Aktenzeichen M 25 K 18.1917
Leitsatz
1 Den erhöhten Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG, welcher Art. 12 DauerAufRL umsetzt, hat ein langfristig Aufenthaltsberechtigter nur in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Berechtigung erworben hat. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr von Straftaten sind unter anderem der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Der Kläger hat zudem keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und ist daher durch die Ablehnung des Antrags vom 10. April 2018 nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Das dreijährige Einreise- und Aufenthaltsverbot ist ebenfalls rechtmäßig ergangen (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
I. Die Ausweisung des Klägers erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12) als rechtmäßig.
1. Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG, wonach ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen wird, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen am weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Der Kläger kommt nicht in den Genuss des erhöhten Ausweisungsschutzes gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG, der Art. 12 DauerAufRL umsetzt. Nach § 53 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer, der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU besitzt, nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
§ 53 Abs. 3 AufenthG erfasst aber nur die Personengruppe, die im nationalen Recht von § 9a AufenthG erfasst wird, nicht jedoch die von § 38a AufenthG erfassten Ausländer, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union eine langfristige Aufenthaltsberechtigung nach Maßgabe der DauerAufRL erworben haben und nach Deutschland weiter gewandert sind (VG Darmstadt, B.v. 14.11.2013 – 5 L 604/13.A, Beichel-Benedetti in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 53 Rn. 25 f., Bauer in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 53 Rn. 65). Den erhöhten Ausweisungsschutz nach Art. 12 DauerAufRL hat der langfristig Aufenthaltsberechtigte nur in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Berechtigung erworben hat (VG Darmstadt, B.v. 14.11.2103, a.a.O.). Dies ergibt sich aus dem Fehlen einer Art. 12 DauerAufRL vergleichbaren Regelung im Abschnitt über die aus dem Daueraufenthaltsrecht des ersten Staates abgeleitete Aufenthaltsposition im zweiten Mitgliedstaat (Kapitel III, Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten, Art. 14 bis 23 DauerAufRL).
Der im Hinblick auf Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis für in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union langfristig Aufenthaltsberechtigte gemäß § 38a AufenthG besitzen, bei der Ausweisung anzulegende Maßstab ergibt sich aus Art. 17 DauerAufRL.
Nach Art. 17 Abs. 1 DauerAufRL darf der zweite Mitgliedstaat dem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt versagen, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt. Der Mitgliedstaat muss bei seiner Entscheidung die Schwere oder die Art des von dem langfristig Aufenthaltsberechtigten begangenen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit bzw. die von der betreffenden Person ausgehende Gefahr berücksichtigen, wobei wirtschaftliche Gründe keine Rolle spielen dürfen (Art. 17 DauerAufRL). Nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. a) DauerAufRL darf der zweite Mitgliedstaat die Verlängerung des Aufenthaltstitels versagen oder den Aufenthaltstitel entziehen, wenn Gründe der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 17 DauerAufRL vorliegen.
a.) Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 AufenthG und des Art. 22 Abs. 1 Buchst. a) i.V.m. Art. 17 Abs. 1 DauerAufRL sind vorliegend erfüllt. Der Kläger stellt weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit dar.
Denn von ihm geht eine Wiederholungsgefahr aus. Bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. zum Prognosemaßstab BVerwG, Urteil vom 15.1.2013 – 1 C10.12 – juris). Bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr von Straftaten sind unter anderem der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen.
Der Kläger hat seit seiner Einreise im Mai 2013 innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl von Verkehrsdelikten begangen. Er hat seit seiner Einreise im Jahr 2013 innerhalb von 3 Jahren so viele Punkte nach dem in § 4 StVG geregelten Fahreignungs-Bewertungssystem gesammelt, dass ihm bereits Ende 2016 die Berechtigung, von seiner kosovarischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, aberkannt wurde.
Bei genauer Betrachtung der einzelnen Taten fällt auf, dass sie überwiegend in einem engen Zeitkorridor begangen wurden, so z.B. die Taten vom 3. März 2015, 5. April 2015 und 10. April 2015 innerhalb nur weniger Tage, die Taten vom 24. Februar 2016, 8. März 2016, 1. Juli 2016 und 14. Juli 2016 ebenfalls innerhalb nur weniger Tage bzw. Wochen.
Den Kläger haben weder Bußgeldbescheide, noch strafgerichtliche Verurteilungen, noch die in § 4 StVG vorgesehene Ermahnung bei 3 Punkten, noch die bei 6 Punkten vorgesehene Verwarnung bewogen, sein Verhalten zu ändern, und sich an die Verkehrsregeln zu halten.
Dieser Umstand wiegt um so schwerer, als der Kläger in diesen Schreiben explizit auf den Verlust seiner Fahrerlaubnis bei Erreichen von 8 Punkten hingewiesen wurde, der Kläger aber laut eigenem Bekunden aus beruflichen Gründen auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist. Selbst der Aberkennungsbescheid der Fahrerlaubnis durch die Beklagte vom 23. November 2016 hat den Kläger nicht davon abgehalten, ein Fahrzeug zu führen und noch dazu Verkehrsdelikte zu begehen. Am 9. Mai 2017 ist er erneut wegen eines erheblichen Geschwindigkeitsverstoßes aufgefallen. Dies zeigt, dass dem Kläger die Regelungen im Straßenverkehr gleichgültig sind.
Dabei handelt es sich bei den Verstößen nicht um geringfügige Verstöße. Die Straßenverkehrsregeln dienen nicht nur der Leichtigkeit des Verkehrs, sondern insbesondere auch der Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer. Der Kläger hat vor allem mit den erheblichen Geschwindigkeitsverstößen innerorts von 26 km/h bzw. 40 km/h über der zulässigen Geschwindigkeit und außerorts von 26 km/h und 60 km/h über der zulässigen Geschwindigkeit die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer erheblich gefährdet. Die in diesen Fällen vorgesehene Punktebewehrung zeigt, dass es sich um sicherheitsrelevante Verstöße handelt. Da es sich vermutlich überwiegend um beruflich veranlasste Fahrten gehandelt hat, stellte der Kläger sein eigenes Fortkommen über die Interessen und das Sicherheitsbedürfnis der übrigen Verkehrsteilnehmer.
Auch die Folgen eines Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz können erheblich sein. Denn im Schadensfall bleiben die Unfallgegner auf ihren Kosten sitzen.
Der sich im Verhalten des Klägers widerspiegelnde egozentrische Charakterzug spricht für eine Wiederholungsgefahr.
Die Einlassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung, er habe jetzt eine Arbeit als angestellter Polier und werde vom unternehmenseigenen Bus zu den Baustellen gefahren bzw. benutze die öffentlichen Verkehrsmittel, lässt die Wiederholungsgefahr nicht entfallen.
Zum einen dürften die Fahrten, die in der Nacht stattfanden, nicht aus beruflichen Gründen erfolgt sein, was zeigt, dass der Kläger auch privat auf die Einhaltung der Verkehrsregeln keinen Wert gelegt hat.
Zum anderen geht die gesetzliche Wertung des § 4 Abs. 10 S. 4 StVG von einer Wiederholungsgefahr aus. Ein Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis darf frühestens nach 6 Monaten nach der Entziehung gestellt werden. Der Gesetzgeber hat zudem die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis im Falle eines Verlusts der Fahrerlaubnis bei Erreichen von 8 Punkten regelmäßig von einer positiven medizinisch-psychologischen Untersuchung abhängig gemacht. Durch diese soll festgestellt werden, ob der Kläger sich zukünftig an die Verkehrsregeln hält. Solange ein positives Eignungsgutachten nicht vorgelegt wurde, besteht eine Wiederholungsgefahr.
b.) Die Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (§ 53 Abs. 1 AufenthG), dass das öffentliche Interesse überwiegt.
Bei der Abwägung ist die in Art. 17 Abs. 1 DauerAufRL angeführte Schwere der Tat und die Art des von dem langfristig Aufenthaltsberechtigten begangenen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.
Es liegt ein schweres Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor. Der Kläger hat nicht nur einen vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen. Geringfügigkeit wird in der Praxis angenommen bei einer Verurteilung wegen einer fahrlässigen Tat von bis zu 30 Tagessätzen, der Einstellung des Strafverfahrens nach § 153a StPO mit einer Auflage bis zu 500 EUR und einem Bußgeld bis zu 500 EUR (vgl. Tanneberger in BeckOK Ausländerrecht, 18. Auflage, zu § 54 AufenthG, Rdn. 118). Vorliegend wurde der Kläger mit Strafbefehl vom 1. März 2016 zu 60 Tagessätzen, mit Strafbefehl vom 11. Januar 2017 zu 40 Tagessätzen und mit Urteil vom 26. März 2018 zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Geldbuße im Bußgeldbescheid vom 19. Mai 2016 beträgt 880 EUR. Der Tatbestand des schweren Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist damit erfüllt.
Ein Bleibeinteresse des Klägers nach § 55 AufenthG liegt nicht vor. Insbesondere lebt die Familie des Klägers im Kosovo.
Auch die bei der Abwägung zu berücksichtigenden Umstände des Einzelfalles gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG führen zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers überwiegt. Der Kläger hat gerade ein neues Arbeitsverhältnis als Polier aufgenommen, in dem er sich in der Probezeit befindet. Seine beiden Firmen hat er aus wirtschaftlichen Gründen aufgelöst. Seine wirtschaftlichen Bindungen in der Bundesrepublik sind damit nicht verfestigt. Seine Ehefrau und seine beiden Kinder leben nach wie vor im Kosovo. Sonstige Bindungen des Klägers im Bundesgebiet sind nicht ersichtlich. Beim Kläger handelt es sich um einen gesunden, erwachsenen Mann, der in Italien über ein langfristiges Aufenthaltsrecht verfügt und die dortige Landessprache spricht. Der Kläger hat nach eigenen Angaben vor seiner Einreise nach Deutschland 10 Jahre in Italien gelebt und gearbeitet. Allein die dortige Wirtschaftskrise hat den Kläger bewogen, nach Deutschland zu gehen. Es ist dem Kläger daher möglich und zumutbar, nach Italien zurückzugehen.
2. Auch die in Ziff. 2 des Bescheides erlassene Ablehnung des Aufenthaltstitels ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels. Einer Erteilung steht nach erfolgter Ausweisung die Regelung des § 11 Abs. 1 AufenthG entgegen.
3. Auch die Abschiebungsandrohung nach Italien in Nr. 3 des Bescheides ist rechtmäßig. Die Beklagte hat dem Kläger rechtmäßig (nur) die Abschiebung in den ersten Mitgliedstaat, in dem er langfristig aufenthaltsberechtigt ist, angedroht, § 59 Abs. 2 AufenthG.
Art. 22 DauerAufRL unterscheidet zwischen Rückführung und Rückübernahme. Unter Rückübernahme versteht die Daueraufenthaltsrichtlinie die Gestattung der Wiedereinreise in den ersten Mitgliedstaat. Rückführung ist demgegenüber die Entscheidung, dass der Drittstaatsangehörige das Gebiet der Union verlassen muss.
Vorliegend hat die Beklagte als Zielstaat der Abschiebungsandrohung den ersten Mitgliedstaat benannt. Dies ist unter den hier gegebenen Voraussetzungen von Art. 22 Abs. 1 Buchst. a) i.V.m. Art. 17 Abs. 1 DauerAufRL möglich. Der erste Mitgliedstaat ist in diesem Fall verpflichtet, den langfristig Aufenthaltsberechtigten unverzüglich und ohne Formalitäten zurückzunehmen (Art. 22 Abs. 2 Satz 1 DauerAufRL).
4. Auch die nach Ermessen zu treffende Befristungsentscheidung in Nr. 4 des Bescheides begegnet keinen rechtlichen Bedenken (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Ermessensfehler der Beklagten sind nicht ersichtlich.
II. Die Klage ist nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 111 ZPO.