Europarecht

Inhaftierung zur Überstellung – Haftdauer

Aktenzeichen  1 XIV 46/17

Datum:
17.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Rosenheim
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 57 Abs. 1, § 72 Abs. 4 S. 1
FamFG FamFG § 14 Abs. 1, § 15 Abs. 5, § 420 Abs. 1 S. 1
RL 2013/33/EU Art. 9, Art. 10, Art. 11
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 28 Abs. 2 lit. n
AsylVfG AsylVfG § 34a

 

Leitsatz

1 Bei der Haftdauer ist davon auszugehen, dass eine Woche benötigt wird für die Bearbeitung bei der Bundespolizei und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zwischen Aufgriff und Eingang des Wiederaufnahmegesuchs. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei der Haftdauer ist davon auszugehen, dass zwei Wochen benötigt werden für die Antwortfrist von Ungarn aufgrund eines EURODAC–Treffers. Sollten die ungarischen Behörden innerhalb dieser Frist nicht antworten, liegt die Zustimmung gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III–VO vor. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3 Bei der Haftdauer ist davon auszugehen, dass drei Wochen benötigt werden für die Erstellung und Übersendung des Bescheids durch das Bundesamt an den Betroffenen, die Rechtsmittelfrist gemäß § 34a AsylVfG, die Übersendung der Überstellungsdaten durch die ungarischen Behörden an Deutschland und die Organisation der tatsächlichen Überstellung. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Gegen den Betroffenen wird Haft zur Sicherung der Zurückweisung angeordnet.
II. Die Haft beginnt mit der Festnahme am 16.03.2017
und endet spätestens nach Ablauf von 6 Wochen, spätestens am 25.04.2017.
III. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

Gründe

I.
Der Betroffene ist afghanischer Staatsangehöriger.
Er reiste am 16.03.2017 gegen 08.10 Uhr mit dem Einreisezug EC 288 von Österreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Gemeindegebiet von Kiefersfelden wurde er polizeilich kontrolliert.
Der Betroffene ist nicht im Besitz eines für die Einreise erforderlichen gültigen Reisepasses oder Passersatzes und besitzt nicht die erforderliche Aufenthaltsgenehmigung. Er führte lediglich eine ungarische Asylkarte mit sich.
Der Beschuldigte verließ Afghanistan Anfang 2016. Über Griechenland, Mazedonien und Serbien reiste er weiter nach Ungarn, wo ihm Fingerabdrücke abgenommen wurden. Sodann reiste er weiter nach Österreich, wo er sich etwa sechs Monate lang aufhielt. Vor 3–4 Monaten wurde er von Österreich aus nach Ungarn abgeschoben. Von den ungarischen Behörden wurde ihm eröffnet, dass er nach Afghanistan abgeschoben werden soll, woraufhin er sich auf den Weg nach Deutschland machte.
Die im Rahmen des § 71 Absatz 3 Nr. 1 AufenthG als Ausländerbehörde zuständige Bundespolizei hat am 17.03.2017 beantragt, gegen den Betroffenen Zurückweisungshaft bis zur vollzogenen Rückschiebung, längstens für die Dauer von 6 Wochen anzuordnen.
Der Betroffene soll gemäß § 57 Abs. 1 AufenthG nach Ungarn, dem gemäß Dublin-III-VO zuständigen Mitgliedstaat, zurückgewiesen werden.
II.
Die Inhaftnahme des Betroffenen zwecks Sicherstellung des Überstellungsverfahrens gemäß Art. 28 Abs. 2, 2 lit. n) Dublin-III-VO, § 2 Abs. 15 AufenthG war antragsgemäß anzuordnen.
1. Formelle Voraussetzungen
1.1 Antrag
Ein zulässiger und ausreichend begründeter Haftantrag der zuständigen Ausländerbehörde liegt vor. Der vorliegende Haftantrag genügt auch den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. bspw. BGH vom 15.9.2011, Az. V ZB 123/11, BGH vom 10.5.2012, Az. V ZB 246/11). Insbesondere hat die beteiligte Ausländerbehörde schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum die Sicherungshaft in der beantragten Länge erforderlich ist.
1.2. Einvernehmen der Staatsanwaltschaft
Das gemäß § 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft wurde nicht eingeholt, ist jedoch auch nicht erforderlich.
1.3. Anhörung
Im Rahmen der heutigen Vorführung wurde dem Betroffenen gemäß § 2 Abs. 15 S. 3 AufenthG i.V.m. § 420 Abs. 1 S. 1 FamFG in der gebotenen Weise vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt.
Der Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde ist dem Betroffenen übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben worden. Ein Abdruck des Antrags ist dem Betroffenen überlassen worden. Der Betroffene war in der Lage, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde zu äußern. Es handelt sich vorliegend um einen überschaubaren Sachverhalt, den der Betroffene vor der Anhörung ausreichend erfassen konnte. Auch aufgrund der vorangegangenen polizeilichen Vernehmung hatte er bereits Kenntnis von den tatsächlichen Umständen, die die Ausländerbehörde dem Antrag zugrunde gelegt hat.
Im Übrigen wird auf das Protokoll Bezug genommen. Insbesondere teilte der Betroffene im Rahmen der Anhörung mit, dass er nicht nach Ungarn zurückkehren wolle, weil er von dort aus nach Afghanistan abgeschoben werde. Nach Afghanistan gehe er auch nicht freiwillig zurück, weil dort sein Leben in Gefahr sei. Er wolle hier in Deutschland bleiben, um Asyl zu beantragen.
2. Materielle Voraussetzungen
Mit dem unter I. festgestellten Sachverhalt ist der Anwendungsbereich von Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO eröffnet. Der Betroffene hat einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 lit. b) Dublin-III-VO gestellt, über den noch nicht abschließend entschieden wurde.
Gemäß den Bestimmungen der Dublin-III-VO ist die Bundesrepublik Deutschland nicht für die Entscheidung über diesen Antrag zuständig. Der Betroffene ist daher grundsätzlich nach Ungarn zu überstellen.
Auch nach nationalem Recht besteht keine Aufenthaltserlaubnis für den Betroffenen. Seine Einreise in das Bundesgebiet war unerlaubt gemäß § 14 Abs. 1 AufenthG vor. Der Betroffene ist damit auch vollziehbar ausreisepflichtig, § 50 AufenthG.
Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 5 AufenthG liegen vor:
Es ist eine Zurückweisungsentscheidung ergangen und diese kann nicht unmittelbar vollzogen werden. Es besteht der konkrete Verdacht, dass sich der Betroffene der Zurückweisung entziehen wird. Der Verdacht gründet sich im Einzelnen auf:
Haftgrund des § 2 Abs. 14 Nr. 1 AufenthG:
Der Betroffene hat sich bereits dem Asylverfahren in Ungarn entzogen. Als er erfahren hat, dass er nach Afghanistan abgeschoben werden soll, ist er nach Deutschland ausgereist. Er hätte jedoch nicht eigenmächtig das Land verlassen dürfen, ohne den ungarischen Behörden seinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Er hat sich somit eventuellen aufenthaltsbeendenen Maßnahmen der ungarischen Behörden entzogen.
Haftgrund des § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG:
Der Betroffene führte weder einen Reisepass, noch einen Aufenthaltstitel mit sich. Zwar gibt er an, diese Dokumente noch nie besessen zu haben. Er hat sich jedoch auch bislang nicht um eine Passbeschaffung bemüht. Seine Identität wird hierdurch verschleiert.
Haftgrund des § 2 Abs. 14 Nr. 3 AufenthG:
Der Betroffene hat es in der Vergangenheit unterlassen, seiner gesetzlichen Mitwirkungspflicht zur Feststellung seiner Identität nachzukommen. Während seines Aufenthalts in Europa wäre es für ihn möglich gewesen, sich um die Ausstellung von Ausweispapieren zu kümmern. Er gab jedoch im Rahmen der polizeilichen Vernehmung an, bei der Passbeschaffung nicht mitzuwirken.
Haftgrund des § 2 Abs. 14 Nr. 4 AufenthG:
Der Betroffene gab an, für seine Schleusung 6.000 Euro bezahlt zu haben. Er hat somit für seine unerlaubte Einreise einen erheblichen Geldbetrag aufgewendet.
Haftgrund des § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG:
Schließlich hat der Betroffene auch ausdrücklich erklärt, dass er sich aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entziehen werde. Er gab an, sich nicht für eine Rückführungsmaßnahme bereit zu halten und nicht nach Ungarn bzw. Afghanistan zurückkehren zu wollen.
Haftgrund des § 2 Abs. 15 AufenthG:
Wie bereits geschildert, hielt sich der Betroffene nach Information über die drohende Abschiebung nach Afghanistan für die ungarischen Behörden nicht zur Verfügung. Vielmehr begab er sich eigenmächtig nach Deutschland, um auch hier Asyl zu beantragen.
Dies lässt darauf schließen, dass der Betroffene gerade nicht mit den deutschen Behörden zusammenarbeiten will, sondern vorhat, sich deren Zugriff zu entziehen (vgl. LG Traunstein, Beschluss vom 21.8.2012, Az. 4 T 3103/12, zur alten Fassung des § 62 AufenthG: BGH vom 22.7.2010, Az. V ZB 29/10, OLG München, Beschluss vom 09.4.2009, Az. 34 Bx 28/09).
Angesichts dieser erheblichen Fluchtgefahr erweist sich die Inhaftierung als verhältnismäßig im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO. Ein milderes Mittel als die Inhaftierung des Betroffenen kommt vorliegend nicht mehr in Betracht.
Die Haft war wie von der Verwaltungsbehörde beantragt für 6 Wochen anzuordnen.
Die Verwaltungsbehörde hat den zeitlichen Bedarf nachvollziehbar wie folgt begründet, so dass davon auszugehen ist, dass die Haft so kurz wie möglich sein wird, Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Dublin-III-VO:
Eine Woche wird benötigt für die Bearbeitung bei der Bundespolizei und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zwischen Aufgriff und Eingang des Wiederaufnahmegesuchs von Ungarn
Zwei Wochen werden für die Antwortfrist von Ungarn aufgrund des vorliegenden EURODAC – Treffers vorgesehen. Sollten die ungarischen Behörden innerhalb dieser Frist nicht antworten, liegt die Zustimmung gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III – VO vor.
Drei Wochen sind für die Bescheiderstellung und – Übersendung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an den Betroffenen, die Rechtsmittelfrist gemäß § 34 a AsylVfG, die dem Betroffenen eingeräumt wird, die Übersendung der Überstellungsdaten durch die ungarischen Behörden an Deutschland und die Organisation der tatsächlichen Überstellung (Flugbuchung etc.) durch die Bundespolizei eingeplant.
Mit dem tatsächlichen Vollzug der Überstellung in der von der Verwaltungsbehörde erwarteten Zeit ist zu rechnen.
Die Höchstdauer der Inhaftierung von sechs Wochen nach Annahme des Gesuchs auf (Wieder-)Aufnahme des Betroffenen durch den zuständigen Mitgliedstaat gemäß Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 Dublin-III-VO wird dabei eingehalten.
Die Haft wird gemäß den Bestimmungen von Art. 28 Abs. 4 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 9, 10 und 11 der Richtlinie 2013/33/EU in der Haftanstalt Mühldorf am Inn vollzogen werden.
III.
Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung beruht auf § 2 Abs. 15 S. 3 AufenthG i.V.m. § 422 Abs. 2 FamFG und ist erforderlich, da andernfalls der Zweck der Maßnahme nicht erreicht werden könnte.

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