Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen in Litauen

Aktenzeichen  M 7 S 16.50401

Datum:
14.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1
GRCh GRCh Art. 4
EMRK EMRK Art. 3
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 17 Abs. 1

 

Leitsatz

In Litauen bestehen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen, die dazu führen, dass ein Flüchtling bei seiner Rücküberstellung unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK behandelt wird. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller, ein ukrainischer Staatsangehöriger mit russischer Muttersprache, begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen seine Überstellung nach Litauen im Rahmen des Dublin-Verfahrens.
Nach der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender reiste er am 18. März 2016 ins Bundesgebiet ein. Dabei war er im Besitz eines von Litauen am 11. März 2016 ausgestellten Visums für Kurzaufenthalte (15 Tage), gültig bis zum 9. April 2016.
Am 19. April 2016 beantragte der Antragsteller Asyl. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am selben Tag gab er an, alleinstehend und am 11. März 2016 von der Ukraine nach Deutschland geflogen zu sein. Grund für seine Ausreise sei, dass der ukrainische Staat wegen der Kampfhandlungen mit den Separatisten versuche, Soldaten zu rekrutieren. Für den Fall, dass er sich nicht stelle, sei ihm mit einer Gefängnisstrafe gedroht worden. Er habe die letzte Zeit unter wechselnden Adressen gelebt. Außerdem sei die Bevölkerung gegen die russischsprachige Bevölkerung eingestellt. Er sei dreimal geschlagen worden. Seine Arbeitsstelle bei der Polizei habe er gekündigt. Danach hätten die Rekrutierungsbemühungen eingesetzt. Er wolle nicht in einen anderen EU-Mitgliedstaat überstellt werden, weil seine Rechte in Deutschland mehr respektiert würden. Zudem habe er hier Verwandte, die bereit seien, ihm zu helfen.
Am 28. April 2016 richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmeersuchen an Litauen, dem mit Schreiben der Asyleinheit der litauischen Migrationsbehörde vom 1. Juni 2016 entsprochen wurde.
Mit per Post zugestelltem Bescheid vom 14. Juni 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag gem. § 27a AsylG als unzulässig ab (Nummer 1), ordnete gestützt auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG die Abschiebung des Antragstellers nach Litauen an (Nummer 2) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nummer 3). In den Gründen des Bescheids ist ausgeführt, Litauen sei gem. Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin dazu veranlassen könnte, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, seien nicht ersichtlich. Die Verwandten des Antragstellers seien keine Familienangehörige im Sinne von Art. 2g Dublin III-VO. Weder er noch seine Verwandten seien nach eigenen Angaben auf gegenseitige Unterstützung angewiesen. Ferner sei davon auszugehen, dass im Herkunftsland keine Familieneinheit bestanden habe, welche es wiederherzustellen gelte, da der Antragsteller es verneint habe, von verwandten Personen aufgrund eines Krieges, einer bürgerkriegsähnlichen Situation oder der anschließenden Flucht getrennt worden zu sein.
Am 20. Juni 2016 erhob der Antragsteller Klage (M 7 K 16.50388). In diesem Verfahren stellten seine Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 23. Juni 2016 den Antrag, den Bescheid vom 14. Juni 2016 aufzuheben und dem Antragsteller Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Am 22. Juni 2016 beantragte der Antragsteller unter Bezug auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt zur Niederschrift des Urkundsbeamten des Gerichts in der Aufnahmeeinrichtung M.,
hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Litauen die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung der Klage wurde auf die in der Anhörung geschilderten Asylgründe Bezug genommen und ausgeführt, das Interview sei ziemlich oberflächlich geführt worden. Seinem Begleiter sei das Dolmetschen untersagt worden. Er habe das lettische Visum beantragt, weil das Reisebüro keine Reisen in andere EU-Staaten angeboten habe. Er habe nicht beabsichtigt, nach Lettland zu reisen, weil dort ebenfalls eine aggressive Haltung gegenüber Russischsprachigen vorherrsche.
Mit Schreiben vom 24. Juni 2016 übersandte das Bundesamt die Behördenakten.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 14. Juni 2016 verfügte Anordnung der Abschiebung nach Litauen gerichtete Antrag ist zulässig, insbesondere fristgerecht gestellt (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG), aber unbegründet.
Entfaltet ein Rechtsbehelf wie hier von Gesetzes wegen (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V. m. § 75 Abs. 1 AsylG) keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anordnen. Bei der vom Gericht im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu treffenden Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen, die ein wesentliches, wenn auch nicht das alleinige Indiz für und gegen die Begründetheit des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens sind.
Vorliegend überwiegt das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Anordnung gegenüber dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Denn nach der gebotenen summarischen Prüfung auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist davon auszugehen, dass der Antragsteller durch die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung nach Litauen nicht in subjektiven Rechten verletzt wird.
Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG kann das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Litauen ist aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nach Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO ist der EU-Mitgliedstaat, der dem Betreffenden ein Visum ausgestellt hat, für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Solange der Betreffende das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat, gilt dies nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO auch dann, wenn das Visum, aufgrund dessen der Betreffende in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates einreisen konnte, im maßgeblichen Zeitpunkt der Stellung des Gesuchs auf internationalen Schutz (Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO) noch nicht sechs Monaten abgelaufen ist. Litauen hat dem Antragsteller unstreitig am 11. März 2016 ein Visum für einen Kurzaufenthalt (15 Tage), gültig bis zum 9. April 2016, ausgestellt, das ihm die Einreise ins Bundesgebiet ermöglicht hat. Dementsprechend hat Litauen auch der Aufnahme des Antragstellers gem. Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO mit Schreiben vom 1. Juni 2016 zugestimmt.
Art. 9 ff., 16 Abs. 2 Dublin III-VO sind aus den im Bescheid der Antragsgegnerin genannten Gründen (§ 77 Abs. 2 AsylG) nicht einschlägig.
Einen Selbsteintritt gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO hat die Antragsgegnerin ermessensfehlerfrei abgelehnt. Insbesondere ist derzeit nicht ersichtlich, dass eine Überstellung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO unmöglich ist. Das ist dann der Fall, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller im zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – EUGRCh – mit sich bringen. Nach der zur Rechtslage unter der Dublin II-VO ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U. v. 21. Dezember 2011 – C-411/10 u. C-493/10 – NVwZ 2012, 417/419 Rn. 80) gilt eine widerlegbare Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat mit den Erfordernissen der EUGRCh sowie der Genfer Flüchtlingskonvention – GF – und der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK – in Einklang steht. Die Vermutung ist dann widerlegt, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsmängel regelhaft so defizitär sind, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, B. v. 19. März 2014 – 10 B 6.14 – S. 7). An diese Feststellung sind hohe Anforderungen zu stellen (OVG Lüneburg, B. v. 18. März 2014 – 13 LA 75/13 – juris Rn. 14). Einzelne Missstände stellen noch keine systemischen Schwachstellen dar. Diese liegen vielmehr erst dann vor, wenn dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder wenn er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z. B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann (OVG NW, U. v. 7. März 2014 – 1 A 21/12.A – juris Rn. 126). Es besteht allerdings keine allgemeine Verpflichtung, jedermann mit einer Wohnung zu versorgen, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (OVG NW, a. a. O., Rn. 118 f. m. w. N.).
Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller Gefahr läuft, nach der Rücküberstellung nach Litauen unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK behandelt zu werden, haben sich nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen und im Internet frei recherchierbaren Quellen nicht ergeben; und zwar auch nicht unter dem Aspekt einer etwaigen Diskriminierung der russischsprachigen bzw. russischen Minderheit (ebenso VG Regensburg, B. v. 13. Januar 2015 – RO 9 S 14. 50347 – juris Rn. 25), die etwa 5% der litauischen Gesamtbevölkerung ausmacht. Die diesbezüglichen vom Antragsteller vorgetragenen Vorfälle haben sich im Übrigen in der Ukraine zugetragen. Entsprechend geht auch die Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte einhellig davon aus, dass das litauische Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen nicht an systemischen Mängeln leiden (vgl. VG Ansbach, U. v. 27. Januar 2016 – AN 14 K 15.50615 – juris Rn. 33 f.; VG Düsseldorf, B. v. 14. Dezember 2015 – 22 L 3629/15.A – juris Rn. 26; VG Magdeburg, Gerichtsbescheid v. 23. Juni 2015 – 9 A 416/15 – juris Rn. 10 f.; VG Regensburg, B. v. 13. Januar 2015 – RO 9 S 14.50347 -, juris, unter Verweis auf den Österreichischen Asylgerichtshofs, Entscheidung v. 14. Mai 2012 – S6 426460-1/2012 – und das österreichische Bundesverwaltungsgericht).
Dass der Antragsteller in seinem Heimatland aus tatsächlichen Gründen nur ein litauisches Visum für die Europäische Union beantragen konnte, nach seinem Vortrag aber von Anfang an zu seinen Verwandten nach Deutschland einreisen und hier um Asyl nachsuchen wollte, ändert an der Rechtslage nichts. Unter Geltung der festen Zuständigkeitsregelungen der Dublin III-VO kann sich ein Asylbewerber den Mitgliedstaat nicht frei aussuchen, in dem er sein Asylbegehren prüfen lassen will.
Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote hinsichtlich Litauens bestehen nicht. Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse und Duldungsgründe, die im Rahmen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vom Bundesamt zu prüfen sind (BayVGH, B. v. 12. März 2014 – 10 CE 14.427- juris Ls), sind ebenfalls nicht ersichtlich. Damit sind die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).

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