Aktenzeichen M 10 K 17.1516
Leitsatz
1 Bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung sind vor allem Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthalts, das seitherige Verhalten, die familiäre Situation sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welchen die Familienangehörigen in dem Staat, aus dem der Ausländer ausgewiesen werden soll, ausgesetzt wären, die Belange und das Wohl der Kinder und die Beziehungen im Gastland und zum Zielstaat zu berücksichtigen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2 Angesichts einer Verurteilung zu einer Haftstrafe von über 7 Jahren wegen einer gewalttätig begangenen Straftat gegen das Leben liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse trotz langjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik vor. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 8 Jahre unter der Bedingung der nachgewiesenen Straf- und Drogenfreiheit und der Hinweis auf dessen Aufhebung sind rechtmäßig. (Rn. 26 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Der Bescheid vom 7. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Denn dem besonders schwerwiegenden Interesse des Klägers, seinen langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik fortzuführen, steht das ebenfalls besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse wegen seiner Straftat entgegen.
1. Die unter Ziffer 1 des Bescheids vom 7. März 2017 ausgesprochene Ausweisung ist rechtmäßig.
Nach § 53 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (dazu unter a.), ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (dazu unter b.).
a. Vom Kläger geht weiterhin eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die freiheitliche demokratische Grundordnung aus, § 53 Abs. 1 AufenthG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U. v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben geht das Gericht davon aus, dass vom Kläger eine entsprechende Wiederholungsgefahr ausgeht und sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht.
Der Kläger hat eine sehr schwere Straftat begangen. Das vergangene Verhalten des Klägers, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe: Der Kläger hat in schuldfähigem Zustand die besonders geschützten Rechtsgüter Leben und Gesundheit angegriffen und es dabei dem Zufall überlassen, ob eine konkrete Lebensgefährdung eingetreten ist. Er handelte mit dem Vorsatz, einen Menschen auf offener Straße zu töten, obwohl ihm die Menge an Zeugen und die Gefahr einer Strafverfolgung bewusst gewesen sein muss. Auch wenn der Kläger alkoholisiert war, zeigt das eine Geringschätzung der strafrechtlichen Normen. Eine Alkoholabhängigkeit liegt beim Kläger nicht vor. Vor dem Strafgericht hat der Kläger seine Tat bereut; im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren hat der Kläger sich zu der Tat und seiner Einstellung hierzu nicht näher geäußert. Er beschränkte sich auf die Aussage, er habe eine Gefahr von seiner Frau abwenden wollen und könne die Tat nicht ungeschehen machen. Dass der Kläger andere Tatumstände schildert als vom Strafgericht auf Grund umfassender Beweiswürdigung festgestellt, lässt eine Aufarbeitung und Distanzierung von der geschehenen Gewalttat unwahrscheinlich erscheinen. Es sind keine Umstände vorgetragen, aus denen hervorgeht, dass der Kläger seine Tat verarbeitet hat und seine Aggressionen mittlerweile kontrollieren kann oder sich dabei Hilfe holt. Auch hat der Kläger die Haftzeit nicht genutzt, um Therapie- oder Weiterbildungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Nach Angaben der früheren Ehefrau liegt vielmehr nahe, dass der Kläger bereits vor der Tat ihr und den Kindern gegenüber straffällig geworden ist, wenn dies auch nicht angezeigt wurde bzw. die Anzeige zurückgenommen wurde. Entgegen der Ansicht der Klägerbevollmächtigten kann von einer einmaligen Beziehungstat nicht ausgegangen werden, da weder auszuschließen ist, dass der Kläger eine erneute Beziehung eingeht, in der Probleme auftauchen, noch ersichtlich ist, dass nur dieser eine Anlass zur Eskalation führen kann. Auf eine statistische Risikoberechnung kommt es nicht an, vielmehr sind die konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Es sind vielfältige Konstellationen denkbar, in denen der Kläger sich in seiner Ehre gekränkt oder überfordert fühlt. Die Erkenntnis, dass er sich in solchen Situationen an die Strafgesetze halten muss, sieht das Gericht nicht nachgewiesen, ebenso wenig Bestrebungen, nach dieser Erkenntnis zu handeln und aufkeimende Wut zu kontrollieren. Nach Ansicht des Gerichts ist die Beklagte somit unabhängig von Fragen der Generalprävention zu Recht von einer Gefährdung durch den Kläger ausgegangen.
b. Die Beklagte hat das Ausweisungsinteresse mit dem Bleibeinteresse des Klägers rechtmäßig abgewogen.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Diese Abwägung ist voll gerichtlich überprüfbar. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet nach dieser Gesamtabwägung überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die in den §§ 54 f. AufenthG genannten Ausweisungs- und Bleibeinteressen werden nur allgemein als schwer bzw. besonders schwer typisiert, ohne im Sinne eines Automatismus die letztliche Interessenabwägung zu bestimmen. Erforderlich ist vielmehr eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalles bereits auf Ebene des Tatbestands (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49 f.; HessVGH, B.v. 5.2.2016 – 9 B 16/16 – juris Rn. 5; VG Düsseldorf, U.v. 11.2.2016 – 8 K 1493/15 – juris Rn. 45 ff.; VG München, B.v. 4.4.2016 – M 10 S 15.5791 – juris; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 7 ff., 27).
Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
aa. Es liegen die besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen des § 54 Abs. 1 Nr. und Nr. 1a AufenthG vor. Der Kläger ist wegen einer gewalttätig begangenen Straftat gegen das Leben zu einer Haftstrafe von über sieben Jahren verurteilt worden. Auch im Einzelfall wiegt diese Tat schwer, zumal die vom Gesetz vorgenommene Typisierung bei Freiheitsstrafen von einem bzw. zwei Jahren weit überschritten wurde.
bb. Dem steht das ebenfalls schwerwiegende Bleibeinteresse des § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, da der Kläger im Besitz einer Niederlassungserlaubnis war und sich schon seit weit über fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Das Gericht folgt der Beklagten in der Einschätzung, dass das Bleibeinteresse des § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG nicht gegeben ist, da der Kläger weder das Sorgerecht für seine Kinder noch Kontakt zu ihnen hat, was diese und ihre Mutter auch nicht wünschen. Faktischer Inländer ist der im Alter von 28 Jahren eingereiste Kläger nicht, so dass die Beklagte rechtmäßig Art. 8 EMRK nicht in die Abwägung eingestellt hat.
cc. Die Beklagte hat die Abwägung dieser widerstreitenden Interessen rechtmäßig vorgenommen. Angesichts der massiven Straffälligkeit des Klägers konnte die Beklagte den langjährigen rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers in Deutschland beenden. Die zur Frage der Wiederholungsgefahr ausgeführten Tatumstände rechtfertigen die von der Beklagten vorgenommene Abwägung zu Lasten des Bleibeinteresses. Auch nach einem langjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik hat eine Straftat gegen das Leben eines anderen das ausreichende Gewicht, dem Kläger durch die Ausweisung die Wirkungen der Niederlassungserlaubnis zu entziehen und die Ausreisepflicht zu begründen.
2. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ziffern 2 und 3 des angefochtenen Bescheids rechtmäßig.
Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG in Ziff. 2 des Bescheids auf acht Jahre unter der Bedingung der nachgewiesenen Straf- und Drogenfreiheit, ansonsten zehn Jahre ist verhältnismäßig. Die Frist berücksichtigt die Anforderungen des § 11 Abs. 3 AufenthG. Sie übersteigt zehn Jahre nicht. Angesichts der massiven Straffälligkeit des Klägers ist eine fünf Jahre übersteigende Frist angemessen.
In der Begründung genügt der Bescheid den rechtstaatlichen Anforderungen, die im vorliegenden Sonderfall zu berücksichtigen sind. Denn der Kläger ist zwar ausreisepflichtig, kann aber wegen des bestehenden Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des Bundesamts nicht abgeschoben werden. In solchen Fällen ist problematisch, dass das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot erst mit der Ausreise beginnt und bei längerer Andauer des Abschiebungsverbots ein Aufenthaltstitel möglicherweise niemals erteilt werden könnte (vgl. BayVGH, B.v. 28. Juni 2016 – 10 B 15.1854 – juris Rn. 52). Die Beklagte hat dieses Problem erkannt, indem sie darauf hingewiesen hat, dass der Kläger nach § 11 Abs. 4 AufenthG die Möglichkeit hat, die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu beantragen. Nachdem es sich um eine Vorschrift mit intendiertem Ermessen handelt, ist davon auszugehen, dass dem Kläger bei Vorliegen der Voraussetzungen die Aufhebung des Verbots auch gewährt würde.
Der Bescheid vom 7. März 2017 ist somit rechtmäßig
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.