Aktenzeichen M 4 K 15.1547
GG Art. 6
Leitsatz
1. Der Schutz der Strafgewalt deutscher Gerichte als Schutzgut der Strafvereitelung berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft. (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine hohe Rückfallgeschwindigkeit spricht, zusammen mit einer nicht therapierten Alkoholerkrankung, bei einem verurteilten Straftäter, der bei einem Großteil seiner Straftaten alkoholisiert war, für eine deutliche Wiederholungsgefahr, (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Das Verfahren konnte gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO- ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Parteien hierfür ihr Einverständnis gegeben haben.
Die zulässige Klage ist unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. Satz 1 VwGO).
I.
Die Feststellung, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ist rechtmäßig im Sinne von § 6 FreizügG/EU. Maßgeblicher Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BayVGH B. v. 10.10.2013 – 10 ZB 11.607 – juris; BVerwG U. v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris).
Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt unbeschadet des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden; die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt gemäß § 6 Abs. 2 FreizügG/EU für sich allein dafür nicht. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (vgl. BayVGH B. v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 -; B. v. 10.10.2013 – 10 ZB 11.607 – juris).
1. Auf den höheren Schutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU kann sich der Kläger nicht berufen.
Nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach Absatz 1 bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden.
Die Voraussetzung eines zehnjährigen Aufenthalts erfüllt der Kläger vorliegend jedoch nicht. Selbst wenn man zu seinen Gunsten davon ausginge, dass er die Bundesrepublik Deutschland nach seiner Wiedereinreise im Jahr 2007 nicht mehr verlassen hätte, wurde sein Aufenthalt durch die Auslieferung nach Polen im Februar 2016 noch vor Ablauf der Zehnjahresfrist beendet.
2. Auch auf den höheren Schutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU kann sich der Kläger nicht berufen.
Nach § 6 Abs. 4 AufenthG können Feststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nach dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU steht einem Unionsbürger das Recht auf Einreise und Aufenthalt unabhängig von den Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU zu (Daueraufenthaltsrecht), wenn er sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Dies bedeutet, dass der Unionsbürger während eines zusammenhängenden Zeitraums von fünf Jahren freizügigkeitsberechtigt gewesen sein muss (BVerwG, U. v. 31.5.2012 – 10 C 8/12 – NVwZ-RR 2012, 821). Vorliegend fehlt es jedoch an einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers.
Der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des 2007 wieder in die Bundesrepublik eingereisten Klägers steht zum einen die Verlustfeststellung aus dem Jahr 2010 entgegen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, D1, § 4a Rn. 17). Zum anderen hat der Kläger auch unabhängig hiervon die Voraussetzungen von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU nicht für einen Zeitraum von fünf Jahren erfüllt. Der Verlustfeststellung vom … Februar 2010 ist zu entnehmen, dass der Kläger seit dem … September 2009 Leistungen nach dem SGB II bezog und keine Bemühungen zeigte, sich um eine Arbeitsstelle zu kümmern. In seinem Urteil vom … Dezember 2011 stellte das Amtsgericht … fest, dass der Kläger bei seinem Bruder in Polen in einem Autogeschäft arbeite. Das Amtsgericht … stellte in seinem Urteil vom … Oktober 2012 fest, dass der Kläger seit einer Woche in einem Probearbeitsverhältnis als Küchenhelfer arbeite. Ab dem … März 2014 befand sich der Kläger in der Bundesrepublik in Haft, ab Februar 2016 in Polen. Der Kläger war daher nicht in einem zusammenhängenden Fünfjahreszeitraum freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 2 Abs. 2 FreizügG.
3. Die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt erweist sich vorliegend als rechtmäßig, da eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, vgl. § 6 Abs. 1, Abs. 2 FreizügG/EU.
Der Kläger ist in der Bundesrepublik wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Schwelle von leichten Delikten (Ziff. 6.2.2.1.2 VV-FreizügG/EU) hat der Kläger vorliegend deutlich überschritten. Der Kläger wurde allein seit dem Jahr 2010 drei Mal wegen Diebstahls verurteilt. Der hier jeweils angerichtete Schaden bewegte sich auch nicht mehr im geringfügigen Bereich. Zudem wurde der Kläger zuletzt wegen versuchter Strafvereitelung – unter Einbeziehung des Urteils vom … Oktober 2012 – zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Das Gericht sieht vorliegend auch keinen Anlass, an der inhaltlichen Richtigkeit der rechtskräftigen Verurteilung durch das Strafgericht zu zweifeln. Die Tatsache, dass der BGH das sich auf die Grundtat beziehende Urteil mittlerweile aufgehoben hat (Az. 1 StR 735/13) und bezüglich des Klägers nunmehr eine versuchte Strafvereitelung hinsichtlich einer schweren Körperverletzung (statt versuchten Mordes) im Raum stünde, ändert an der versuchten Strafvereitelung nichts. Der Schutz der Strafgewalt deutscher Gerichte als Schutzgut der Strafvereitelung (Fischer, StGB, § 258 Rn. 2) berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft.
Es besteht auch eine deutliche Wiederholungsgefahr. Dafür spricht zum einen die bisherige Rückfallgeschwindigkeit des Klägers, der sich durch seine wiederholten Verurteilungen nicht hat beeindrucken lassen. Dafür spricht zum anderen, dass der Kläger beim Großteil seiner Straftaten alkoholisiert war. Die beim Kläger vorliegende – offensichtliche massive – Alkoholerkrankung ist jedoch nicht therapiert (vgl. hierzu BayVGH, B. v. 15.12.2015 – 10 ZB 13.2665 – juris Rn. 8). Es ist daher mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger bei einem Verbleib bzw. einer Wiedereinreise in das Bundesgebiet erneut massiv straffällig würde.
4. Die Beklagte hat die persönlichen Interessen des Klägers ausreichend berücksichtigt und zutreffend gewichtet. Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich daraufhin überprüfen, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden.
Nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Verlustfeststellung insbesondere Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Daneben spielen die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bedrohten Rechtsguts, sowie die Entwicklung und die Lebensumstände des Klägers eine wichtige Rolle (vgl. BayVGH B. v. 23.11.2010 – 19 ZB 10.584 – juris). In dem streitgegenständlichen Bescheid hat die Beklagte alle für den Kläger maßgeblichen Umstände berücksichtigt und sich auch mit den Schutzgütern des Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention -EMRK- und des Art. 6 GG auseinandergesetzt. Insbesondere hat die Beklagte zutreffend gewürdigt, dass ein Verlöbnis nicht von der Ausstrahlungswirkung des Art. 6 GG erfasst ist.
5. Auch die bereits im Jahr 2010 erfolgte Verlustfeststellung steht der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids nicht entgegen. Die nach alter Rechtslage ergangene Verlustfeststellung vom … Februar 2010 ist von der Ausländerbehörde von Amts wegen nachträglich zu befristen (BVerwG, U. v. 25.3.2015 – 1 C 18.4 – ZAR 2015, 190). Das Gericht sieht in der erneuten Verlustfeststellung vom … März 2015 daher eine konkludente Befristung der Verlustfeststellung aus dem Jahr 2010 auf den … März 2015.
Selbst wenn man davon ausginge, dass keine konkludente Befristung vorliegt und die (unbefristete) Verlustfeststellung aus dem Jahr 2010 deshalb noch fortwirkt, wäre der streitgegenständliche Bescheid jedoch zumindest als Ausweisung rechtmäßig. Zwar hätte der Kläger dann sein Recht auf Einreise und Aufenthalt bereits verloren. Jedoch lägen jedenfalls die Voraussetzungen der sodann einschlägigen Ausweisung gemäß §§ 53 ff. AufenthG, § 11 Abs. 2 FreizügG/EU vor (vgl. Art. 47 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz -BayVwVfG-).
II.
Die in Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides verfügte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Die festgesetzte Frist von fünf Jahren erscheint jedenfalls angemessen, um dem beim Kläger bestehenden hohen Gefahrenpotential Rechnung zu tragen.
III.
Daher war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung -ZPO-.
IV.
Gründe für die Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO liegen nicht vor.