Europarecht

Sanktionen wegen unzureichenden Eigenbemühungen um eine neue Beschäftigung

Aktenzeichen  S 46 AS 536/18

Datum:
31.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2938
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 15 Abs. 2, § 31 Abs. 1, § 31b Abs. 1, § 40 Abs. 3

 

Leitsatz

Bei einer Sanktion nach § 31 SGB II sind Härtefall und Wohlverhalten nach den Vorgaben des BVerfG im Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16, nicht zu prüfen, wenn der Sanktionszeitraum vor dem 05.11.2019 abgelaufen ist. (Rn. 16)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 19. Februar 2018 Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2018 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie ist aber unbegründet, weil der strittige Sanktionsbescheid dem Gesetz entspricht und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist.
Statthaft ist die reine Anfechtungsklage auf Aufhebung der Sanktion nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 Sozialgerichtsgesetz (BSG, Urteil vom 23.06.2016, B 14 AS 30/15 R, Juris Rn. 10). Bei einer Sanktion, die auf einem Pflichtverstoß gegen eine Eingliederungsvereinbarung nach § 15 Abs. 2 SGB II beruht, erfolgt eine Inzidenzprüfung dieser Eingliederungsvereinbarung als öffentlich-rechtlicher Vertrag gemäß §§ 53 ff SGB X (BSG, a.a.O., Rn. 15). Eine Eingliederungsvereinbarung wird lediglich auf Nichtigkeit gemäß § 58 SGB X überprüft. Nach § 58 Abs. 2 Nr. 2 SGB X führt eine sonstige Rechtswidrigkeit nur dann zu einer Nichtigkeit, wenn diese Rechtswidrigkeit beiden Vertragschließenden bekannt war.
a) Der Sanktionstatbestand nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II ist erfüllt, weil der Kläger sich weigerte, in der Eingliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen. In der Eingliederungsvereinbarung vom 13.11.2017 wurden acht Bewerbungen pro Monat vereinbart. Der Kläger hat keine einzige Bewerbung nachgewiesen. Die Bewerbungsbemühungen waren zentraler Bestandteil der vom Kläger unterzeichneten Eingliederungsvereinbarung, sodass eine nicht vorsätzlicher Pflichtenverstoß ausscheidet. Ein wichtiger Grund für die Nichterfüllung der Pflicht gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II liegt hier nicht vor. Soweit der Kläger vorträgt, dass er sich selber eine Arbeit suchen wolle, ist festzuhalten, dass dies genau der Inhalt der strittigen Pflicht war.
b) Die Sanktion beruht auf einer wirksamen Eingliederungsvereinbarung.
Anhaltspunkte für einen Formenmissbrauch gemäß § 58 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 134 BGB (vgl. dazu BSG, a.a.O., Rn. 18, wobei dort die Grenze zur gesetzlich nicht vorgesehenen umfassenden Rechtmäßigkeitsprüfung undeutlich bleibt) bestehen nicht. So nahm der Beklagte etwa darauf Rücksicht, dass der Kläger im Vorfeld der Vereinbarung darauf Wert legte, sich im September 2018 zunächst nur bei seinem ehemaligen Arbeitgeber zu bewerben.
Es besteht auch kein Verstoß gegen das Kopplungsverbot nach § 58 Abs. 2 Nr. 4 SGB X wegen Vereinbarung einer unzulässigen Gegenleistung nach § 55 SGB X. Den in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Bewerbungsbemühungen steht eine angemessene Gegenleistung im Sinn von § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB X gegenüber, weil der Beklagte dem Grunde nach die Übernahme der Kosten für angemessenen und nachgewiesenen Fahrten zu Vorstellungsgesprächen zugesagt hatte (BSG, a.a.O., Rn. 21 ff).
c) Beginn, Höhe und Dauer der Sanktion entsprechen § 31a Abs. 1 Satz 1 sowie § 31b Abs. 1 SGB II. Der Sanktionszeitraum von März, April und Mai 2018 folgt dem Sanktionsbescheid vom 19.02.2018 nach und die Sanktion in Höhe von 30% des Regelbedarfs des Klägers dauerte drei Monate. Weil die strittige Sanktion zusammen mit den beiden Sanktionen in Höhe von jeweils 10% des Regelbedarfs wegen den Meldeversäumnissen nach § 32 SGB II verhängt wurde, bestand nach § 31a Abs. 3 Satz 1 die Möglichkeit, auf Antrag ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erhalten. Diesen Antrag hat der Kläger trotz Hinweis auf diese Möglichkeit nicht gestellt.
d) Die strittige Sanktion ist auch nicht wegen der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Sanktionen herabzusetzen oder zu verkürzen. Härtefall und Wohlverhalten sind auch bei nicht bestandskräftigen Sanktionsbescheiden nicht zu prüfen, wenn der Sanktionszeitraum vor dem 05.11.2019 abgelaufen ist (ebenso Schiffendecker und Brehm, NZS 2020, Seiten 1 ff, 5; Greiser und Susnjar, NJW 2019, Seiten 3683 ff, 3685).
aa) Im Urteil vom 05.11.2019, 1 BvL 7/16, hat das BVerfG entschieden, dass § 31 Abs. 1 SGB II mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, soweit die Höhe der Leistungsminderung 30% des maßgeblichen Regelbedarfs übersteigt (Deckelung auf 30%). Weil vorliegend lediglich eine erstmalige Sanktion nach § 31 Abs. 1 SGB II in Höhe von 30% des Regelbedarfs strittig ist, kommt diese Beschränkung der Sanktionen hier nicht zum Tragen. Die zusätzlichen Sanktionen wegen Meldeversäumnissen zählen hier nicht mit.
bb) Das BVerfG hat weiter festgestellt, dass es mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, eine Sanktion nach § 31 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB II zwingend zu verhängen, wenn eine außergewöhnliche Härte vorliegt (Härtefall) oder die Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt wird oder die künftige Bereitschaft hierzu ernsthaft und nachhaltig erklärt wird (Wohlverhalten).
Im vorliegenden Fall kommt ein Härtefall in Betracht, weil der Kläger im strittigen Sanktionszeitraum auch zwei Sanktionen wegen Meldeversäumnissen hinnehmen musste. Dabei ist auch die später aufgehobene Sanktion zu berücksichtigen, weil diese erst nach Ablauf dieses Sanktionszeitraumes aufgehoben wurde. Außerdem macht der Kläger besondere Kosten für die Ernährung wegen einer Darmerkrankung geltend.
Ein Härtefall kann im vorliegenden Fall aber nicht zu einer Aufhebung oder Reduzierung der Sanktion führen, weil Härtefall und Wohlverhalten für Sanktionszeiträume, die vor dem 05.11.2019 abgelaufen sind, nicht zu prüfen sind. Der Sanktionszeitraum war hier aber März, April und Mai 2018.
Diese zeitliche Einschränkung der Anwendung der Entscheidung des BVerfG ergibt sich aus Teil D II. dieses Urteils (Rn. 218 ff). Unter D II. Ziffer 1. (Rn. 218) stellte das BVerfG fest, dass die Sanktionsregelungen der § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b SGB II mit den titulierten Einschränkungen (Deckelung auf 30% des Regelbedarfs, Härtefall- und Wohlverhaltensprüfung) weiterhin anwendbar sind. Dies bezieht sich auf die Zukunft, d.h. auf die Zeit ab Erlass dieses Urteils.
Für die Zeit vor dem 05.11.2019 wurde in D II. Ziffer 2. (Rn. 219 ff) eine differenzierte Regelung getroffen. Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht verpflichtet, rückwirkend Leistungen ohne Minderungen nach § 31a SGB II festzusetzen (Rn. 219). Bestandskräftige Verwaltungsakte können gemäß § 40 Abs. 3 SGB II nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 44 SGB X überprüft werden (Rn. 220). Nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, die vor der Urteilsverkündung am 05.11.2019 festgestellt wurden, – wie hier – bleiben wirksam (Rn. 221). Damit hat das BVerfG nicht bestandskräftige Sanktionsbescheide nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II aus der Regelung unter Ziffer 1. herausgenommen, wonach Sanktionen auf 30% des Regelbedarfs gedeckelt werden und außerdem Härtefall sowie Wohlverhalten zu prüfen sind. Dann bleibt es für die Zeit ab der Urteilsverkündung bei der Deckelung auf 30% des Regelbedarfs, die das BVerfG in Rn. 222 für die erste wiederholte Pflichtverletzung nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II und die weitere wiederholte Pflichtverletzung nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II festgelegt hat.
Diese zeitliche Abgrenzung ist auch in der Sache sinnvoll, weil ein Härtefall rückwirkend kaum mehr zu beheben ist und vor dem Urteil des BVerfG grundsätzlich, abgesehen von der vollständigen Sanktion gegen unter 25-Jährige nach § 31a Abs. 2 Satz 4 SGB II, kein Anlass für eine zeitnahe nachträgliche Mitwirkung oder deren Erklärung bestand.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage nach dem Anwendungszeitraum des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 zugelassen.

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