Aktenzeichen M 12 K 19.4535
Leitsatz
Drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers, die ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU erlangt haben, können eigenen Familienangehörigen (hier: die Mutter) keine Freizügigkeit vermitteln, da sie ihren Freizügigkeitsstatus ausschließlich auf persönlicher Grundlage behalten haben. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
1. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Bescheid des Beklagten vom 9. August 2019 ist vielmehr rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Anwendbar ist das Aufenthaltsgesetz. Es wird im vorliegenden Fall nicht durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) verdrängt (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Nach § 1 FreizügG/EU regelt dieses Gesetz nur die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie, unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU), ihrer Familienangehörigen. Die Klägerin ist jedoch keine Familienangehörige eines Unionsbürgers, da ihr Sohn die bosnisch-herzegowinische Staatsangehörigkeit besitzt. Zwar ist der Sohn der Klägerin im Besitz einer Aufenthaltskarte-EU nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU, da er mit einer ungarischen Staatsangehörigen verheiratet war und er nach der Scheidung aufgrund der mehr als dreijährigen Ehebestandszeit das Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU behalten hat. Die Familienangehörigen aus Drittstaaten behalten ihr Aufenthaltsrecht aber ausschließlich auf persönlicher Grundlage (vgl. Art. 13 Abs. 2 UAbs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie)). Der Sohn der Klägerin wird dadurch nicht zum Stammberechtigten, der wiederum der Klägerin einen Nachzug nach den Regelungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU ermöglichen könnte (vgl. § 3 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU).
b) Rechtsgrundlage ist daher § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG) müssen grundsätzlich ebenfalls vorliegen.
Das Aufenthaltsgesetz behandelt im sechsten Abschnitt des zweiten Kapitels den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland aus familiären Gründen. Dabei regeln die §§ 28 bis 30, 32, 33 und 36 Abs. 1 AufenthG die Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung zwischen Ehegatten, Eltern und Kindern und unterscheiden zusätzlich danach, ob das in Deutschland lebende Familienmitglied die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht. Demgegenüber erstreckt § 36 Abs. 2 AufenthG die Möglichkeit einer Familienzusammenführung zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG (vgl. § 27 Abs. 1 AufenthG) auch auf sonstige Familienangehörige, die von den vorgenannten Normen nicht erfasst werden; die Vorschrift ist auf sonstige Familienangehörige von Deutschen entsprechend anzuwenden (vgl. § 28 Abs. 4 AufenthG). Allerdings ist der Nachzug sonstiger Familiengehöriger auf Fälle einer außergewöhnlichen Härte, das heißt auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre (BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15/12 – juris).
Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (BVerwG, U.v. 10.3.2011 – 1 C 7.10 – juris). Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (vgl. BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 9.12 – juris).
Die spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe in Deutschland als Voraussetzung für den Nachzug sonstiger Familienangehöriger stellt eine höhere Hürde dar als die in den §§ 28 bis 30, 32, 33 und 36 Abs. 1 AufenthG geregelten Voraussetzungen für den Nachzug von Kindern, Eltern oder Ehegatten, weil sie eine gesonderte Begründung dafür verlangt, dass die Herstellung der Familieneinheit außerhalb der Bundesrepublik Deutschland unzumutbar wäre (vgl. BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 37 – 39). Dies folgt im Übrigen auch aus dem Umstand, dass bei dem Ehegatten- und Kindernachzug (§ 30 Abs. 2 und § 31 Abs. 2 bzw. § 32 Abs. 4 AufenthG) die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Fällen, in denen die Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen Norm nicht erfüllt sind, schon zur Vermeidung einer besonderen Härte, also bei drohender erheblicher Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), in Betracht kommt.
Die Klägerin ist im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sonstige Familienangehörige, da sie als Mutter ihres volljährigen Sohnes keinem der sonst in Betracht kommenden Tatbestände des Familiennachzugs zuzuordnen ist.
Ob der Sohn der Klägerin auf deren Anwesenheit und Unterstützung in einer Weise angewiesen ist, dass ihm ohne diese die Führung eines eigenständigen Lebens nicht möglich wäre, erscheint angesichts der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geschilderten Unterstützungsleistungen, die sich im Wesentlichen auf die Überwachung der Medikamenteneinnahme sowie auf psychische Unterstützung bei Aufenthalten in der Öffentlichkeit beschränken, zumindest zweifelhaft, zumal für den Sohn der Klägerin bislang nicht einmal eine Pflegestufe festgestellt wurde.
Dies kann vorliegend jedoch dahinstehen. Denn selbst wenn der Sohn der Klägerin auf deren Anwesenheit und Unterstützung derart angewiesen wäre, liegt keine besondere Härte i.S.v. § 36 Abs. 2 AufenthG vor, da diese Hilfe jedenfalls nicht nur in Deutschland in zumutbarer Weise erbracht werden kann. Sowohl der Klägerin als auch deren Sohn ist eine Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina zumutbar, so dass die Unterstützungsleistungen der Klägerin auch dort erbracht werden können.
Die Klägerin befindet sich erst seit 20. August 2016 durchgehend im Bundesgebiet. Sie ist somit erst im Alter von 49 Jahren in das Bundesgebiet eingereist und hat sich zuvor in Bosnien-Herzegowina aufgehalten, wo auch ihr Ehemann lebt. Eine Reintegration ist der Klägerin somit problemlos möglich. Die Klägerin ist lediglich mit einem Visum zu Besuchszwecken in das Bundesgebiet eingereist, das aufgrund der gesundheitlichen Lage ihres Sohnes immer wieder verlängert wurde. Vor diesem Hintergrund fallen auch die ungelernten Tätigkeiten der Klägerin im Bundesgebiet nicht wesentlich ins Gewicht.
Auch dem Sohn der Klägerin ist es zumutbar, sich nach Bosnien-Herzegowina zu begeben, um dort die psychisch stabilisierende Nähe und Unterstützung der Klägerin zu erhalten. Der am … … 1992 geborene Sohn der Klägerin ist erst im Jahr 2013, d.h. im Alter von 21 Jahren, in das Bundesgebiet eingereist, so dass auch er seine prägenden Jahre der Kindheit und Jugend im Heimatland verbracht hat, so dass auch ihm eine Reintegration dort problemlos möglich sein wird. In Deutschland unterhält der Sohn der Klägerin aufgrund seiner Erkrankung, die zu einem sozialen Rückzug geführt hat, weder wirtschaftliche Bindungen – er lebt vielmehr von öffentlichen Leistungen – noch nennenswerte soziale Kontakte (vgl. Attest von Dr. R… vom 28. Februar 2019). Auch der Vater des Klägers befindet sich in Bosnien-Herzegowina. Eine Unzumutbarkeit der Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina ergibt sich schließlich auch nicht aus der Behandlungsbedürftigkeit der beim Sohn der Klägerin diagnostizierten paranoiden Schizophrenie und ggf. eines depressiven Syndroms. Nach dem Bericht der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Österreich zur medizinischen Grundversorgung in Bosnien-Herzegowina ergibt sich Folgendes:
In Bosnien-Herzegowina bestehen 72 sog. Mental Health Centers (MHC), die durchschnittlich über drei bis acht Vollzeitmitarbeiter verfügen, im Normalfall über einen Neuro-Psychiater, einen Psychologen, einen Sozialarbeiter, Pflegepersonal und manchmal weiteres sozialmedizinisches Personal wie Beschäftigungs- oder Sprachtherapeuten. MHC stehen allen Patientengruppen offen. Dort gibt es die Möglichkeit von therapeutischen Gesprächen, unterstützender Gesprächstherapie, Gruppentherapien, Mal- und Beschäftigungstherapie sowie handwerklichen Aktivitäten. Die Patienten suchen das MHC selbst oder in Begleitung von Angehörigen auf. Eine eigentliche Warteliste besteht nicht. Falls Patienten unangemeldet vorsprechen, erfolgt eine Triage und ein Behandlungssetting je nach individueller Priorität. Von Notfällen abgesehen, kann namentlich bei den psychiatrisch-psychologischen Fachpersonen eine Wartezeit von mehreren Tagen bestehen. Alle Patienten erhalten auch eine Behandlung. Falls eine stationäre Maßnahme erforderlich sein sollte, erfolgt eine Einweisung auf die Psychiatrische Abteilung der Universitätsklinik Sarajevo oder das Psychiatrische Klinikum in Jagomir/Sarajevo. Letztere verfügt über 70 Betten und wird in Abstimmung mit den international üblichen Grundsätzen der WHO für die Behandlung von Patienten mit psychischen Erkrankungen geführt. Es kann ein breites Spektrum psychischer Erkrankungen behandelt werden. Letztlich sind in allen Einrichtungen zusammengenommen genügend staatlich-stationäre Betten vorhanden. Die gesprächstherapeutischen Möglichkeiten sind – gemessen an westeuropäischen Ansprüchen – aus Kapazitäts- und Ausbildungsgründen jedoch eher eingeschränkt. Das Behandlungsschwergewicht bilden Medikamente. Auf der sekundären und tertiären Stufe verordnete Medikamente sind verfügbar. Die Kosten für psychiatrische Behandlungen auf allen Behandlungsstufen übernimmt die Krankenversicherung. Es ist durchaus üblich, dass Patienten mit leichten psychischen Krankheitsbildern zuhause betreut und gepflegt werden. Bei psychischen Krankheiten werden den erkrankten Personen Renten zwischen 45 und 100 Euro bezahlt. Die Betreuungsleistung von Familienmitgliedern wird nicht entschädigt.
Das Gericht entnimmt dem Bericht, dass gängige Medikamente auch in Bosnien-Herzegowina verfügbar sind. Dem Kläger wurde von Dr. R… zuletzt Risperdal Costa verordnet. Der Wirkstoff Risperidon, den das Depot-Neuroleptikum Risperdal Costa enthält, findet sich auch auf der „Liste A“ der Essential Drug List, wenn auch nur in Tablettenform. Daneben gibt es nach dem Bericht auch Depotinjektionen mit Haldol (Haloperidol) oder Fluanxol (Flupentixol). Zur Behandlung einer möglichen Depression, die derzeit aber offenbar nicht medikamentös behandlungsbedürftig ist, nachdem keine Antidepressiva verordnet sind, finden sich allein in der „Liste A“ der Essential Drug List fünf verschiedene Medikamente. Nach alledem ist eine Fortführung der medikamentösen Behandlung der paranoiden Schizophrenie und einer möglichen Depression auch in Bosnien-Herzegowina möglich. Eine erforderliche nervenärztliche Betreuung ist sowohl ambulant in den MHC als auch stationär in verschiedenen Kliniken in ausreichender Weise verfügbar. Wie sich aus dem Bericht ergibt, ist darüber hinaus auch eine Gesprächstherapie, die derzeit einmal monatlich stattfindet, wie auch eine sozialpädagogische Betreuung in den MHC möglich, auch wenn die Kapazitäten nicht mit westlichen Standards vergleichbar sind. Zwar mag es zutreffend sein, dass ein mit bundesdeutschem Standard vergleichbares intensives Behandlungssetting in Bosnien-Herzegowina nicht in allen Bereichen zur Verfügung steht. Gleichwohl sind die im aktuellen Attest von Dr. R… genannten Behandlungen auch in Bosnien-Herzegowina verfügbar, mögen diese auch nicht in jedem Punkt dem hohen Standard in der Bundesrepublik entsprechen. Wie sich aus der Wertung des § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ergibt, ist es aber auch nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Heimatland mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Aus einer nicht gleichwertigen medizinischen Versorgung kann daher auch keine Unzumutbarkeit der Erbringung der notwendigen Hilfeleistung im Heimatland i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG abgeleitet werden.
c) Der in der mündlichen Verhandlung bedingt gestellte Beweisantrag wird abgelehnt. Abgesehen davon, dass aus dem Beweisantrag schon nicht hervorgeht, in welchem Fachbereich (pflegerisch oder ärztlich/mit welcher Fachrichtung) die Klägerin die Einholung eines Sachverständigengutachtens begehrt, kommt es auf die zu beweisenden Tatsachen nach Ansicht des Gerichts nicht an. Wie oben ausgeführt, muss die Pflege und Unterstützung, selbst wenn sie in der im Beweisantrag geschilderten Form durch die Klägerin erforderlich und ihr möglich sein sollte, nicht in Deutschland erfolgen.
d) Die Klägerin verfügt über keinen Aufenthaltstitel und ist somit gem. § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig. Die Abschiebungsandrohung und die festgesetzte Ausreisefrist entsprechen § 59 AufenthG.
e) Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Fall der Abschiebung auf 12 Monate ist nach Maßgabe des § 114 VwGO nicht zu beanstanden. Über die Länge der Frist wird gem. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden, wobei die Befristung im Regelfall fünf Jahre nicht überschreiten darf. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Ermessensausübung sind nicht erkennbar. Die von der Beklagten festgesetzte Frist hält sich im unteren Bereich der zulässigen Befristungsdauer. Sie ist auch unter Berücksichtigung der persönlichen Bindungen zu ihrem im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Sohn nicht unverhältnismäßig, zumal es die Klägerin selbst in der Hand hat, ob ein Einreise- und Aufenthaltsverbot überhaupt eintritt.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.