Europarecht

Obdachlosenunterkunft für Unionsbürger

Aktenzeichen  M 22 E 17.3587

Datum:
9.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
LStVG LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

Ein Unionsbürger kann als Selbsthilfemaßnahme zur Abwendung einer Obdachlosigkeit nur dann auf eine Rückreisemöglichkeit in sein Herkunftsland verwiesen werden, wenn dort tatsächlich vorübergehende Unterkunftsmöglichkeiten gegeben sind, etwa in Form einer eigenen oder gemieteten Wohnung oder einer vorübergehenden freiwilligen Aufnahme durch Familienangehörige. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller zur Behebung der Obdachlosigkeit eine Notunterkunft zuzuweisen und vorläufig bis zum 1. Oktober 2017 zur Verfügung zu stellen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag des … geborenen, bulgarischen Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihn im Rahmen der Obdachlosenfürsorge unterzubringen, ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung um wesentliche Nachteile abzuwenden oder dro-hende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der Antragsteller sowohl den (aus dem streitigen Rechtsverhältnis abgeleiteten) Anspruch, bezüglich dessen die vorläufige Regelung getroffen werden soll (Anord-nungsanspruch), wie auch die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Maßgeblich für die Beurteilung sind dabei die rechtlichen und tatsächlichen Ver-hältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
2. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen hier vor. Der Antragsteller hat einen gegen die Antragsgegnerin gerichteten Anordnungsanspruch auf (vorläufige) Unterbringung zur Vermeidung von Obdachlosigkeit auf der Grundlage des Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG sowie einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht hat.
Nach Art. 6 und Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG sind die Gemeinden als untere Sicherheitsbehörden verpflichtet, Gefahren abzuwehren und Störungen zu beseitigen, die Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen bedrohen oder verletzen; hierzu zählt auch die Beseitigung einer bestehenden (unfreiwilligen) Obdachlosigkeit als Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Nach der Rechtsprechung liegt der gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG für die örtliche Zuständigkeit entscheidende Anlass für die Amtshandlung im Bereich der Gefahrenabwehr dabei dort, wo die zu schützenden Interessen verletzt oder gefährdet werden. Die Gefahr für Leib oder Leben im Sinn des Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG entsteht durch die Obdachlosigkeit. Die Zuständigkeit für die Behebung dieser Gefahr liegt deshalb dort, wo die Gefahr aktuell eintritt (vgl. BayVGH B.v. 9.10.2015 – 4 CE 15.2102 – juris; BayVGH, B.v. 7.1.2002 – 4 ZE 01.3176 – NVwZ-RR 2002, 575). Unerheblich ist dagegen, wo der Antragsteller gemeldet ist oder war oder wo er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte (vgl. BayVGH, B.v. 7.1.2002 – 4 ZE 01.3176 – NVwZ-RR 2002, 575). Daher ist bei der Prüfung der Zuständigkeit auf die aktuelle „streitbefangene“ Obdachlosigkeit, die auch am Ende einer Reihe von Unterkunftswechseln stehen kann, abzustellen (vgl. VG Augsburg B.v. 12.10.2011 – Au 5 E 11.1485 – juris). Dass ein Betroffener durch Gebrauchmachen vom Grundrecht der Freizügigkeit unter Umständen in gewissem Umfang darauf Einfluss nehmen kann, wo die Obdachlosigkeit eintritt, ist ohne Belang (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – juris; VG Augsburg B.v. 12.10.2011 – Au 5 E 11.1485 – juris).
In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass der Antragsteller im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin unfreiwillig obdachlos (geworden) ist, weil er hier wie auch andernorts über keine aus eigenen Mitteln zu erlangende Wohnmöglichkeit verfügt, und er insoweit einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf sicherheitsrechtliches Tätigwerden hat.
2.1 Aufgrund der Angaben des Antragstellers sowie der von ihm – im vorliegenden Verfahren sowie im Verfahren M 22 E 16.1822 – vorgelegten Unterlagen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Antragsteller bereits ab 2010 nahezu durchgängig im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin aufgehalten hat und er hier spätestens mit Beendigung des Kälteschutzprogramms zum 1. Mai 2017 bzw. mit Auszug aus der im Arbeitsvertrag vom 3. Mai 2017 angegebenen (Pensions-) Anschrift „…str. …“ erneut – und zwar streitgegenständlich – obdachlos geworden ist.
Für den Zeitraum vom 26. Januar 2010 bis 1. September 2013 ist insoweit auf die vorgelegte erweiterte Meldebescheinigung vom 5. Mai 2017 zu verweisen, der zufolge der Antragsteller im genannten Zeitraum durchgängig über Wohnanschriften in M. verfügte. Für die Zeit vom 1. September 2013 bis Mai 2016 hat der Antragsteller in dem im Kalenderjahr 2016 geführten Verfahren M 22 E 16.1822 entsprechende Nachweise vorgelegt, aufgrund derer er denn auch von der Antragsgegnerin bis 3. August 2016 in ihrem Zuständigkeitsbereich untergebracht wurde. Der weitere Aufenthalt in M. ist zur Überzeugung der Kammer durch die („eidesstattliche“) Versicherung des Antragstellers vom 31.Juli 2017 hinreichend glaubhaft gemacht, da deren Angaben zum Aufenthalt des Antragstellers für die Zeit vom 21. Februar 2017 bis 1. März 2017 durch den Arztbrief des Klinikums … gestützt werden und sie im Übrigen auch durch den Aufenthalt des Antragstellers in der Kälteschutzeinrichtung in der …straße, den vorgelegten Arbeitsvertrag vom 3. Mai 2017 (mit Anschrift …-straße … und Einsatzort A.) und die unter dem 21. April, 12. Mai und 31. Juli 2017 beim KVR erfolgten Vorsprachen sowie das Schreiben des Sozialreferats vom 28. März 2017 hinreichend untermauert wird. Letzterem zufolge wurde dem Antragsteller für die Zeit vom 10. November 2015 bis 31. Dezember 2017 (gemeint ist wohl der 31. Dezember 2016) für diverse ambulante und stationäre Krankenhausaufenthalte in M. Krankenhilfe nach dem SGB XII gewährt.
2.2 Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der (augenscheinlich arbeits- und mittellose) Antragsteller die Obdachlosigkeit durch wie auch immer geartete Selbsthilfemaßnahmen abwenden könnte.
Insbesondere kann der Antragsteller auch nicht auf das Mittel der Selbsthilfe in Form einer sofortigen, durch die Antragsgegnerin finanzierte Rückreisemöglichkeit in sein Herkunftsland Bulgarien verwiesen werden. Eine die Unterbringung ausschließende Selbsthilfemöglichkeit dieser Art würde voraussetzen, dass im Herkunftsland tatsächlich vorübergehende Unterkunftsmöglichkeiten gegeben sind, sei es in Form einer eigenen oder gemieteten Wohnung oder weil der Antragsteller vorübergehend freiwillig Aufnahme bei im Herkunftsland ansässigen Familienangehörigen finden kann. Dass vorliegend solche Möglichkeiten nicht bestehen, hat der Antragsteller mit seiner („eidesstattlichen“) Versicherung zur Überzeugung des Gerichts hinreichend glaubhaft gemacht. Zwar ist der Antragsgegnerin darin zuzustimmen, dass sich die darin gemachten Einlassungen dazu, wann sich der Antragsteller von seiner Frau getrennt hat und seit wann er in M. aufhältig ist, nicht mit seinen diesbezüglich im Jahr 2016 vor dem Verwaltungsgericht München im Verfahren M 22 E 16.1822 gemachten Angaben decken. Doch scheinen diese Abweichungen dem Gericht nicht als so gravierend, als dass sie die Glaubwürdigkeit seiner gesamten Einlassung erschüttern könnten. Dies zumal sich die abweichenden Schilderungen auf Vorgänge in den Jahren 2001 bis 2009 beziehen und für die Einlassung des Antragstellers, in Bulgarien über keine Unterkunftsmöglichkeit zu verfügen, auch spricht, dass sich der Antragsteller trotz seiner schlechten gesundheitlichen und finanziellen Lage kaum seit mindestens sieben Jahren in M. aufhalten würde (siehe oben), wenn er in Bulgarien ein funktionierendes soziales Netzwerk zur Verfügung hätte.
2.3 Der Bejahung eines Anordnungsanspruchs steht mit Blick auf einen – nach Angaben des Antragstellers – gestellten, aber noch nicht verbeschiedenen Antrag auf Gewährung von Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII auch kein Vorrang des Sozialhilferechts vor dem Sicherheitsrecht entgegen. Auch wenn dem Antragsteller Hilfeleistungen nach dem SGB II oder XII zustehen sollten, ändert dies nichts daran, dass, solange diese nicht gewährt werden und ggf. in deren Rahmen eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wird, die Antragsgegnerin weiterhin zur Abwehr einer bestehenden oder drohenden Obdachlosigkeit verpflichtet bleibt.
2.4 Der Anordnungsgrund folgt aus der insoweit glaubhaft gemachten Obdachlosigkeit des Antragstellers. Das Abwarten einer Hauptsacheentscheidung ist dem Antragsteller nicht zuzumuten, denn er wäre ohne die begehrte vorläufige Regelung ohne Obdach und schutzlos den Witterungsbedingungen ausgesetzt.
3. Dem Zweck einer einstweiligen Anordnung entsprechend wurde die Verpflichtung zur Unterbringung des Antragstellers befristet. Innerhalb des vorgegebenen Zeitraums dürfte eine Abklärung der hinsichtlich des Beweises nach Maßgabe der allgemeinen Regeln (die Glaubhaftmachung im Anordnungsverfahren ersetzt nicht die Fest-stellung der anspruchsbegründenden Tatsachen im Hauptsacheverfahren) ggf. noch klärungsbedürftigen Fragen – v.a. hinsichtlich einer Unterkunftsmöglichkeit im Herkunftsland – möglich sein, so dass dann bei Bedarf seitens der Antragsgegnerin auch über einen Antrag auf Verlängerung der Unterbringung rechtzeitig und auf der Grundlage belastbarer Feststellungen zur Sache entschieden werden könnte. Der Antragsteller ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass er verpflichtet ist, sich – ggf. unter Inanspruchnahme von (sozial) behördlicher oder sonstiger Hilfe – um eine anderweitige Unterkunft zu bemühen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung der Empfehlungen in Nr. 1.5 und 35.3 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

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