Europarecht

Hilfe zur Erziehung

Aktenzeichen  W 3 K 17.791

Datum:
15.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28089
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 27, § 34, § 86 Abs. 2 S. 2, § 86c Abs. 1 S. 1, § 89c Abs. 1 S. 1
SGB X § 111 S. 1

 

Leitsatz

Die wirksame Geltendmachung eines Kostenerstattungsanspruchs durch einen Leistungsträger setzt voraus, dass die Absicht, rechtssichernd tätig zu werden, dabei unmissverständlich deutlich wird. Zwar braucht der zugrundeliegende Sachverhalt, der den Erstattungsanspruch begründen soll, noch nicht in allen Einzelheiten geschildert zu werden; die Kostenerstattungsforderung muss aber endgültig und unmissverständlich erhoben werden, so dass die für die Entstehung des Erstattungsanspruches maßgeblichen Umstände sowie der Zeitraum, für den die Hilfeleistungen erbracht worden sind, hinreichend konkret mitgeteilt werden (BSG BeckRS 1989, 04393).  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Mit Einverständnis der Beteiligten konnte das Gericht gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung über das vorliegende Verfahren entscheiden.
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist ein Anspruch der Klägerin gegenüber dem Beklagten auf Erstattung von Jugendhilfeleistungen in Höhe von 107.692,26 EUR, die die Klägerin für die Zeit vom 3. September 2011 bis zum 17. Januar 2012 und vom 3. Februar 2012 bis zum 8. September 2014 zugunsten von C.R.-E. und H.E. für die Hilfe zur Erziehung (Heimunterbringung) von deren Sohn M.E. erbracht hat.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch nicht (mehr) zu.
Für die Gewährung von Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch – und um eine solche handelt es sich bei der Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung gemäß § 27, § 34 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (Art. 1 des Gesetzes vom 26.6.1990, BGBl. I S. 1163), zuletzt geändert durch Art. 10 Abs. 10 Gesetz vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618), – SGB VIII – – ist nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Haben – wie im vorliegenden Fall – die Eltern verschiedene gewöhnliche Aufenthalte und steht die Personensorge den Eltern gemeinsam zu, so richtet sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII). Dies bedeutet, dass sich die Zuständigkeit für die Hilfe zur Erziehung nach dem gewöhnlichen Aufenthalt von C.R.-E. richtete, da M.E. vor der Inobhutnahme und der Heimerziehung dort zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Da C.R.-E. ihren gewöhnlichen Aufenthalt sowohl im Zeitpunkt der Inobhutnahme von M.E. als auch zu Beginn der Unterbringung nach § 27, § 34 SGB VIII im Bereich der Klägerin hatte, war unstreitig die Klägerin für die Gewährung dieser Leistungen zuständig.
Allerdings hat diese Zuständigkeit mit dem Umzug von C.R.-E. in den Bereich der Beklagten zu diesem gewechselt. Dies betrifft die Zeiträume vom 3. September 2011 bis zum 17. Januar 2012 (Wohnort von C.R.-E. in U. im Landkreis Würzburg) und vom 3. Februar 2012 bis zu Hilfeende am 8. September 2014 (Wohnort von C.R.-E. in G. im Landkreis Würzburg).
Dennoch blieb die Klägerin auf der Grundlage von § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zur Erbringung der Jugendhilfe-Leistung verpflichtet. Denn wechselt die örtliche Zuständigkeit für eine Leistung, so bleibt nach dieser Vorschrift der bisher zuständige örtliche Träger so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt.
Allerdings sind Kosten, die ein örtlicher Träger – im vorliegenden Fall die Klägerin – im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist; dies ist im vorliegenden Fall der Beklagte und dies wird von diesem auch nicht in Frage gestellt.
Allerdings beruft sich der Beklagte gegenüber der Klägerin zu Recht auf die Vorschrift des § 111 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (neugefasst durch Bekanntmachung vom 18.1.2001, BGBl. I, 130), zuletzt geändert durch Art. 6 Gesetz vom 11. November 2016 (BGBl. I, 2500), – SGB X -. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht.
Als (einheitliche) Leistung in diesem Sinn ist der gesamte Zeitraum der Hilfe zur Erziehung zu bewerten, der nicht in einzelne zeitliche Teil-Abschnitte „zerlegt“ werden darf (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 19.8.2010 – 5 C 14.09 – BverwGE 137, 368 Rn. 18; U.v. 17.12.2015 – 5 C 9/15 – juris Rn. 14 ff.).
Im vorliegenden Fall beginnt damit die Jahresfrist des § 111 Satz 1 SGB X für die Geltendmachung des Erstattungsanspruches hinsichtlich der den Zeitraum von 14. April 2011 bis zum 8. September 2014 umfassenden einheitlichen Leistung mit Ablauf des 8. September 2014, also mit Ablauf desjenigen Tages, an welchem die Hilfe zur Erziehung tatsächlich beendet worden ist und M.E. aus dem W.-Heim zu seinem Vater gezogen ist. Demgegenüber kann das Gericht nicht der Meinung der Klägerin folgen, es sei auf die Auszahlung der letzten Abschlussrechnung an das W.-Heim am 28. Oktober 2014 abzustellen. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Vorschrift, nach welchem es auf den letzten Tag ankommt, „für den“ die Leistung erbracht worden ist, nicht aber auf den Tag, „an dem“ die Leistung erbracht wurde (vgl. BSG, U.v. 28.2.2008 – B 1 KR 13/07 R – juris Rn. 12; Roller in von Wulffen/Schütze, SGB X, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 111 Rn. 6; Böttiger in Diering/Timme, LPK SGB X, 4. Aufl. 2016, § 111 Rn. 27 jeweils m.w.N.).
Das Fristende fällt damit auf den Ablauf des 8. September 2015.
Bis zum Ablauf dieser Frist hat die Klägerin ihren unstreitig bestehenden Erstattungsanspruch allerdings nicht im Sinn des § 111 Satz 1 SGB X „geltend gemacht“.
Unter diesem Begriff ist die Anzeige des Erstattungsanspruches im Sinne eines Vorbringens bzw. Behauptens zu verstehen. Die Absicht, rechtssichernd tätig zu werden, muss dabei unmissverständlich deutlich werden. Zwar braucht der zugrundeliegende Sachverhalt, der den Erstattungsanspruch begründen soll, noch nicht in allen Einzelheiten geschildert zu werden; die Kostenerstattungsforderung muss aber endgültig und unmissverständlich erhoben werden. Der Sinn und Zweck der Ausschlussfrist liegt nämlich darin, möglichst zügig geklärte Verhältnisse darüber zu schaffen, ob ein Kostenerstattungsanspruch besteht oder nicht. Hierfür ist es erforderlich, dass der in Anspruch genommene Leistungsträger bereits beim Zugang der Anmeldung des Erstattungsanspruches ohne weitere Nachforschungen beurteilen kann, ob die erhobene Forderung gerechtfertigt ist. Hintergrund ist der Beschleunigungsgrundsatz für die Verwaltung. Diesem Erfordernis ist dann genüge getan, wenn die für die Entstehung des Erstattungsanspruches maßgeblichen Umstände sowie der Zeitraum, für den die Hilfeleistungen erbracht worden sind, hinreichend konkret mitgeteilt werden (BSG, U.v. 25.4.1989 – 4/11a RK 4/87 – BSGE 65, 31, 37; U.v. 30.6.2009 – B 1 KR 21/08 R – juris Rn. 15). Ein Erstattungsanspruch ist dann nicht wirksam geltend gemacht, wenn der erstattungsbegehrende Träger den erstattungspflichtigen Träger über die Leistungsvoraussetzungen im Unklaren lässt. Das bloße vorsorgliche Anmelden eines Erstattungsanspruches genügt ebenfalls nicht (Böttiger in Diering/Timme, LPK, SGB X, 4. Aufl. 2016, § 111 Rn. 4 und 5 m.w.N.). Die Geltendmachung ist eine empfangsbedürftige, nicht formbedürftige Willenserklärung (Roller in von Wulffen/Schütze SGB X, 8. Aufl. 2014, § 111 Rn. 14 m.w.N.).
Unter Beachtung dieser Voraussetzungen hat die Klägerin ihren Erstattungsanspruch bis zum 8. September 2015 nicht hinreichend in diesem Sinne geltend gemacht.
Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass ein Schreiben der Klägerin vom 28. August 2014, welches sich lediglich als Abdruck in den Behördenakten der Klägerin befindet, dem Beklagten nicht zugegangen ist. Dies hat der Beklagte in seinem Schreiben vom 3. September 2015 behauptet und die Klägerin konnte keinerlei Nachweis über den Zugang des Schreibens vom 28. August 2014 beim Beklagten vorlegen; auch auf dem in der Behördenakte befindlichen Abdruck ist kein Hinweis darauf vorhanden, ob und wenn ja, wann ein gegebenenfalls vorhandenes Original zur Post gegeben worden wäre.
Das Schreiben der Klägerin vom 26. Juni 2015, welches am 8. Juli 2015 und damit noch innerhalb der am 8. September 2015 endenden Jahresfrist dem Beklagten zugegangen ist, beinhaltet entgegen der Meinung der Klägerin keine Geltendmachung ihres Erstattungsanspruches im Sinn des § 111 Satz 1 SGB X. Es enthält u.a. den Namen M.E. samt dessen Geburtsdatum sowie die Angabe, dass es um „Jugendhilfe“ für diese Person geht. Es enthält weiterhin die Information, dass die Klägerin mit Schreiben vom 28. August 2014 u.a. für diesen Jugendhilfefall beim Beklagten Fallübernahme und Kostenerstattung beantragt hat. Weitere inhaltliche Informationen zu diesem Jugendhilfefall finden sich in diesem Schreiben nicht. Damit enthält es nicht die oben dargestellten Mindestinformationen, die im Rahmen des „Geltendmachens“ des Anspruches nach § 111 Satz 1 SGB X erforderlich sind. Es ist nicht erkennbar, um welche Art von Jugendhilfe es sich handelt und welchen Zeitraum der behauptete Anspruch umfasst. Zudem enthält es keinerlei Angaben zu den tatsächlichen Verhältnissen, die eine Kostenerstattungsforderung begründen können. Damit ist der Beklagte beim Zugang dieses Schreibens nicht in die Lage versetzt worden, ohne weitere Nachforschungen nachprüfen zu können, ob die erhobene Forderung gerechtfertigt oder ausgeschlossen ist.
Erst das Schreiben der Klägerin vom 13. Oktober 2015, welchem als Anlage eine Kopie des Schreibens vom 28. August 2014 beigefügt war, genügte den Anforderungen an eine Geltendmachung im Sinn des § 111 Satz 1 SGB X. Allerdings war zum Zeitpunkt des Zugangs dieses Schreibens beim Beklagten am 16. Oktober 2015 die Jahresfrist des § 111 Satz 1 SGB X schon abgelaufen und damit der Erstattungsanspruch erloschen; denn es handelt sich bei dieser Frist um eine materielle Ausschlussfrist, deren Versäumung den Erstattungsanspruch kraft Gesetzes untergehen lässt (Böttiger in Diering/Timme, SGB X, LPK, 4. Aufl. 2016, § 111 Rn. 13; Roller in von Wulffen/ Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 111 Rn. 16 m.w.N.).
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist deshalb von vorneherein ausgeschlossen.
Der Versäumung der Ausschlussfrist kann die Klägerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, auf der Grundlage von Treu und Glauben trage der Beklagte zumindest eine Mitschuld an der Versäumung der Ausschlussfrist, weil er auf das Schreiben vom 26. Juni 2015 vorsätzlich erst mit Schreiben vom 3. September 2015, zur Post gegeben am 4. September 2015 und bei der Klägerin zugegangen am 9. September 2015, so spät reagiert hat, dass eine entsprechende Reaktion der Klägerin vor Ablauf der Ausschlussfrist am 8. September 2015 nicht mehr möglich gewesen sei. Mit dieser Argumentation hält die Klägerin der Sache nach die Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X für unbeachtlich. Dem kann das Gericht jedoch nicht folgen. Denn der Erstattungsberechtigte kann sich grundsätzlich nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB berufen. Lediglich wenn die Versäumung der Ausschlussfrist auf ein grob rechtswidriges Verhalten des Erstattungspflichtigen zurückzuführen ist, hat das Bundessozialgericht (U.v. 10.5.2007 – B 10 KR 1/05-R – BSGE 98, 238 Rn. 20) eine Ausnahme von diesem Grundsatz vorgesehen (Böttiger, a.a.O., § 111 Rn. 17; Roller, a.a.O., § 111 Rn. 13). Anhaltspunkte dafür, dass in der Beantwortung des Schreibens der Klägerin vom 26. Juni 2015 erst am 3. September 2015 ein grob rechtswidriges Verhalten in diesem Sinne gegeben wäre, sind für das Gericht nicht erkennbar. Es muss vielmehr dem Beklagten eine gewisse Bearbeitungszeit zugestanden werden, zumal dem Schreiben vom 26. Juni 2015 keine Kopie des Schreibens vom 28. August 2014 beigefügt war und der Beklagte zunächst hausintern nachforschen musste, ob ein solches Schreiben bei ihm eingegangen war.
Weiterhin kann sich die Klägerin nicht auf das Argument stützen, der Beklagte habe auf die Einrede der Verjährung verzichtet, sodass hierin auch ein Verzicht auf die Geltendmachung der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X liege. Denn zum einen handelt es sich bei Verjährungsfristen und materiellen Ausschlussfristen um unterschiedliche Rechtsinstitute, sodass eine Rechtshandlung hinsichtlich des einen nicht auf das andere übertragen werden kann. Denn diese beiden Normen verfolgen unterschiedliche Zielrichtungen. § 111 Satz 1 SGB X dient der Beschleunigung des Verfahrens und damit der behördlichen Entlastung und Planung, wohingegen die Verjährung dem Rechtsfrieden dient. Zum anderen ist ein Verzicht auf eine materielle Ausschlussfrist schon aufgrund von deren Rechtsnatur rechtlich nicht möglich (Roller, a.a.O., § 111 Rn. 16 m.w.N.).
Aus alledem ergibt sich, dass der zwischen den Parteien unstreitig entstandene Erstattungsanspruch vor dessen Geltendmachung beim Beklagten nach § 111 Satz 1 SGB X erloschen ist. Damit steht der Klägerin gegenüber dem Beklagten kein Erstattungsanspruch hinsichtlich der Hilfe zur Erziehung zu Gunsten von C.R.-E. und H.E. für deren Sohn M.E. mehr zu. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gemäß § 188 Satz 2 2. Halbs. VwGO ist das vorliegende Verfahren als Erstattungsstreitigkeit nicht gerichtskostenfrei.

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