Europarecht

Örtliche Zuständigkeit im Abschiebungsverfahren

Aktenzeichen  10 ZB 16.1134

Datum:
2.11.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 54883
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 61 Abs. 1d
ZustVAuslR § 5

 

Leitsatz

1 Die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts bestimmt sich nicht nach dem inneren Willen des Betroffenen, sondern setzt eine Prognose voraus, die alle in Betracht kommenden Umstände berücksichtigt (ebenso BVerwG 9998, 30162). (redaktioneller Leitsatz)
2 Es ist eine Frage des Einzelfalls‚ ob bei der Verbüßung einer Freiheitsstrafe der Haftort den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts darstellt. Der tatsächliche Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt stellt zwar ein gewichtiges Indiz für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts dar‚ zu berücksichtigen ist jedoch auch‚ ob die Inhaftierung zwangsläufig mit der Aufgabe des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsorts verbunden ist (ebenso OVG Münster BeckRS 2016, 41507). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 15.1648 2016-05-03 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 2.500‚- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung der Beklagten richtet sich gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 3. Mai 2016‚ mit dem die Beklagte verpflichtet worden ist‚ dem Kläger eine Duldung zu erteilen.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die allein geltend gemachten Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden nur dann‚ wenn die Beklagte im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (BVerfG‚ B. v. 10.9.2009 – 1 BvR 1814/9 – juris Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verpflichtet‚ dem Kläger eine Duldung zu erteilen‚ weil zwischen ihm und seinen beiden Töchtern eine schützenswerte familiäre Gemeinschaft und eine tatsächliche Verbundenheit bestehe‚ auf deren Aufrechterhaltung die Kinder zu ihrem Wohl angewiesen seien. Die Beklagte sei für die Erteilung der Duldung örtlich zuständig. Ihre Zuständigkeit ergebe sich aus § 5 Abs. 1 Satz 2 ZustVAuslR i. V. m. § 61 Abs. 1d AufenthG‚ da der Aufenthalt des Klägers räumlich auf das Stadtgebiet der Beklagten beschränkt sei. Sei der Aufenthalt räumlich beschränkt‚ so sei die Ausländerbehörde des Bezirks örtlich zuständig‚ auf den der Aufenthalt beschränkt sei. Nach § 61 Abs. 1d Satz 1 und 2 AufenthG sei ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer‚ dessen Lebensunterhalt nicht gesichert sei‚ verpflichtet, an einem bestimmten Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen. Soweit die Ausländerbehörde nichts anderes angeordnet habe‚ sei das der Wohnort‚ an dem der Ausländer zum Zeitpunkt der Entscheidung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gewohnt habe. Damit werde eine einen bestimmten Ort betreffende Wohnsitzauflage kraft Gesetzes vorgesehen. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 61 Abs. 1d Satz 1 und 2 AufenthG seien erfüllt. Der Lebensunterhalt des Klägers sei nicht gesichert. Die Beklagte habe ihm im Februar 2015 eine Duldung‚ die bis Mai 2015 gültig gewesen sei‚ erteilt.
Zur Begründung ihres Antrags auf Zulassung der Berufung bringt die Beklagte vor‚ der Aufenthalt des Klägers sei durch die Ausländerbehörde nicht auf den Bereich der Stadt Augsburg beschränkt worden. Aus der Duldung ergebe sich‚ dass sein Aufenthalt auf das Land Bayern beschränkt sei. Auch aus § 61 Abs. 1d Satz 1 und 2 AufenthG ergebe sich keine örtliche Zuständigkeit der Beklagten. Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sei der Wohnort maßgeblich‚ an dem der Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung gewohnt habe. Der Kläger sei aber im Zeitpunkt der letztmaligen Duldungserteilung in der Justizvollzugsanstalt K. inhaftiert gewesen. Zudem sei eine abweichende Anordnung im Sinne des § 61 Abs. 1d Satz 2 1. Halbs. AufenthG anzunehmen‚ da die Duldung keine Wohnsitzauflage enthalten habe. Aus der Zuweisungsentscheidung der Regierung von Schwaben vom 28. Juli 2010 ergebe sich ebenfalls keine aktuelle örtliche Zuständigkeit der Beklagten. Diese örtliche Zuständigkeit bestehe nicht mehr‚ denn die Zuweisungsentscheidung habe keine Wirkung mehr. Diese sei bereits mit Beendigung der Drogentherapie bzw. durch die Inhaftierung erledigt.
Mit diesen Ausführungen zieht die Beklagte jedoch die tragenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht ernsthaft in Zweifel.
Die Auffassung der Beklagten‚ aus der maßgeblichen Sicht des Empfängerhorizonts des Klägers habe sie eine andere Anordnung im Sinne des § 61 Abs. 1d Satz 2 1. Halbs. AufenthG getroffen‚ ist unzutreffend. Es ist zwar richtig‚ dass die Beklagte in der Duldungsbescheinigung vom Februar 2015 keine Wohnsitzauflage verfügt hat. Die Verpflichtung nach § 61 Abs. 1d Satz 1 und Satz 2 AufenthG, an einem bestimmten Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen, entsteht jedoch kraft Gesetzes‚ sobald der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig ist und seinen Lebensunterhalt nicht sichern kann (Keßler in Hofmann, AuslR‚ 2. Aufl. 2016, § 61 Rn. 27 ff.; Bauer in Bergmann/Dienelt‚ AuslR‚ 11. Aufl. 2016‚ § 61 Rn. 9). Aus der fehlenden Anordnung einer Wohnsitzauflage in der Duldungsbescheinigung musste der Kläger folglich nicht schließen‚ dass die Beklagte eine anderweitige Anordnung bezüglich des Wohnsitzes als in der gesetzlichen Regelung in § 61 Abs. 1d Satz 2 2. Halbs. AufenthG vorgesehen getroffen hat.
Das Verwaltungsgericht ist vielmehr zu Recht davon ausgegangen‚ dass sich die örtliche Zuständigkeit der Beklagten aus § 5 Abs. 1 Satz 2 ZustVAuslR i. V. m. § 61 Abs. 1d Satz 1 und Satz 2 AufenthG ergibt. Eine Wohnsitzauflage im Sinne des § 61 Abs. 1d AufenthG stellt zwar im wörtlichen Sinne keine räumliche Beschränkung dar‚ da diese Wohnsitzauflage – wie § 61 Abs. 1d Satz 4 AufenthG ausdrücklich klarstellt – nicht einer räumlichen Beschränkung nach § 61 Abs. 1 oder 1a AufenthG gleich kommt. Geht man jedoch vom Sinn und Zweck der Regelung des § 5 ZustVAuslR aus‚ wonach diejenige Ausländerbehörde örtlich zuständig sein soll‚ in deren Bezirk sich der Ausländer tatsächlich aufhält oder aufhalten muss‚ so hat eine Wohnsitzauflage – wie § 5 Abs. 1 Satz 2 letzte Alt. ZustVAuslR auch klarstellt – die gleiche Wirkung wie eine räumliche Beschränkung.
Entgegen der Auffassung der Beklagten hatte der Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung im Februar 2015 auch seinen Wohnsitz im Stadtgebiet der Beklagten. Denn er hat während seiner Inhaftierung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 61 Abs. 1d Satz 1 und Satz 2 AufenthG nicht in der Justizvollzugsanstalt K. gehabt. Nach § 30 Abs. 3 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt an dem Ort‚ wo er sich unter Umständen aufhält‚ die erkennen lassen‚ dass er an diesem Ort und in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts bestimmt sich nicht nach dem inneren Willen des Betroffenen, sondern setzt eine Prognose voraus, die alle in Betracht kommenden Umstände berücksichtigt (BVerwG‚ U. v. 4.6.1997 – 1 C 25/96 – juris Rn. 16 m. w. N.). Daher können auch ein Zwangsaufenthalt und ein Aufenthalt in einer Haftanstalt einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen‚ da es grundsätzlich nicht darauf ankommt‚ ob dieser freiwillig genommen worden ist. Es ist insoweit eine Einzelfrage‚ ob bei der Verbüßung einer Freiheitsstrafe der Haftort den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts darstellt. Der tatsächliche Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt stellt zwar ein gewichtiges Indiz für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts dar‚ zu berücksichtigen ist jedoch auch‚ ob die Inhaftierung zwangsläufig mit der Aufgabe des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsorts verbunden ist (OVG NRW‚ U. v. 15.12.2015 – 12 A 2645/14 – juris Rn. 50 m. w. N.). Vor seiner Inhaftierung hat der Kläger im Stadtgebiet der Beklagten bei seiner damaligen Lebensgefährtin gewohnt. Die Abmeldung durch die Polizeiinspektion A. erfolgte zum 1. Mai 2014 mit seinem Haftantritt. Vorliegend hat der Kläger eine kurze Freiheitsstrafe angetreten und damit nur vorübergehend seinen tatsächlichen Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt genommen. Bei Haftantritt bekannte Anhaltspunkte dafür‚ dass der Kläger nach Haftentlassung nicht wieder in seine ursprüngliche Wohnung im Stadtgebiet der Beklagten zurückkehren wollte‚ waren nicht ersichtlich. Eine Verfestigung der Lebensverhältnisse am Haftort war nicht absehbar. Da der Kläger vor seiner Inhaftierung bei seiner Lebensgefährtin gewohnt hat‚ war mit seiner Inhaftierung nicht die Aufgabe seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verbunden. Vielmehr plante er von Anfang an, wieder zu ihr zurückzukehren. Die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin bestand auch während der Haft fort.
Dieses Ergebnis entspricht auch der Wertung des bayerischen Landesgesetzgebers in § 5 Abs. 3 Nr. 1 ZustVAuslR, wonach die örtliche Zuständigkeit der jeweiligen Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 1 ZustVAuslR fortbesteht, solange sich der Ausländer auf richterliche Anordnung in Haft befindet. Die Vorschrift des § 5 ZustVAuslR regelt die örtliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde, während § 61 AufenthG materielle Bestimmungen zur räumlichen Beschränkung des Aufenthalts und keine Zuständigkeitsregelung enthält. Allerdings gewinnen über die Regelung in § 5 Abs. 1 Satz 2 ZustVAuslR auch die bundesrechtlichen materiell-rechtlichen Vorschriften zur Wohnsitzauflage Bedeutung für die Bestimmung der nach Landesrecht örtlich zuständigen Ausländerbehörde.
Nicht mehr entscheidungserheblich ist daher‚ ob die Zuständigkeit der Beklagten nach § 5 Abs. 1 Satz 2 ZustVAuslR allein schon deshalb bestand‚ weil die Regierung von Schwaben den Kläger mit Zuweisungsbescheid vom 28. Juli 2010 der Beklagten zugewiesen hatte‚ und ob diese Zuweisungsentscheidung noch wirksam ist.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1‚ § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

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