Aktenzeichen 9 A 22/19
§ 1 Abs 1 S 1 Nr 6 UmwRG
§ 1 Abs 1 S 2 UmwRG
§ 2 Abs 1 S 1 UmwRG
§ 3 UmwRG
§ 17 Abs 1 FStrG
§ 17e FStrG
§ 48 Abs 1 S 1 VwVfG
§ 49 Abs 2 S 1 Nr 5 VwVfG
§ 51 Abs 5 VwVfG
§ 72 Abs 1 VwVfG
§ 75 Abs 1a S 2 VwVfG
§ 75 Abs 2 VwVfG
Art 4 Abs 1 EGRL 60/2000
§ 19 Abs 1 WHG 2009
§ 19 Abs 4 WHG 2009
Leitsatz
1. Eine anerkannte Umweltvereinigung ist nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz klagebefugt für eine Klage auf Rücknahme oder Widerruf eines bestandskräftigen Planfeststellungsbeschlusses.
2. Die präjudizielle Wirkung der Rechtskraft eines Urteils, mit dem die Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss als unbegründet abgewiesen worden ist, steht einem Anspruch auf Rücknahme dieses Planfeststellungsbeschlusses entgegen.
3. Die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Planfeststellungsbeschlusses, der ohne die erforderliche Prüfung der Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem wasserrechtlichen Verschlechterungsverbot erlassen worden ist, führt nicht zu einem unionsrechtlich unerträglichen Zustand. Die flexiblen Instrumente des Wasserrechts sind grundsätzlich geeignet und ausreichend, um die unionsrechtlichen Anforderungen der Wasserrahmenrichtlinie zu erfüllen.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1
Der Kläger, eine nach § 3 UmwRG anerkannte Umweltvereinigung, begehrt die Außervollzugsetzung eines bestandskräftigen straßenrechtlichen Planfeststellungsbeschlusses.
2
Streitgegenstand ist der Planfeststellungsbeschluss für den Neubau der Bundesautobahn A 49 Kassel – A 5, Teilabschnitt zwischen Stadtallendorf und Gemünden/Felda (VKE 40) vom 30. Mai 2012. Das Vorhaben ist Teil des Neubaus der A 49, die Kassel mit Gießen verbinden soll. Die nördlichen Abschnitte bis Neuental sind bereits fertiggestellt und unter Verkehr, der daran anschließende Abschnitt befindet sich im Bau. Die beiden letzten Planungsabschnitte sollen im Rahmen eines ÖPP-Projekts (Öffentlich-private Partnerschaft) realisiert werden. Der streitgegenständliche Planfeststellungsbeschluss betrifft den südlichen Abschnitt mit dem Anschluss an die A 5. Dieser 17,45 km lange Streckenteil ist im aktuellen Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen als Teil des 4-streifigen Neubaus mit der Dringlichkeitsstufe “laufend und fest disponiert” aufgeführt. Er gehört als Teil der (geplanten) A 49 zum Gesamtnetz des transeuropäischen Verkehrsnetzes.
3
Gegen den Planfeststellungsbeschluss vom 30. Mai 2012 erhob der Kläger zusammen mit einer weiteren Umweltvereinigung Klage, die der Senat mit Urteil vom 23. April 2014 – 9 A 25.12 – (BVerwGE 149, 289) als unbegründet abwies.
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Mit Schreiben vom 12. September 2019 beantragte der Kläger beim Beklagten, den Planfeststellungsbeschluss vom 30. Mai 2012 zurückzunehmen oder hilfsweise zu widerrufen, hilfsweise ein ergänzendes Verfahren mit Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit zur Fehlerheilung durchzuführen und bis zum Abschluss des ergänzenden Verfahrens die Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses zu untersagen. Zur Begründung machte er geltend, der Planfeststellungsbeschluss sei rechtswidrig, weil er gegen formelle Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie und der UVP-Richtlinie verstoße, weshalb auch materielle Fehler wahrscheinlich seien. Das Unionsrecht gebiete ein Einschreiten, um eine Perpetuierung unionsrechtswidriger Zustände zu verhindern.
5
Nach Anhörung der Vorhabenträgerin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 30. September 2019 alle Anträge des Klägers ab: Der Planfeststellungsbeschluss sei rechtmäßig; die für eine Prüfung der wasserwirtschaftlichen Auswirkungen erforderlichen Informationen seien in den Planunterlagen enthalten. Selbst bei Unterstellung einer Rechtswidrigkeit komme eine Rücknahmeentscheidung nicht in Betracht. Es liege keine Ermessensreduzierung auf Null vor. Der Kläger habe die aus seiner Sicht bestehende formelle Rechtswidrigkeit weder im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht noch in den Jahren danach vorgebracht, obwohl ihm die Thematik und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bekannt gewesen seien. Die Fortgeltung des bestandskräftigen Planfeststellungsbeschlusses sei nicht schlechthin unerträglich. Der Planfeststellungsbeschluss biete hinreichende Instrumente, um eine nachträgliche Anpassung an rechtliche Anforderungen, z.B. aus dem Wasserrecht, zu gewährleisten. Hinsichtlich der losgelöst davon zu bewertenden wasserrechtlichen Erlaubnisse seien zudem jederzeit nachträgliche korrigierende Maßnahmen möglich. Konkrete Anhaltspunkte für das Erfordernis eines Einschreitens enthalte der Antrag nicht. Vor diesem Hintergrund falle eine Ermessensausübung zulasten der beantragten Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses aus. Die Vorhabenträgerin habe im Vertrauen auf die Bestandskraft des Planfeststellungsbeschlusses umfangreiche Vorbereitungen zur Realisierung des im Allgemeinwohl stehenden Vorhabens veranlasst und Investitionen getätigt. Durch seine Untätigkeit nach Ergehen des Urteils vom 23. April 2014 habe der Kläger dieses Vertrauen bestärkt.
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Mit seiner am 1. November 2019 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Nachdem er zunächst die vollständige Rücknahme bzw. den vollständigen Widerruf des Planfeststellungsbeschlusses erreichen wollte, begehrt er zuletzt nur noch, dass der Beklagte den Planfeststellungsbeschluss vom 30. Mai 2012 außer Vollzug setzt, bis ein ergänzendes Verfahren zur Fehlerheilung durchgeführt worden ist.
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Zur Begründung macht er geltend: Er sei als anerkannte Umweltvereinigung klagebefugt, weil der Beklagte Überwachungs- oder Aufsichtsmaßnahmen zur Umsetzung oder Durchführung des bestehenden Planfeststellungsbeschlusses unterlasse, die der Einhaltung umweltbezogener Rechtsvorschriften dienten. Die Rechtskraft des Urteils im Verfahren 9 A 25.12 betreffe einen anderen Streitgegenstand und stehe der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen. Der Planfeststellungsbeschluss vom 30. Mai 2012 sei formell rechtswidrig, denn er enthalte keine gewässerbezogene Prüfung nach Art. 4 Abs. 1 WRRL, die von der Behörde selbst vorgenommen und dokumentiert sowie nach Art. 6 UVP-RL öffentlich ausgelegt worden sei. Zudem seien materielle Verstöße gegen das wasserrechtliche Verschlechterungsverbot und Verbesserungsgebot wahrscheinlich. Die Rechtswidrigkeit habe schon bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses bestanden. Ihr stehe die Rechtskraft des Urteils im Verfahren 9 A 25.12 nicht entgegen, weil das Bundesverwaltungsgericht damals eine Verletzung des Art. 4 WRRL und der §§ 27, 28 und 47 WHG nicht geprüft habe. Jedenfalls sei eine Durchbrechung der Rechtskraft zur Wahrung des Effektivitätsgrundsatzes des Unionsrechts geboten. Die Verstöße gegen das Europarecht reduzierten das Ermessen des Beklagten dahingehend, dass der Planfeststellungsbeschluss zurückzunehmen sei. Art. 4 Abs. 1 WRRL beanspruche eine uneingeschränkte Geltung. Deshalb müsse bei einem planfestgestellten, aber noch nicht umgesetzten Vorhaben die Durchführung verhindert werden, wenn diese gegen Art. 4 Abs. 1 WRRL verstoße. Insoweit seien die vom Europäischen Gerichtshof für das Gebietsrecht formulierten Vorgaben übertragbar. Bei Verneinung einer Rechtswidrigkeit des Planfeststellungsbeschlusses im Erlasszeitpunkt wäre dieser jedenfalls wegen nachträglicher Rechtsänderung zu widerrufen, möglich sei auch ein Widerruf nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG. Jedenfalls müsse der Planfeststellungsbeschluss außer Vollzug gesetzt werden, um ein ergänzendes Verfahren durchzuführen, in dem die Anforderungen des Art. 4 Abs. 1 WRRL geprüft und die Defizite bei der Öffentlichkeitsbeteiligung ausgeräumt würden. Die Aufrechterhaltung bzw. Umsetzung des Planfeststellungsbeschlusses wäre ein schlechthin unerträglicher Verstoß gegen das Europarecht.
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Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 30. September 2019 zu verpflichten, die Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses vom 30. Mai 2012 für den Neubau der Bundesautobahn A 49, Teilabschnitt zwischen Stadtallendorf und Gemünden/Felda, auszusetzen, bis ein ergänzendes Verfahren mit Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit zur Fehlerheilung abgeschlossen ist.
9
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Er hält die Klage für unzulässig, jedenfalls für unbegründet: Der Kläger sei nicht klagebefugt im Sinne des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes; zudem stehe die Rechtskraft des Urteils vom 23. April 2014 der Klage entgegen. Der Planfeststellungsbeschluss sei auch nicht rechtswidrig. Die im Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 1. Juli 2015 genannten Anforderungen, die das Bundesverwaltungsgericht übernommen habe, hätten als neue inhaltliche Prüfungsanforderungen keine Geltung für Planfeststellungsbeschlüsse, die vor dem 1. Juli 2015 erlassen worden seien. Die Prüfung der wasserrechtlichen Anforderungen sei im Übrigen nicht defizitär gewesen. Die wasserrechtlichen Erlaubnisse enthielten umfangreiche Nebenbestimmungen und könnten zudem kraft Gesetzes angepasst werden. Selbst bei Unterstellung einer Rechtswidrigkeit des Planfeststellungsbeschlusses sei das Rücknahmeermessen nicht auf Null reduziert. Dies gelte auch für ein etwaiges Widerrufsermessen. Konkrete Beeinträchtigungen mache der Kläger nicht geltend. Etwaige wasserrechtliche Defizite ließen sich auch ohne Aufhebung der bestandskräftigen Zulassungsentscheidung beheben. Der Kläger habe nach dem damaligen Urteil keine Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen des Vorhabens auf die Gewässerqualität geäußert und keine Nachbesserungen verlangt. Zu berücksichtigen sei auch das schutzwürdige Vertrauen der Vorhabenträgerin, die bereits mehr als 27 Millionen Euro in die Ausführung des Planfeststellungsbeschlusses investiert und mit seiner Durchführung begonnen habe. Die Umsetzung des planfestgestellten Vorhabens liege zudem im öffentlichen Interesse. Das Vorhaben habe ein hohes verkehrspolitisches Gewicht, das sich gegenüber den nicht spezifizierten wasserrechtlichen Bedenken des Klägers durchsetze. Dem Anspruch auf Durchführung eines ergänzenden Verfahrens stehe die Rechtskraft des Urteils vom 23. April 2014 entgegen. Mit dem Planfeststellungsbeschluss sei kein “unerträgliches” unionsrechtliches Defizit in Hinblick auf die Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie verbunden.