Aktenzeichen L 11 AS 448/16 B ER
SGG SGG § 86b
Leitsatz
1. Bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ist bei offenen Erfolgsaussichten im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzes eine Interessenabwägung vorzunehmen. (amtlicher Leitsatz)
2 Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Ast zu entscheiden. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 9 AS 236/16 ER 2016-06-30 Bes SGWUERZBURG SG Würzburg
Tenor
I.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 30.06.2016 wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für das Beschwerdeverfahren zu tragen.
Gründe
Gründe:
I.
Streitig ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens der Anspruch der Antragsteller auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II – ALG II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Antragstellerin zu 1) ist polnische Staatsangehörige, der Antragsteller zu 2) ist pakistanischer Staatsangehöriger. Beide sind die Eltern der 2015 in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Antragstellerin zu 3). Der Antragsteller zu 2) bezog bis 31.08.2015 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und ging bis 31.05.2016 immer wieder versicherungspflichtigen Beschäftigungen nach. Das Landratsamt H. teilte mit Schreiben vom 27.08.2015 mit, der Antragsteller zu 2) habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und sei als Familienangehöriger mit Freizügigkeit bei einem Aufenthalt von weniger als fünf Jahren aufenthaltsberechtigt, wobei sein Aufenthaltsrecht nicht ausschließlich zur Arbeitssuche bestehe. Die Antragstellerin zu 1) ist nicht erwerbstätig und bezog bis 23.07.2016 Elterngeld in Höhe von 300,00 EUR. Seitdem erhält sie Kindergeld. Die Antragsteller zu 1) und 2) leben seit 01.11.2015 zusammen.
Den Anfang 2016 gestellten Antrag auf Bewilligung von ALG II lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 26.04.2016 ab. Die Antragstellerin zu 1) halte sich alleine zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland auf, der Antragsteller zu 2) besitze lediglich ein von der Antragstellerin zu 3) abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Dagegen legten die Antragsteller Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist.
Am 27.05.2016 haben die Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Würzburg (SG) sinngemäß bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache begehrt. Das SG hat mit Beschluss vom 20.06.2016 den Landkreis H. zum Verfahren beigeladen und mit Beschluss vom 30.06.2016 den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig ab 01.06.2016 bis zur Entscheidung in der Hauptsache bzw. bis zur Rechtskraft eines Ablehnungsbescheides, längstens jedoch bis zum 30.11.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 658,37 EUR für den Monat Juni 2016 sowie in Höhe von insgesamt 1.073,64 EUR monatlich für die Zeit ab 01.07.2016 zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag hinsichtlich einer über den 30.11.2016 hinausgehenden Verpflichtung des Antragsgegners abgelehnt. Es sei offen, ob der Antragsteller zu 2) von Ansprüchen gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen sei, denn sein Aufenthaltsrecht ergebe sich nach der Auskunft des Landratsamtes H. nicht (alleine) aus dem Zweck der Arbeitssuche. Somit könnten aber auch die Antragsteller zu 1) und 3) im Rahmen es Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 2) Ansprüche haben. Eine Ausdehnung der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als Ausnahmeregelung sei im Rahmen einer Analogie nicht möglich. Da Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes streitig seien, läge ein Anordnungsgrund vor, vom Vorliegen von Eilbedürftigkeit sei auszugehen. Im Rahmen der daher vorzunehmenden Interessenabwägung habe die Existenzsicherung Vorrang vor eventuell fehlenden Rückzahlungsmöglichkeiten. Im Hinblick auf § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II sei der Anspruch aber auf die Zeit bis 30.11.2016 zu begrenzen.
Dagegen hat der Antragsgegner Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben. Die Antragsteller zu 1) und 3) seien von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Der Antragsteller zu 2) leite sein Aufenthaltsrecht lediglich von der Antragstellerin zu 3) ab. Die entsprechende Gesetzeslücke sei durch einen analogen Ausschluss auch des Antragstellers zu 2) zu füllen. Es wäre für den Gesetzgeber ein Leichtes gewesen, diese entsprechende Regelung in § 7 SGB II aufzunehmen. Der Gesetzgeber hat dies jedoch nicht getan, so dass davon auszugehen sei, dass die Regelung entsprechend angewandt werden solle. Die Erfolgsaussichten seien daher als offen anzusehen. Eine Leistungserbringung sei daher nicht zumutbar.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten des Antragsgegners sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG-) eingelegte Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Zutreffend hat das SG den Antragsgegner zur vorläufigen Leistungserbringung verpflichtet.
Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Bezug auf das geltend gemachte Begehren zur Regelung eines vorläufigen Zustandes stellt für den vorliegenden Rechtsstreit § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG dar, denn die Antragsteller begehren die Bewilligung von Leistungen. Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn den Antragstellern ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl. Rn. 652). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der Antragsteller sein Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu haben die Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung – ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 11. Aufl., § 86 b Rn. 41). Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Ast zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 – 1 BvR 2971/06-). In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 a. a. O.; weniger eindeutig: BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014 – 1 BvR 1453/12).
Im vorliegenden Rechtsstreit ist das Bestehen eines Anordnungsanspruches als offen anzusehen. Das Bestehen eines Anspruches ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auch nicht endgültig zu klären. Zur Begründung wird diesbezüglich gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf die Ausführungen des SG Bezug genommen. Zu ergänzen ist lediglich, dass gerade, wenn der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung hätte treffen können, dies eher weniger dafür spricht, dass eine analoge Anwendung erfolgen solle.
Die vom SG daher zu Recht vorgenommene Interessenabwägung – auch diesbezüglich nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen des SG – ist nicht zu beanstanden, zumal der Antragsgegner lediglich vorträgt, ihm sei eine Zahlung von Leistungen nicht zumutbar. Nähere Ausführungen dazu, weshalb vorliegend der Existenzsicherungsanspruch der Antragsteller zurücktreten sollte, finden sich jedoch nicht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass hinsichtlich der Antragsteller zu 1) und 3) ggf. Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) durch den Beigeladenen in Betracht kommen könnten und somit letztendlich ein Ausgleich unter den Leistungsträgern erfolgen könnte.
Nach alldem war die Beschwerde des Antragsgegners zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).