Aktenzeichen M 18 K 16.3684
Art. 7 Abs. 1 lit. a) und Abs. 4 der VO (EG) 1169/2011
NemV NemV § 1
Leitsatz
Bei Nahrungsergänzungsmitteln ist anders als bei Nährstoffen (Vitamine und Mineralstoffe mit Spurenelementen) bei sonstigen Stoffen das Vorliegen einer signifikanten Tagesdosis-Menge nicht erforderlich. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Beklagten vom 13. Juli 2016 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingereichte Klage ist begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 13. Juli 2016 ist rechtswidrig und daher aufzuheben.
Rechtsgrundlage des Bescheides war Art. 54 Abs. 1 und Abs. 2 Buchstabe b) der Verordnung (EG) 882/2004. Danach kann die Behörde, wenn sie einen Verstoß gegen Lebensmittelrecht feststellt, die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass der Unternehmer Abhilfe schafft. Eine mögliche Maßnahme nach Art. 54 Abs. 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) 882/2004 ist u.a. die Untersagung des Inverkehrbringens von Lebensmitteln und nach Buchstabe c) die Überwachung und Anordnung der Rücknahme des Lebensmittels.
Ein Verstoß gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften durch die Klägerin liegt jedoch nicht vor.
Der Beklagtenvertreter sah einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 a LMIV i.V.m. § 1 Abs. 1 NemV. Nach Art. 7 Abs. 1 a LMIV dürfen Informationen über Lebensmittel nicht irreführend sein, insbesondere in Bezug auf die Eigenschaften des Lebensmittels, insbesondere in Bezug auf Art, Identität, Eigenschaft, Zusammensetzung, Menge (…). Der Beklagtenvertreter sieht im Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Produkts eine solche Irreführung des Verbrauchers über Eigenschaften des Produktes, da diese nicht als Nahrungsergänzungsmittel nach § 1 Abs. 1 NemV in Verkehr gebracht werden dürften.
Das streitgegenständliche Produkt stellt jedoch ein Nahrungsergänzungsmittel nach § 1 Abs. 1 NemV dar.
§ 1 Abs. 1 NemV lautet wie folgt: Nahrungsergänzungsmittel im Sinne dieser Verordnung ist ein Lebensmittel, das Nr. 1 dazu bestimmt ist, die allgemeine Ernährung zu ergänzen, Nr. 2 ein Konzentrat von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung alleine oder in Zusammensetzung darstellt und Nr. 3 in dosierter Form, (…) in abgemessenen kleinen Mengen in den Verkehr gebracht wird. Nach § 1 Abs. 2 sind Nährstoffe im Sinne dieser Verordnung Vitamine und Mineralstoffe, einschließlich Spurenelemente.
Das streitgegenständliche Produkt erfüllt alle Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 NemV. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 und 3 NemV sind unstreitig. Entgegen der Ansicht des Beklagtenvertreters sind jedoch auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 NemV gegeben.
Das streitgegenständliche Produkt ist nach der Angabe der Klägerin auf der Verpackung dazu bestimmt, die allgemeine Ernährung zu ergänzen. Eine qualitative Ergänzungsfunktion des streitgegenständlichen Produktes stellt der Beklagtenvertreter nicht in Abrede. In seinen Schriftsätzen erklärte dieser ausdrücklich, dass man von einer ernährungsphysiologischen Wirkung der Cholin und Linolsäure ausgehe, die im streitgegenständlichen Produkt enthalten seien. Ob auf den Komplexwirkstoff Sojalecithin, auf das im Gutachten von Dr. … näher beleuchtete Phophatidylcholin oder auf den vom Beklagten angeführten Wirkstoff Cholin und Linolsäure abstellen muss, kann jedoch dahinstehen. Entgegen der vom Beklagten zitierten Kommentarliteratur sieht das Gericht keine Anwendungsmöglichkeit der sogenannten 15%-Regel. Somit kommt es selbst bei Annahme, dass lediglich Cholin und Linolsäure mit ca.7% der empfohlenen Tagesdosis zugeführt werden, nicht auf die Bestimmung des maßgeblichen ernährungsphysiologisch tätig werdenden Wirkstoffes an.
Die Annahme des Beklagtenvertreters, dass der ernährungsphysiologische Wirkstoff in signifikanter Menge im streitgegenständlichen Produkt enthalten sein muss, beruht auf einer entsprechenden Anwendung der Erwägungen, im Erwägungsgrund 15 der Nem-RL. Erwägungsgrund 15 der Nem-RL lautet wie folgt: Nahrungsergänzungsmittel werden von den Verbrauchern zur Ergänzung der Zufuhr aus der Ernährung gekauft. Damit dieser Zweck tatsächlich erfüllt wird, sollten Vitamine und Mineralstoffe (…) in signifikanter Menge im Erzeugnis enthalten sein. Die Heranziehung des Erwägungsgrundes 15 der Nem-RL für die Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 NemV ist vorliegend nicht sachgerecht. Sowohl Art. 2 Buchstabe a) der Nem-RL als auch § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 NemV unterscheidet zwischen sogenannten Nährstoffen (Vitamine und Mineralstoffe mit Spurenelementen) und sogenannten sonstigen Stoffen. In den Erwägungsgründen 7 und 7 der Nem-RL wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Nem-RL zunächst spezifische Vorschriften für Vitamine und Mineralstoffe festlegt. Spezifische Vorschriften über andere Nährstoffe oder über andere Stoffe sollten zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt werden, sofern ausreichende und sachgerechte wissenschaftliche Daten über diese Stoffe vorliegen. Bis zum Erlass derartiger spezieller Gemeinschaftsvorschriften können die nationalen Bestimmungen über Nährstoffe oder andere Stoffe mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung (…) angewandt werden. Eine entsprechende Anwendung eines Artikels oder eines Erwägungsgrundes in der Nem-RL, die sich auf Vitamine und Mineralstoffe bezieht, ist mithin auf sonstige Stoffe nicht möglich. Als spezifische Vorschrift ist Art. 5 Abs. 3 Nem-RL anzusehen. Laut dieser sind ggf. Mindestmengen, bezogen auf die vom Hersteller empfohlene Tagesdosis, festzusetzen, um zu gewährleisten, dass Nahrungsergänzungsmittel Vitamine und Mineralstoffe in ausreichenden Mengen enthalten. Angesichts des Erwägungsgrundes 7 und 8 ist eine Mindestmenge bzw. ein signifikanter Beitrag des ernährungsphysiologischen Wirkstoffes zur empfohlenen Tagesdosis bei sonstigen Stoffen nicht in der Nem-RL und der darauf beruhenden NemV zu entnehmen.
Laut der vom Beklagtenvertreter zitierten Kommentarstellen beruht die 15%-Regel auf Anlage 1 der NKV. Auch diese Vorschrift kann nicht entsprechend zu einer Auslegung der Nahrungsergänzungsmitteleigenschaft nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 NemV herangezogen werden. Die laut Kommentarliteratur und Beklagtenvertreter entsprechend anwendbare Passage in Anlage 1 der NKV lautet wie folgt: In der Regel sollte eine Menge von 15% der in dieser Anlage angegebenen empfohlenen Tagesdosis in 100 g oder 100 ml oder in einer Packung, sofern die Packung nur eine einzige Portion enthält, bei der Festsetzung der signifikanten Menge berücksichtigt werden. Anlage 1 legt hierbei Vitamine und Mineralstoffe in Listenform vor, die in der Nahrungsmittelkennzeichnungsangabe enthalten sein können und ihre empfohlene Tagesdosis.
Bereits aus § 1 Abs. 3 der NKV gelten die Vorschriften dieser Verordnung mit Ausnahme des § 6, der hier nicht einschlägig ist, nicht für Nahrungsergänzungen. Nach Erwägungsgrund 18 der Nem-RL gilt die Richtlinie 90/496/EWG über die Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln nicht für Nahrungsergänzungsmittel. Mit Erlass der LMIV am 25. Oktober 2011 wurde die Richtlinie 90/496/EWG aufgehoben. Diese ist jedoch die Rechtsgrundlage für die NKV. Weiter ergibt sich eine Unmöglichkeit der entsprechenden Anwendung der 15%-Grenze aus Anlage 1 der NKV auf die Auslegung der Tatbestandsmerkmale für das Vorliegen eines Nahrungsergänzungsmittels aus der unterschiedlichen Zielsetzung der benannten Vorschriften. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Anlage 1 der NKV um eine Positivliste von Vitaminen und Mineralstoffen handelt, bei denen eine empfohlene Tagesdosis gesetzlich aufgrund von wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen festgelegt worden ist. Eine auch nur entsprechende Anwendbarkeit auf sonstige Stoffe im Sinne der NemV bzw. Nem-RL ist schon vom Wortlaut nicht möglich. Es handelt sich nach der Gesetzessystematik vorliegend um Eingriffsverwaltung. Jedenfalls ist es bei fehlender gesetzlicher Festlegung von Mindestdosen für sonstige Stoffe aufgrund einer fehlenden wissenschaftlichen Basis nicht möglich, der Klägerin das Inverkehrbringen solcher Produkte deswegen zu verweigern, weil diese die wissenschaftlichen Nachweise für eine empfohlene Tagesdosis an Sojalecithin, Phosphatidylcholin oder Cholin bzw. Linolsäure schuldig bleibt. Es steht der Klägerin aus ihren Grundrechten zu, Produkte als Nahrungsergänzungsmittel zu veräußern. Vorliegend ist kein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt in der NemV vorgesehen. Dies ergibt sich aus § 5 NemV, mit dem geregelt ist, dass keine Genehmigung mit strengen Genehmigungsverfahren (wie im Arzneimittelrecht) durchzuführen ist, sondern lediglich eine Anzeige des Inverkehrbringens eines Nahrungsergänzungsmittels bei der zuständigen Behörde vorgenommen werden muss. Ein Verbot des Inverkehrbringens kann daher nur bei Verstoß gegen eine lebensmittelrechtliche Vorschrift vorgenommen werden. Hierfür braucht es jedoch eindeutiger Rechtsgrundlagen. Eine überdehnte Auslegung des § 1 Nr. 1 NemV durch das entsprechende Einbeziehen von bestimmten Erwägungsgründen der Nem-RL bzw. der NKV, ist nicht möglich. Solange der Gesetzgeber mangels ausreichender wissenschaftlich fundierter Kenntnisse über empfohlene Tagesdosen und ernährungsphysiologischer Wirkungen bestimmter Wirkstoffkomplexe im menschlichen Körper …, kann der Verkauf von Nahrungsergänzungsmitteln mit dem Argument, dass zu wenig Wirkstoffe enthalten seien, nicht verboten werden. Lediglich in qualitativer Hinsicht (Unschädlichkeit der sonstigen Stoffe, Bioverfügbarkeit der Stoffe) sowie in quantitativer Hinsicht bei offensichtlichen Missbrauchsfällen (völlige Ungeeignetheit der Nahrungsergänzung) ist ein Ausschluss des Tatbestandsmerkmals des § 1 Abs. 1 Nr. 1 NemV mangels Ergänzungsfunktion des Produkts möglich.
Dies bedeutet, dass soweit gesichert ist, dass die beigefügten Wirkstoffe von Nahrungsergänzungsmitteln unschädlich sind und eine ernährungsphysiologische Wirkung entfalten, auch bei Fehlen einer ausreichend gesicherten Ursache-Wirkungs-Beziehung durch die Wissenschaft und vor allem einer wissenschaftlich ausreichend gesicherten Tagesdosisempfehlung der Verbraucher grundsätzlich selbst dafür verantwortlich ist, zu prüfen, ob er den Wirkstoff als Nahrungsergänzungsmittel nötig hat und wie viel des Wirkstoffes im konkreten Nahrungsergänzungsmittel verfügbar ist.
Dass lediglich Cholin und Linolsäure für Health-Claims von der IFSA zugelassen wurden, ist somit unerheblich (Vermerk BE: oben einfügen).
Der vom Beklagtenvertreter und dem … … angeführte Erst-recht-Schluss aus Art. 5, der für einen Nährstoff oder für eine andere Substanz für die eine Angabe nach HCV gemacht wird, eine signifikante Menge im Endprodukt vorschreibt, die nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Nachweisen geeignet ist, die behauptete ernährungsbezogene Wirkung oder physiologische Wirkung zu erzielen, geht fehl. Zweck der HCV ist es, Werbeaussagen zu bestimmten Inhaltsstoffen von Lebensmitteln allgemeiner Art nur mit gesundheitlichen Vorteilen verquicken zu dürfen, wenn diese Vorteile auch wirklich wissenschaftlich fundiert belegt seien. Bei Annahme dieses Erst-recht-Schlusses dürfte eine Vielzahl von sonstigen Stoffen, die ernährungsphysiologische Wirkung zwar besitzen, für die jedoch noch nicht wissenschaftlich fundiert dargelegt ist, aus welchem Grund, aus welchem Wirkstoffbestandteil und für welche Personengruppe in welcher Tagesdosis der sonstige Stoff nicht als Nahrungsergänzungsmittel verkauft werden. Dies geht – auch angesichts des Erwägungsgrund 8 der Nem-RL – weit über eine gesetzlich geregelte Eingriffsnorm hinaus. Ein aktives Bewerben der gesundheitlichen Wirkung von Sojalecithin findet im streitgegenständlichen Produkt nicht statt, so dass mangels Anwendbarkeit der HCV lediglich auf § 1 NemV abgestellt werden kann. Eine getrennte Betrachtung beider Verordnungen ist vonnöten.
Die sehr verengende Auslegung des Beklagtenvertreters des § 1 Abs. 1 NemV wird daher vom Gericht nicht geteilt. Das streitgegenständliche Produkt stellt ein Nahrungsergänzungsmittel dar, so dass keine Verbrauchertäuschung im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a) der LMIV vorliegt. Mangels Verstoßes gegen eine lebensmittelrechtliche Vorschrift ist daher der Bescheid aufzuheben.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.