenden Rechtsgutsverletzung nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; juris Rn. 23 zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Insoweit die subjektive Seite in den Blick nehmend („begründete Verfolgungsfurcht“) ist nach Auffassung des Gerichts offenkundig, dass aufgrund der realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, es einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten wäre, jetzt als ehemaliger Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung wegen der Entwicklungen in jüngerer Zeit nicht mehr gerechtfertigt wäre, liegen nicht vor. Tatsächlich dürfte sogar von einer Verschärfung der Gefährdungslage für Rückkehrer auszugehen sein, weil sich die Gewinnung von Erkenntnissen über exilpolitische Aktivitäten aus Sicht des syrischen Staates gerade auch vor dem Hintergrund der Parteinahme einer Vielzahl westlicher Staaten für Teile der Opposition (der syrische Bürgerkrieg weist auch Elemente eines Stellvertreterkrieges auf) als bedeutsamer als zu Beginn der Unruhen darstellen dürfte.
Die (für den Fall einer Rückkehr mit Kontakt zu den syrischen Behörden anzunehmende) Gefährdung der Kläger zu 1) und zu 2) (Foltergefahr bei Rückkehrbefragung) würde des Weiteren zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmale anknüpfen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG zur Zuschreibung relevanter Merkmale durch den Verfolger; siehe hierzu auch VGH BW, B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13 -; Hess VGH, B.v. 27.1.2014 – 3 A 917/13.Z.A -; OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.1.2014 – 3 N 91.13 -; a.A. OVG NRW, U.v. 14.2.2012 – 14 A 2708/10.A – alle in juris).
Eine (zumutbare) inländische Fluchtalternative für Rückkehrer (vgl. § 3e AsylG) besteht derzeit in Syrien nicht (siehe dazu die oben genannten die aktuelle Situation darstellenden Erkenntnismittel).
Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entgegenstehen könnte.
Im Ergebnis ist danach festzustellen, dass die Kläger zu 1) und zu 2) Flüchtlinge im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG sind und sie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylVfG beanspruchen können.
4.3.3 Den Klägern zu 3) bis 9) als minderjährigen Kindern der Kläger zu 1) und 2) ist die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i. V. m. Abs. 2 AsylG zu dem Zeitpunkt zuzuerkennen, in dem die Zuerkennung gegenüber den Klägern zu 1) und 2) unanfechtbar wird.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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