Aktenzeichen 3 Ss OWi 1050/16
GVG § 121 Abs. 2 Nr. 1
OWiG § 79 Abs.3. S. 1, § 80 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 3
Leitsatz
1. Durch die bloße Nichtüberlassung der nicht zu den Akten gelangten sog. Rohmessdaten einer standardisierten Messung i. S. d. Rspr. des BGH (BGHSt 39, 291; 43, 277) wird der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör von vornherein nicht beeinträchtigt (u. a. Anschluss an BVerfG, Beschl. v. 12.01.1983 – 2 BvR 864/81 = BVerfGE 63, 45 = NJW 1983, 1043 = StV 1983, 177 = NStZ 1983, 273 = MDR 1983, 548); BGH, Urt. v. 26.05.1981 – 1 StR 48/81 = BGHSt 30, 131 = NJW 1981, 2267 = NStZ 1981, 361 = StV 1981, 500 = MDR 1981, 860; Aufrechterhaltung von OLG Bamberg, Beschl. v. 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15 = DAR 2016, 337= StRR 2016, 16; entgegen OLG Celle, Beschl. v. 16.06.2016 – 1 Ss OWi 96/16 [bei juris]). (amtlicher Leitsatz)
2. Eine Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG ist nicht veranlasst, wenn die relevante Rechtsfrage höchstrichterlich geklärt ist, weil sich die gegenständliche Entscheidung in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung befindet und nur die divergierende Entscheidung von dieser abweicht (ständige Rechtsprechung, vgl. bereits BGH BeckRS 1997, 30001950). (red. LS Alexander Kalomiris)
Gründe
Da im angefochtenen Urteil lediglich eine Geldbuße von 160 Euro festgesetzt worden ist, darf die Rechtsbeschwerde nach § 80 I OWiG nur zugelassen werden, wenn es geboten ist, die Nachprüfung des angefochtenen Urteils zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen oder das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 80 I Nr. 2 OWiG) ist nicht gegeben.
a) Es kann dahinstehen, ob die insoweit erhobene Rüge überhaupt den formellen Anforderungen des § 344 II 2 StPO i. V. m. § 80 III 3 OWiG gerecht wird (vgl. zu diesem Erfordernis nur Göhler/Seitz OWiG 16. Aufl. § 80 Rn. 16a m. w. N.). Denn jedenfalls ist die Rüge unbegründet.
aa) Der Senat hat bereits entschieden, dass durch die bloße Nichtüberlassung der Rohmessdaten, die sich nicht bei den Akten, sondern – wie hier – bei der Verwaltungsbehörde befinden, der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) von vornherein nicht beeinträchtigt wird (OLG Bamberg, Beschl. v. 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15 = DAR 2016, 337 = StRR 2016, 16). Denn durch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs soll garantiert werden, dass einer Entscheidung nur Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betr. Stellung nehmen konnte; einen Anspruch auf Aktenerweiterung vermittelt Art. 103 I GG dagegen nicht (OLG Bamberg a. a. O.; Cierniak ZfS 2012, 664, 670; Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 4). Da das AG aber gem. § 261 StPO ausschließlich auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung ausgebreiteten und abgehandelten Tatsachenstoffs entschieden und der Betr. insoweit hinreichende Gelegenheit hatte, sich zu diesem Tatsachenstoff umfassend zu äußern, ist durch die Nichtüberlassung digitaler Messdateien und sonstiger Unterlagen, die das Gericht zu seiner Überzeugungsbildung gerade nicht herangezogen hat, ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht gegeben.
bb) Mit dieser Ansicht befindet sich der Senat im Einklang mit der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.01.1983 – 2 BvR 864/81 = BVerfGE 63, 45 = NJW 1983, 1043 = StV 1983, 177 = NStZ 1983, 273 = MDR 1983, 548) und des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urt. v. 26.05.1981 – 1 StR 48/81 = BGHSt 30, 131 = NJW 1981, 2267 = NStZ 1981, 361 = StV 1981, 500 = MDR 1981, 860). Das BVerfG (a. a. O.) führt insoweit aus, der Anspruch auf rechtliches Gehör solle verhindern, dass das Gericht ihm bekannte, dem Beschuldigten aber verschlossene Sachverhalte zu dessen Nachteil verwerte. Der Schutzbereich des Art. 103 I GG sei hingegen nicht berührt, wenn es um die Frage gehe, ob das Gericht sich und den Prozessbeteiligten Kenntnis von Sachverhalten, die es selbst nicht kennt, erst zu verschaffen habe, weil es nicht Sinn und Zweck der Gewährleistung rechtlichen Gehörs sei, dem Beschuldigten Zugang zu dem Gericht nicht bekannten Tatsachen zu erzwingen. Der BGH (a. a. O.), der zum gleichen Ergebnis gelangt war, hat insbesondere hervorgehoben, unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs sei nur das maßgeblich, was für das Urteil oder das Verfahren Bedeutung erlangt habe. Was darüber hinaus für die Sachentscheidung Bedeutung erlangen könnte, sei dagegen zunächst nur für die Frage der Aufklärungspflicht von Interesse.
b) Das Oberlandesgericht Celle (vgl. OLG Celle, Beschl. v. 16.06.2016 – 1 Ss [OWi] 96/16 = VRR 2016, 16 = StRR 2016, 18) hat allerdings, wenn auch ohne nähere Begründung, in der Nichtüberlassung der (nicht bei den Akten befindlichen) Rohmessdaten einen Gehörsverstoß angenommen. Dem ist aus den dargelegten Gründen und insbesondere im Hinblick auf die zitierte höchstrichterliche Rspr. nicht zu folgen.
c) Der Senat kann trotz der Abweichung von der zitierten Entscheidung des OLG Celle sogleich entscheiden, ohne vorab die Sache dem BGH nach § 121 II Nr. 1 GVG i. V. m. §§ 79 III 1, 80 III 1 OWiG vorzulegen.
aa) Zwar weicht der Senat in entscheidungserheblicher Weise von der Entscheidung des OLG Celle (a. a. O.) ab. Die Verpflichtung zur Divergenzvorlage entfällt auch nicht deshalb, weil das OLG Celle seinerseits schon gegen die Verpflichtung zur Vorlage der Sache an den BGH verstoßen hat, weil es von der bereits vorher ergangenen Entscheidung des Senats (OLG Bamberg a. a. O.) abgewichen ist. Denn die Verpflichtung zur Vorlage durch den Senat wird nach dem Normtext aber auch nach dem Sinn und Zweck des § 121 II GVG, der der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung dienen soll (vgl. BGH, Beschl. v. 21.03.2000 – 4 StR 287/99 = BGHSt 46, 17 = NJW 2000, 1880 = NZA 2000, 558 = wistra 2000, 273), nicht etwa dadurch berührt, dass die Entscheidung des anderen Oberlandesgerichts – unter Verletzung der Vorlegungspflicht – abweichend von einer früheren Entscheidung des Senats ergangen ist.
bb) Indes besteht eine Vorlagepflicht deshalb nicht, weil – wie aufgezeigt – sich der Senat mit seiner Entscheidung im Einklang mit der Rspr. des BVerfG und des BGH befindet, die relevante Frage des Gehörsverstoßes in Fällen der vorliegenden Art mithin bereits höchstrichterlich geklärt ist (zur Unzulässigkeit der Divergenzvorlage in solchen Fällen vgl. BGH, Beschl. v. 30.10.1997 – 4 StR 24/97 = BGHSt 43, 277 = NJW 1998, 321 = MDR 1998, 214 = NZV 1998, 120 = DAR 1998, 110; vom 11.09.1997 – 4 StR 638/96 = BGHSt 43, 241 = NJW 1997, 3252 = MDR 1997, 1024 = ZfS 1997, 432 = DAR 1997, 450 = NZV 1997, 525 und vom 21.03.2000 – 4 StR 287/99 = BGHSt 46, 17 = NJW 2000, 1880 = NZA 2000, 558 = wistra 2000, 273).
2. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung nach § 80 I Nr. 1 OWiG infrage. Dies ist schon deshalb zu verneinen, weil der Senat in seinem Beschluss vom 04.04.2016 (a. a. O.) entschieden hat, dass die Ablehnung eines Antrags der Verteidigung auf Einsichtnahme in die digitale Messdatei und deren Überlassung einschließlich etwaiger sog. Rohmessdaten auch im Übrigen nicht rechtsfehlerhaft ist, insbesondere auch nicht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstößt, wenn sich der Tatrichter aufgrund der Beweisaufnahme davon überzeugt hat, dass die Voraussetzungen eines sog. standardisierten Messverfahrens eingehalten wurden (zustimmend König DAR 2016, 362, 371). […]