Europarecht

Krankenversicherung – Anspruch auf Krankengeld während eines Urlaubs innerhalb der Europäischen Union

Aktenzeichen  S 6 KR 511/16

Datum:
13.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V SGB V § 16 Abs. 1, § 16 Abs. 4
VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 7, Art. 21
VO (EG) Nr. 987/2009 Art. 28 Abs. 8

 

Leitsatz

1. Ein Anspruch auf Krankengeld besteht auch während eines Urlaubs innerhalb der Europäischen Union, sofern Arbeitsunfähigkeit besteht und bescheinigt ist.
2. Ausland i.S.v. § 16 Abs. 1 SGB V ist der Bereich außerhalb der Europäischen Union.

Tenor

I. Unter Abänderung des Bescheides vom 26. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2016 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger während seines Auslandsaufenthaltes in K. vom 15. August 2016 bis 27. August 2016 Krankengeld in Höhe von 51,50 Euro täglich zu zahlen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Klage, gegen deren Zulässigkeit keine Bedenken bestehen, ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Krankengeld auch während seines Auslandsaufenthaltes in K. vom 15. August 2016 bis 27. August 2016. Der Bescheid der Beklagten vom 26. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Unter Abänderung des Bescheids vom 26. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2016 ist die Beklagte daher zur Zahlung des Krankengeldes auch während des Auslandsaufenthaltes in K. vom 15. August 2016 bis 27. August 2016 zu verurteilen.
1. Nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ruht der Leistungsanspruch eines Versicherten, solange er sich im Ausland aufhält, und zwar auch dann, wenn er dort während eines vorübergehenden Aufenthalts erkrankt. Die Anwendbarkeit von § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V steht unter dem ausdrücklichen Vorbehalt abweichender Bestimmungen „in diesem Gesetzbuch“. Damit ist das gesamte Sozialgesetzbuch (insbesondere das SGB I, IV und V) gemeint (Blöcher in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 16 SGB V Rd.Nr. 21).
Für den Anspruch auf Krankengeld sieht § 16 Abs. 4 SGB V eine innerstaatliche Ausnahme vor. Danach ruht der Anspruch auf Krankengeld nicht, solange sich Versicherte nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit mit Zustimmung der Krankenkasse im Ausland aufhalten. Die Entscheidung hierüber steht nach dem Gesamtinhalt der Norm im Ermessen der Krankenkasse. Nach dem Zweck der Ermächtigung sind insbesondere von Bedeutung, welche Zwecke mit dem Auslandsaufenthalt verfolgt werden, ob eine Rückkehr ins Inland möglich und zumutbar ist, mit welchen Mitteln und welchem Grad von Sicherheit die Arbeitsunfähigkeit festgestellt werden kann und mit welchen Aussichten die Arbeitsunfähigkeit im Inland besser bzw. schneller beseitigt werden könnte. Nach § 30 Abs. 2 SGB I und § 6 SGB IV steht das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung darüber hinaus unter dem Vorbehalt über- und zwischenstaatlichen Rechts. Soweit also in bi- und multilateralen Abkommen sowie auf EU-Ebene abweichende Regelungen zum SGB V bestehen, gehen diese den §§ 16-18 SGB V vor (Blöcher, a.a.O.). Daher kann nationales Recht durch Regelungen des supranationalen Rechts verdrängt, überlagert oder ergänzt werden. Als derartige Ergänzung des nationalen Rechts kommen, soweit es die Europäische Union betrifft, die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden: Verordnung (EG) Nr. 883/2004) und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden: Verordnung (EG) Nr. 987/2009) in Betracht. Nach Artikel 19 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 haben Versicherter und seine Familienangehörigen, die sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat aufhalten, Anspruch auf die Sachleistungen, die sich während ihres Aufenthalts als medizinisch notwendig erweisen, wobei die Art der Leistungen und die voraussichtliche Dauer des Aufenthalts zu berücksichtigen sind. Diese Leistungen werden vom Träger des Aufenthaltsorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht, als ob die betreffenden Personen nach diesen Rechtsvorschriften versichert wären. Allerdings bedürfen nach dem geltenden europäischen Koordinierungsrecht Sachleistungen, zu deren Inanspruchnahme sich ein Versicherter in einen anderen Mitgliedstaat begibt, der Genehmigung des zuständigen Trägers (Artikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004). Demgegenüber sind Geldleistungen im EU-Bereich frei zugänglich, Artikel 21 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004. Danach haben ein Versicherter und seine Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen oder sich dort aufhalten, Anspruch auf Geldleistungen, die vom zuständigen Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften erbracht werden. Damit einher geht Artikel 7 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, der – bezüglich des Wohnortes – die Gleichstellung der Hoheitsgebiete für den Export von Leistungen und den damit verbundenen ungekürzten Export von Sozialleistungen in einem anderen Mitgliedstaat regelt. Daran knüpft die Durchführungsverordnung ausdrücklich mit Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 an, der mit „Geldleistungen wegen Arbeitsunfähigkeit bei Aufenthalt oder Wohnort in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat“ überschrieben ist. Nach Artikel 27 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 besitzen die auf einem ärztlichen Befund des untersuchenden Arztes oder Trägers beruhenden Angaben in einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit eines Versicherten die gleiche Rechtsgültigkeit wie eine im zuständigen Mitgliedstaat ausgestellte Bescheinigung. Damit gilt die Gleichwertigkeit von Bescheinigungen innerhalb der Europäischen Union.
2. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat der Kläger auch während seines Aufenthaltes in K., das bekanntlich seit 1. Juli 2013 Mitgliedstaat der EU ist, Anspruch auf Krankengeld.
2.1 Die von der Beklagten genannten Gründe der Verweigerung der Zustimmung zum Aufenthalt i.S.v. § 16 Abs. 4 SGB V machen vorliegend keinen Sinn. Es ist bereits fraglich, warum bei einer vorübergehenden Urlaubsreise nach K. die postoperative Versorgung und der Genesungsprozess gefährdet sein soll, während sie bei einer Urlaubsreise nach Rügen, was von A-Stadt fast gleich weit entfernte ist, zustimmungsfrei sein soll. Auch die ansonsten genannten Gründe, beispielsweise der Schwierigkeit der Feststellung von Arbeitsunfähigkeit, treffen vorliegend zum einen deshalb nicht zu, weil der im Inland ansässige Vertragsarzt Arbeitsunfähigkeit vor der Reise am 11. August 2016 bis über die Reise hinaus bescheinigt hat, und darüber hinaus nach Artikel 27 Abs. 8 der Verordnung 987/2009 eine in K. ausgestellte Arbeitsunfähigkeit mit einer in Deutschland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vergleichbar ist.
2.2 Davon unabhängig ist die grundsätzliche Ruhensvorschrift des § 16 Abs. 1 SGB V bereits deshalb nicht einschlägig, weil die Regelung generell durch supranationale Vorschriften verdrängt wird. Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 regelt sowohl Sachleistungen, als auch Geldleistungen. Bezüglich der Geldleistungen sieht Artikel 21 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ausdrücklich vor, dass ein Versicherter, der sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedsstaat aufhält, Anspruch auf Geldleistungen hat, die vom zuständigen Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften erbracht werden. Geldleistungen sind demnach frei zugänglich, während Sachleistungen der Genehmigung unterliegen können. Nach Artikel 7 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Denn es ist innerhalb der Gemeinschaft grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Ansprüche der sozialen Sicherheit vom Wohnort der betreffenden Person abhängig zu machen (Erwägungsgrund 16 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004). Auch soll den Versicherten in Bezug auf Leistungen bei Krankheit, Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellten Leistungen bei Vaterschaft den Versicherten sowie ihren Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen oder sich dort aufhalten, Schutz gewährt werden (Erwägungsgrund 20 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004). Die in Artikel 27 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 geregelte Gleichwertigkeit von Bescheinigungen innerhalb der Europäischen Union würde keinen rechten Sinn machen, wenn zwar die Gleichwertigkeit von nationalen Stellen anerkannt, der Anspruch aber mit Verweis auf das Ausland generell ablehnt werden würde. Daher ist Ausland im Sinne von § 16 Abs. 1 SGB V so auszulegen, dass damit lediglich der Bereich außerhalb der Europäischen Union gemeint ist. Deshalb ruhten die Leistungsansprüche des Klägers nicht während seines vorübergehenden Aufenthaltes in K. Mangels Ruhens bedurfte es auch keiner Zustimmung der Beklagten nach § 16 Abs. 4 SGB V.
2.3 Daher hat der Kläger Anspruch auf Krankengeld auch während seines Auslandsaufenthaltes in K. vom 15. August 2016 bis 27. August 2016. Der Bescheid der Beklagten vom 26. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Unter Abänderung des Bescheids vom 26. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. September 2016 ist die Beklagte somit zur Zahlung des Krankengeldes auch während des Auslandsaufenthaltes in K. vom 15. August 2016 bis 27. August 2016 zu verurteilen.
Die Klage hat demnach Erfolg.
3. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und ist getragen von der Erwägung, dass die Klage Erfolg hat.
4. Die Berufung bedarf der Zulassung, weil die Klage eine Geldleistung betrifft, die 750 Euro nicht übersteigt, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Die Berufung ist zur Überzeugung des Gerichts nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

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