Aktenzeichen B 4 K 14.504
Leitsatz
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I.
Die auf eine Änderung der Wohnsitzauflage gerichtete Klage ist als Untätigkeitsklage zulässig (§ 75 Sätze 1 und 2 VwGO), gemäß § 113 Abs. 5 Sätze 1 und 2 VwGO aber unbegründet. Die Beklagte ist zwar passiv legitimiert (1.), aber nicht verpflichtet, die Wohnsitzauflage wie beantragt zu ändern (2.) bzw. den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (3.).
1. Gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist die Klage gegen den Bund, das Land oder die Körperschaft zu richten, deren Behörde den beantragten Verwaltungsakt unterlassen hat. Unterlassen hat die gemäß § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG von der Ausländerbehörde zu treffende Entscheidung über den Antrag auf Änderung der Wohnsitzauflage (§ 61 Abs. 1d Sätze 1 und 2 AufenthG) die Beklagte, weil sie die sachlich und örtlich zuständige Ausländerbehörde ist.
Die zuständige Behörde ist in zwei Schritten zu bestimmen. In einem ersten Schritt (a.) ist durch entsprechende Anwendung der mit § 3 VwVfG übereinstimmenden Regelungen über die örtliche Zuständigkeit in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder festzustellen, welches Bundesland die Verbandskompetenz zur Sachentscheidung besitzt. In einem zweiten Schritt (b.) ist auf der Grundlage des Landesrechts des zur Sachentscheidung befugten Bundeslandes zu ermitteln, welche Behörde innerhalb des Landes örtlich zuständig ist (BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 1 C 5/11 Rn. 17).
a. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 a) BayVwVfG und § 3 Abs. 1 Nr. 3 a) VwVfG NRW ist für die Änderung der Wohnsitzauflage als eine Angelegenheit, die eine natürliche Person betrifft, die Ausländerbehörde örtlich zuständig, in deren Bezirk der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Nach entsprechender Anwendung dieser Bestimmungen besitzt der Freistaat Bayern und nicht das Land Nordrhein-Westfalen die Verbandskompetenz zur Sachentscheidung, weil der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Sinne in B. und damit im Freistaat Bayern hat.
Zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist auf die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I zurückzugreifen (BVerwG, Urteil vom 04.06.1997 – 1 C 25/96 Rn. 16). Danach hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts bestimmt sich nicht nach dem inneren Willen des Betroffenen, sondern setzt eine Prognose voraus, die alle in Betracht kommenden Umstände berücksichtigt. Neben den tatsächlichen Verhältnissen gehören dazu auch ausländerrechtliche Regelungen, die den Verbleib eines Ausländers an einem bestimmten Ort beeinflussen (OVG Hamburg, Beschluss vom 27.08.2012 – 5 Bs 178/12 Rn. 13).
Gemessen daran lassen die Umstände, unter denen der Kläger sich derzeit tatsächlich in Gelsenkirchen aufhält, nicht erkennen, dass er dort nicht nur vorübergehend verweilt.
Zwar unterliegt der Kläger gemäß § 61 Abs. 1b AufenthG nicht (mehr) der räumlichen Beschränkung seines Aufenthalts auf das Gebiet des Freistaates Bayern gemäß § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, weil er sich seit drei Monaten ununterbrochen geduldet im Bundesgebiet aufhält. Dem steht nicht entgegen, dass er derzeit nicht (mehr) über eine förmliche Duldung verfügt. Vielmehr reicht es aus, dass ein materieller Duldungsgrund gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegt, weil eine Abschiebung des Klägers in den Libanon auf absehbare Zeit tatsächlich unmöglich ist (Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 61 AufenthG Rn. 23).
Eine nur vorübergehende Verweildauer des Klägers in G. ergibt sich aber aus dem Umstand, dass er gemäß § 61 Abs. 1d Sätze 1 und 2 AufenthG in der im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Fassung vom 23.12.2014 verpflichtet ist, in B., wo er zum Zeitpunkt der letzten Entscheidung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gewohnt hat, seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen.
Gemäß § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, dessen Lebensunterhalt nicht gesichert ist, verpflichtet, an einem bestimmten Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen (Wohnsitzauflage). Gemäß § 61 Abs. 1d Satz 2 AufenthG ist das, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes angeordnet hat, der Wohnort, an dem der Ausländer zum Zeitpunkt der Entscheidung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gewohnt hat.
Der vollziehbar ausreisepflichtige Kläger unterliegt dieser Wohnsitzauflage, weil sein Lebensunterhalt nicht gesichert ist.
Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Zahlungen von Familienangehörigen zum Unterhalt erfüllen diesen Tatbestand nur, wenn sich die Familienangehörigen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und ihrerseits den Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten können (Bender/Welge in Hofmann, Ausländerrecht,2. Aufl. 2016, § 2 AufenthG Rn.14). Nach seinen eigenen Angaben wohnt der Kläger kostenfrei bei seinen Eltern und lebt von ihren Naturalleistungen und einem kleinen Taschengeld. Damit ist sein Lebensunterhalt nicht im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert, weil die Eltern sich nicht rechtmäßig, sondern ebenfalls nur geduldet im Bundesgebiet aufhalten und selbst öffentliche Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch nehmen.
Der Umstand, dass der Kläger seit 01.06.2014 nicht mehr über eine förmliche Duldung verfügt, entbindet ihn nicht von der Wohnsitzauflage. Solange obergerichtlich noch nicht abschließend entschieden ist, ob § 61 Abs. 1d AufenthG auch dann Anwendung findet, wenn dem betreffenden Ausländer tatsächlich keine Aussetzung der Abschiebung gewährt, also nur negativ über seinen Antrag auf Erteilung einer Duldung entschieden worden ist (vgl. BayVGH, Beschluss vom 04.02.2016 – 10 C 15.2641 Rn. 24; BayVGH, Beschluss vom 26.01.2016 – 10 CE 15.2640 Rn. 24), orientiert sich das erkennende Gericht, auch wenn gemäß § 61 Abs. 1d Satz 2 AufenthG die Bestimmung des Ortes, an dem der Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen hat, an die Entscheidung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung anknüpft, am Wortlaut des § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG, der es ausreichen lässt, dass der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig ist (so auch Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand: Dezember 2015, § 61 Rn. 8). Andernfalls könnte sich ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer der gesetzlichen Wohnsitzauflage entziehen, indem er einfach keine (weitere) Duldung beantragt, mit der Folge, dass für die Leistungen nach dem AsylbLG die Behörde zuständig würde, in deren Bereich er sich tatsächlich aufhält (§ 1 Abs. 1 Nr. 5, § 10 a Abs. 1 Satz 3 AsylbLG). Dies würde dem Gesetzeszweck der gerechten Verteilung der Sozialkosten zuwiderlaufen.
b. Die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Beklagten innerhalb des Freistaats Bayern ergibt sich aus § 1 Satz 1 Nr. 1, § 2 und § 5 Abs. 1 ZuStVAuslR in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 Satz 1 GO.
2. Die Beklagte ist gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO nicht zu verpflichten, die gesetzliche Wohnsitzauflage dahingehend zu ändern, dass der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Gelsenkirchen zu nehmen hat, weil das von § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG der Ausländerbehörde eingeräumte Ermessen („kann“) nicht derart auf „Null“ reduziert ist, dass die Änderung der Wohnsitzauflage die einzig rechtmäßige Entscheidung wäre.
a. Gemäß § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG kann die Ausländerbehörde die Wohnsitzauflage von Amts wegen oder auf Antrag des Ausländers ändern, wobei die Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen oder sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht zu berücksichtigen sind.
Vorliegend überwiegt das private Interesse des Klägers an einem dauerhaften Umzug nach G. jedenfalls nicht zwingend das mit der gesetzlichen Wohnsitzauflage verfolgte öffentliche Interesse an einer gerechten Verteilung der Sozialkosten.
Die Haushaltsgemeinschaft des 41-jährigen Klägers mit seinen Eltern ist nicht per se schutzwürdig, weil es normal ist, dass erwachsene Kinder nicht zusammen mit ihren Eltern in einer Haushaltsgemeinschaft leben. Auch das Vorbringen, der Kläger betreue seine pflegebedürftigen Eltern, begründet kein überwiegendes Umzugsinteresse. Der Zuzug der Eltern von Bayern nach G. im Jahr 2012 wurde nur ermöglicht, weil damals drei Schwestern des Klägers sich wechselseitig zur Pflege der Eltern bereit erklärt hatten. Dass sich daran etwas geändert hätte, ist nicht dargelegt. Vielmehr hat der Kläger auf Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung, was ihn dazu veranlasst habe, nach G. umziehen zu wollen, lediglich darauf verwiesen, dass er in B. niemanden habe und seine Lebensumstände dort durch falsche Freunde, Alkohol und Drogen geprägt gewesen seien. Mit keinem Wort hat der Kläger den Wunsch, seinen Eltern beizustehen, als Motiv für sein Umzugsverlangen erwähnt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Pflege der Eltern für ihn nicht im Vordergrund steht und er die eigentlichen pflegenden Angehörigen allenfalls unterstützt. Besuche bei den Eltern sind auch ohne die Änderung der Wohnsitzauflage jederzeit möglich, weil der Kläger – wie bereits dargelegt – gemäß § 61 Abs. 1b AufenthG keiner räumlichen Beschränkung seines Aufenthalts auf das Gebiet des Freistaates Bayern unterliegt und gemäß § 61 Abs. 1d Satz 4 AufenthG der Ausländer den durch die Wohnsitzauflage festgelegten Ort ohne Erlaubnis vorübergehend verlassen kann.
Die konkrete Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit ist zwar grundsätzlich als sonstiger humanitärer Grund von vergleichbarem Gewicht im Rahmen der Entscheidung nach § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG zu berücksichtigen (BT-Drs. 18/3144). Die vom Kläger vorgelegte Zusage vom 03.03.2016 eines Maschinenhändlers aus O…, ihn nach einem Praktikum auf ein Jahr befristet zum Säubern von Maschinen sozialversicherungspflichtig einzustellen, erweckt aber nicht den Eindruck eines konkreten und ernst gemeinten Arbeitsangebots, sondern vielmehr einer reinen Gefälligkeitsbescheinigung. Nachdem der Aufenthalt des Klägers, wie dargelegt, gemäß § 61 Abs. 1b AufenthG räumlich nicht auf das Gebiet des Freistaates Bayern beschränkt ist und § 61 Abs. 1d Satz 4 AufenthG ihn berechtigt, den durch die Wohnsitzauflage festgelegten Ort ohne Erlaubnis vorübergehend verlassen, steht es ihm frei, die Ernsthaftigkeit des Arbeitsangebotes zu beweisen, indem er zunächst als Pendler das Praktikum und anschließend die sozialversicherungspflichtige Tätigkeit tatsächlich aufnimmt. Gelingt es ihm, aus dieser Beschäftigung seinen Lebensunterhalt zu sichern, unterliegt er der Wohnsitzauflage gemäß § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG ohnehin nicht mehr.
3. Schließlich ist die Beklagte auch nicht gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden, weil die Erwägungen, mit denen sie im Gerichtsverfahren nach dem Inkrafttreten des § 61 Abs. 1d AufenthG zum 01.01.2015 eine Änderung der Wohnsitzauflage abgelehnt hat, eine umfassende, sachgerechte und dem Zweck der Ermächtigung entsprechende Ermessensausübung widerspiegeln (§ 114 VwGO).
Insbesondere ist die Beklagte zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an einer gerechten Verteilung der Sozialkosten nicht deshalb zurücktritt, weil mit einer Sicherung des Lebensunterhalts des Klägers ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu rechnen wäre. In der Einstellungszusage vom 03.03.2016 finden sich abgesehen von den dargelegten Zweifeln an ihrer Ernsthaftigkeit und der Befristung auf ein Jahr keinerlei Angaben über die Höhe des künftig zu erwartenden Einkommens, so dass der gebotene Vergleich des nach den entsprechenden Bestimmungen des SGB II zu ermittelnden voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln (BVerwG, Urteil vom 07.04.2009 – 1 C 17/08 Rn. 29) nicht möglich ist. Ferner hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zutreffend geltend gemacht, dass der 41-jährige Kläger nach eigenen Angaben außerhalb gemeinnütziger Beschäftigung bisher nur drei Jahre erwerbstätig war, obwohl er bereits seit 1990 über die Gestattung zur Erwerbstätigkeit verfügt. Unter diesen Umständen muss für den Fall einer Änderung der Wohnsitzauflage ernsthaft in Betracht gezogen werden, dass der Kläger von der Beigeladenen öffentliche Mittel in Anspruch nehmen wird, was dem Gesetzeszweck einer gerechten Verteilung der Sozialkosten zuwiderlaufen würde.
Rechtfertigen schon diese nicht zu beanstandenden Erwägungen die Ermessenentscheidung zulasten des Klägers, kann das Gericht offen lassen, ob die Änderung der Wohnsitzauflage der – verweigerten – Zustimmung der Beigeladenen bedurft hätte.
II.
Als unterliegender Teil trägt der Kläger die Kosten des Verfahrens (§ 154 Abs. 1 VwGO). Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und damit gemäß § 154 Abs. 3 VwGO kein Kostenrisiko übernommen hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO).
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 ZPO.