Aktenzeichen W 2 K 16.50065
MuSchG MuSchG § 3 Abs. 2, § 6 Abs. 1
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 17
Leitsatz
Die Bestimmungen über Mutterschutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz können sinngemäß für die Frage der Durchführbarkeit von Abschiebungen vor und nach einer Entbindung herangezogen werden. (redaktioneller Leitsatz)
Die gesetzlichen Wertungen der Beschäftigungsverbote von § 3 Abs. 2 MuSchG (sechs Wochen vor der Entbindung) und des § 6 Abs. 1 MuSchG (in der Regel bis acht Wochen nach der Entbindung) ziehen auch der Durchführbarkeit von Abschiebungen zeitliche Grenzen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Ziffer 2) des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. Februar 2016 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Gründe
Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet.
Gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab.
Zu diesem Zeitpunkt ist Ziffer 2 des Bescheides vom 5. Februar 2016 rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Im Fall der Kläger steht dem jedoch ein temporäres Abschiebungshindernis aus gesundheitlichen Gründen entgegen. Zwar lässt sich dies nicht auf die inzwischen vollständig ausgeheilte Hepatitis-Infektion der Kläger zu 3) und 4) stützen. Um Wiederholungen zu vermeiden wird insofern auf den Beschluss des Gerichtes vom 13. April 2016 im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (W 2 S 16.50066) verwiesen. Jedoch geht das Gericht aufgrund des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten ärztlichen Attests vom 9. Juni 2016 davon aus, dass bei der Kläger zu 2) ein Risikoschwangerschaft vorliegt und bei einer Reise zum jetzigen Zeitpunkt eine konkrete und ernsthafte Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Mutter oder des ungeborenen Kindes nicht ausgeschlossen werden können. Zwar geht das Attest nicht auf mögliche Folgen einer Abschiebung ein, sondern stellt lediglich fest, dass für die Klägerin zu 2) wegen vorzeitiger Wehen und einer leichten Öffnung des Muttermundes dringend Bettruhe einzuhalten und eine längere Fahrt auch mit Pausen nicht empfohlen werden könne. Da die Klägerin zu 2) sich jedoch mittlerweile in der 32. Schwangerschaftswoche und damit nur zwei Wochen vor dem Zeitraum befindet, der nach Wertung des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) selbst bei unkomplizierten Schwangerschaften zu einer besonderer Schutzbedürftigkeit führt, die sich in einem Beschäftigungsverbot niederschlägt, sind die Anforderungen, die an ein, die Reiseunfähigkeit bescheinigendes Attest zu stellen sind, keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Da das Attest vom 9. Juni 2016 konkret und plausibel die Schwangerschaftskomplikationen benennt, der es die ärztliche Bewertung einer „Risikoschwangerschaft“ zugrunde legt, geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin zu 2) derzeit aus gesundheitlichen Gründen nicht reisefähig ist. Im Hinblick auf Art. 1, 2 und 6 Grundgesetz ergibt sich aus dieser Reiseunfähigkeit ein Abschiebungshindernis für alle Kläger, das dazu führt, dass die Abschiebung jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt nicht durchgeführt werden kann. Das Gericht geht weiter davon aus, dass – unabhängig von eventuellen weiteren gesundheitlichen Komplikationen – die Bestimmungen über Mutterschutz-fristen nach dem Mutterschutzgesetz sinngemäß für die Frage der Durchführbarkeit von Abschiebungen vor und nach einer Entbindung herangezogen werden können. Die gesetzlichen Wertungen der Beschäftigungsverbote von § 3 Abs. 2 MuSchG (sechs Wochen vor der Entbindung) und des § 6 Abs. 1 MuSchG (in der Regel bis acht Wochen nach der Entbindung) ziehen auch der Durchführbarkeit von Abschiebungen zeitliche Grenzen. Bis zum Ende dieses für Mutter und Kind besonders sensiblen und schutzbedürftigen Zeitraums liegt jedenfalls ein Abschiebungshindernis vor, dass zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides führt. Unbeschadet der Frage, ob eine Abschiebungsanordnung wiedererlassen werden kann, wenn das aus Schwangerschaft und Entbindung resultierende Abschiebungshindernis zeitlich entfallen ist, ist die Abschiebungsanordnung zum jetzigen Zeitpunkt und für die nicht unbeachtliche Dauer von jedenfalls der nächsten ca. 16 Wochen rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Sie war deshalb für alle Kläger aufzuheben.
Nicht begründet ist die Klage jedoch im Hinblick auf die Anfechtung von Ziff. 1) des Bescheides vom 5. Februar 2016, der die Asylanträge der Kläger wegen der Zuständigkeit Schwedens als unzulässig ablehnt. Gem. § 27a AslyG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Aufgrund des in Schweden anhängigen Asylverfahrens der Kläger ist Schweden, wie von den schwedischen Behörden im Schreiben vom 25. Januar 2016 ebenfalls bestätigt, gem. Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO für die Asylanträge der Kläger zuständig.
Eine vorrangige Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschlands gem. Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO kommt nicht in Betracht. Zwar sieht Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO u. a. vor, dass eine Antragstellerin, die wegen einer Schwangerschaft auf die Unterstützung eines Geschwisterteils angewiesen ist, in der Regel mit diesem zusammenzuführen ist, wenn das Geschwisterteil sich rechtmäßig in dem Mitgliedstaat aufhält. Jedoch ist die Klägerin zu 2) weder auf Unterstützung außerhalb ihrer Kernfamilie angewiesen, noch handelt es sich bei den in Deutschland befindlichen Angehörigen um ihre Geschwister.
Auch einen Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO aus humanitären Gründen hat das Bundesamt ermessensfehlerfrei abgelehnt. Abzustellen ist dabei gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Zwar können sich humanitäre Gründe gerade auch aus der gesundheitlichen Situation eines Antragstellers ergeben, jedoch liegen bei den Klägern keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor, die im Rahmen von Art. 17 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Dublin III-VO ermessensrelevant wären. Die schwangerschaftsbedingte Reiseunfähigkeit der Klägerin zu 2) ist lediglich temporär und führt gerade nicht zu einer dauerhafte Reiseunfähigkeit. Selbst wenn man das Vorliegen der schriftsätzlich behaupteten Asthma-Erkrankung des Klägers zu 4) unterstellen würde, wäre diese in Schweden ebenso gut behandelbar, wie in Deutschland. Auch aus dem Vortrag der Kläger zu 1) und 2) bei der Anhörung des Bundesamts am 19. Januar 2016, ihre Kinder seien krank, sie hätten Allergien und würden die Kälte in Schweden nicht vertragen, ergeben sich kein substantiierten Anhaltspunkte für einen Selbsteintritt der Bundesrepublik aus humanitären Gründen. Da es sich bei den Klägern um eine intakte Kernfamilie handelt, die jenseits dieser Bindung nicht auf die Unterstützung eines weiteren Familienverbands angewiesen ist, sind auch die geltend gemachten verwandtschaftlichen Beziehungen des Klägers zu 1) im Rahmen von Art. 17 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Dublin III-VO unbeachtlich. Das Bundesamt hat eine Zuständigkeitsbegründung gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO damit ermessensfehlerfrei abgelehnt. Es bleibt bei der durch das Dublin-Regime begründeten Zuständigkeit Schwedens, so dass Ziffer 2) des angefochtenen Bescheides rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt.
Auch bei der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots des § 11 AsylG sind Ermessensfehler weder vorgetragen, noch ersichtlich. Sie hat sich auch nicht deshalb erledigt, weil die Abschiebungsanordnung in Ziff. 2) aufgehoben wurde. Da der Aufhebung ein temporäres Abschiebungshindernis zugrunde liegt, gilt die Befristung für eine Abschiebung auf der Grundlage einer dann gegebenenfalls erneut zu erlassenden Abschiebungsanordnung fort.
Die Klage war insoweit abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO; § 83b AsylG.