Aktenzeichen 1 O 2218/20
ZPO § 286
Leitsatz
1. Zur VW-Abgasskandal-Thematik vgl. grundlegend BGH BeckRS 2020, 10555; vgl. auch OLG Celle BeckRS 2020, 35127; OLG Jena BeckRS 2020, 30910; OLG München BeckRS 2020, 34041; BeckRS 2020, 32848; BeckRS 2020, 34151; BeckRS 2020, 34153; BeckRS 2020, 36057; BeckRS 2020, 38370; OLG Bamberg BeckRS 2020, 29603; BeckRS 2020, 33045; BeckRS 2020, 33157; BeckRS 2020, 35123; sowie die Aufzählung ähnlich gelagerter VW-Diesel-Fälle bei OLG München BeckRS 2020, 25691 (dort Ls. 1); OLG München BeckRS 2020, 27215 (dort Ls. 1); OLG Köln BeckRS 2019, 42328 (dort Ls. 1); OLG Koblenz BeckRS 2020, 14352 (dort Ls. 1), OLG Stuttgart BeckRS 2020, 7002 (dort Ls. 1), OLG Jena BeckRS 2020, 8618 (dort Ls. 1), OLG Oldenburg BeckRS 2020, 6234 (dort Ls. 1) und KG BeckRS 2019, 29883 (dort Ls. 5); mit gegenteiligem Ergebnis noch: OLG München BeckRS 2019, 33738; BeckRS 2019, 33753; OLG Braunschweig BeckRS 2019, 2737. (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem Käufer eines vom Diesel-Abgasskandal betroffenen Fahrzeugs steht gegen die Herstellerin des Motors – auch nach zwischenzeitlicher Veräußerung des Fahrzeugs – ein Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB auf Zahlung des für den Erwerb des Fahrzeugs aufgewandten Kaufpreises abzüglich des erzielten Veräußerungserlöses und eines Vorteilsausgleichs für die gezogenen Nutzungen zu. (Rn. 12, 15 und 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Schadensersatzanspruch ist auch bei einer erst 2020 erhobenen Klage nicht verjährt, da eine frühere Klageerhebung nicht zumutbar war, nachdem ein Großteil der erstinstanzlichen Gerichte derartige Klagen mit dem Argument abgewiesen hatte, Vorsatz des Vorstands der Motorherstellerin sei nicht nachgewiesen (anders nunmehr BGH BeckRS 2020, 37753). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
4. Zu typischen Detailfragen aus VW-Dieselfällen hier: Gesamtlaufleistung 250.000 km; vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten nach Gebührensatz von 1,3. (Rn. 24 und 28) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 5.879,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.07.2020 zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den vorgerichtlichen Gebühren ihrer Prozessbevollmächtigten, Rechtsanwälte … in Höhe von 571,44 € freizustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 39% und die Beklagte 61% zu tragen.
4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
5. Der Streitwert wird auf 9.629,37 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
Die Klagepartei hat gegen die Beklagte Anspruch auf Zahlung von 5.879,00 € aus §§ 826, 1922 BGB.
Das Verhalten der Beklagten ist sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB.
1. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfas sende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (BGH, NJW 2017, 250 = WM 2016, 1975 Rn. 16 mwN; NJW 2019, 2164 Rn. 8 mwN). Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGh, NJW 2017, 250 = WM 2016, 1975 Rn. 16 mwN). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, NJW 2019, 2164 Rn. 8 mwN).
Nach diesen Grundsätzen ist das Verhalten der Beklagten objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren. Die Beklagte hat auf der Grundlage einer für ihren Konzern getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des KBA systematisch, langjährig und in Bezug auf den Dieselmotor der Baureihe EA189 in siebenstelligen Stückzahlen in Deutschland Fahrzeuge in Verkehr gebracht, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Damit ging einerseits eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden und andererseits die Gefahr einher, dass bei einer Aufdeckung dieses Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hinsichtlich der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte. Ein solches Verhalten ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren. Das gilt auch, wenn es sich um den Erwerb eines Gebrauchtfahrzeugs handelt. Die Sittenwidrigkeit ergibt sich aus einer Gesamtschau des festgestellten Verhaltens der Beklagten unter Berücksichtigung des verfolgten Ziels, der eingesetzten Mittel, der zutage getretenen Gesinnung und der eingetretenen Folgen.
2. Die grundlegende strategische Entscheidung in Bezug auf die Entwicklung und Ver wendung der unzulässigen Software wurden von den im Hause der Beklagten für die Motorenentwicklung verantwortlichen Personen, namentlich dem vormaligen Leiter der Entwicklungsabteilung und den für die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Beklagten verantwortlichen vormaligen Vorständen, wenn nicht selbst, so zumindest mit ihrer Kenntnis und Billigung getroffen bzw. jahrelang umgesetzt. Dies ist der Beklagten nach § 31 BGB zuzurechnen.
a) Der Leiter der Entwicklungsabteilung eines großen, weltweit tätigen Automobilherstellers wie der Beklagten hat eine für dessen Kerngeschäft verantwortliche, in besonderer Weise herausgehobene Position als Führungskraft inne. Daraus folgt unmittelbar, dass ihm bedeutsame, wesensmäßige Funktionen des Unternehmens zur selbstständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, er also das Unternehmen auf diese Weise repräsentiert. Er ist daher als verfassungsmäßigen Vertreter einzuordnen.
b) Aufgrund des Vortrags der Klagepartei ist es außerdem als erwiesen anzusehen, dass vormalige Vorstand der Beklagten von der Entwicklung und Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung gewusst hat. Die Beklagte ist ihrer diesbezüglichen sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen. Die Klagepartei hat hinreichende Anhaltspunkte für eine Kenntnis des Vorstands von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung vorgetragen. Hierfür spricht nicht nur der Umstand, dass es sich bei der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung um eine grundlegende, weltweit alle Fahrzeuge mit Motoren der Serie EA189 betreffende Strategieentscheidung handelte, die mit erheblichen Risiken für den gesamten Konzern und auch mit persönlichen Haftungsrisiken für die entscheidenden Personen verbunden war, sondern auch die Bedeutung gesetzlicher Grenzwerte und der technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ihrer Einhaltung für die Geschäftstätigkeit der Beklagten. Wegen der besonderen Schwierigkeiten der Klagepartei, konkrete Tatsachen darzulegen, aus denen sich die Kenntnis eines bestimmten Vorstandsmitglieds ergibt, ist die Einlassung der Beklagten in hiesigem Rechtsstreit nicht ausreichend.
3. Der Ehemann der Klagepartei ist durch das sittenwidrige Verhalten der Beklagten ein Schaden entstanden ist, §§ 826, 249 I BGB, der in dem Abschluss des Kaufvertrags über das bemakelte Fahrzeug liegt.
Ein Schaden ist nämlich nicht nur dann gegeben, wenn sich bei dem vorzunehmenden Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit derjenigen, die ohne jenes Ereignis eingetreten wäre, ein rechnerisches Minus ergibt. Denn Schadensersatz dient dazu, den konkreten Nachteil des Geschädigten auszugleichen, so dass der Schadensbegriff im Ansatz subjektbezogen ist. Wird jemand durch ein haftungsbegründendes Verhalten zum Abschluss eines Vertrags gebracht, den er sonst nicht geschlossen hätte, kann er auch bei objektiver Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung dadurch einen Vermögensschaden erleiden, dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist. Voraussetzung ist dabei, dass die durch die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht.
Im Fall einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung dient der Schadensersatzanspruch nicht nur dem Ausgleich jeder nachteiligen Einwirkung durch das sittenwidrige Verhalten auf die objektive Vermögenslage des Geschädigten. Vielmehr muss sich der Geschädigte auch von einer auf dem sittenwidrigen Verhalten beruhenden Belastung mit einer „ungewollten“ Verpflichtung wieder befreien können. Schon eine solche stellt unter den dargelegten Voraussetzungen einen gem. § 826 BGB zu ersetzenden Schaden dar. Insoweit bewirkt § 826 BGB einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen (BGH, NJW 2020, 1962).
Im Streitfall ist der Ehemann der Klagepartei veranlasst durch das einer arglistigen Täuschung gleichstehende sittenwidrige Verhalten der Beklagten eine ungewollte Verpflichtung eingegangen. Dabei kann dahinstehen, ob sie einen Vermögensschaden dadurch erlitten hat, dass im Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs eine objektive Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung nicht gegeben war (§ 249 I BGB), auch wenn dafür angesichts des zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorhandenen verdeckten Sachmangels, der zu einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung hätte führen können (vgl. BGH NJW 2019, 1133 Rn. 17 ff.), einiges spricht. Denn ein Schaden ist hier jedenfalls deshalb eingetreten, weil der Vertragsschluss nach den oben genannten Grundsätzen als unvernünftig anzusehen ist. Die Klagepartei hat durch den ungewollten Vertragsschluss eine Leistung erhalten, die für seine Zwecke nicht voll brauchbar war (BGH, NJW 2020, 1962).
Zweifellos hätte der Ehemann der Klagepartei den Kaufvertrag in Kenntnis der illegalen Abschalteinrichtung nicht abgeschlossen hätte, § 286 ZPO. Dabei hat es seiner Würdigung einen sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung und der Art des zu beurteilenden Geschäfts ergebenden Erfahrungssatz zugrunde gelegt, wonach auszuschließen ist, dass ein Käufer ein Fahrzeug erwirbt, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung droht und bei dem im Zeitpunkt des Erwerbs in keiner Weise absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann.
4. Ein Schädigungsvorsatz der handelnden Personen, auch im Hinblick auf die Klagepar tei, lag zweifelsfrei vor. Die handelnden Personen kannten die grundlegende und mit der bewussten Täuschung des KBA verbundene strategische Entscheidung in Bezug auf die Entwicklung und Verwendung der unzulässigen Software kannten und setzten diese jahrelang um. Daher ist schon nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass ihnen als für die zentrale Aufgabe der Entwicklung und des Inverkehrbringens der Fahrzeuge zuständigem Organ oder verfassungsmäßigem Vertreter (§ 31 BGB) bewusst war, in Kenntnis des Risikos einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung der betroffenen Fahrzeuge werde niemand – ohne einen erheblichen, dies berücksichtigenden Abschlag vom Kaufpreis – ein damit belastetes Fahrzeug erwerben (BGH, NJW 2020, 1962 Rn. 63).
5. Die Klagepartei muss sich im Wege des Vorteilsausgleichs die von ihr bzw. ihrem Ehemann gezogenen Nutzungen anrechnen lassen. Die Nutzungsentschädigung ist auf Basis einer Gesamtlaufleistung von 250.000 km zu berechnen, weil Dieselmotoren auf eine tendenziell längere Lebensdauer ausgelegt sind. Als Laufleistung zum Zeitpunkt des Verkaufs wird die unstreitige Angabe der Klagepartei zugrunde gelegt. Die anzurechnende Nutzungsentschädigung beträgt 10.001,00 €. Diese ist von dem Betrag von 15.880 € (=33.080,00 € (Kaufpreis) – 17.200,00 € (Verkaufspreis)) abzuziehen.
6. Der Schadensersatzanspruch der Klagepartei ist nicht verjährt.
Selbst wenn man den Vortrag der Beklagten unterstellt, dass die Klagepartei ohne grob fahrlässige Kenntnis von der technischen Beschaffenheit ihres Fahrzeugs und dessen Bedeutung im Jahr 2015 hätte Kenntnis erlangen können, war eine Klageerhebung vor dem Jahr 2020 nicht zumutbar. Nachdem ein Großteil der erstinstanzlichen Gerichte derartige Klagen mit dem Argument abgewiesen hat, Vorsatz des Vorstands der Beklagten sei nicht nachgewiesen, kann es unter Verjährungsgesichtspunkten einer klagenden Partei erst dann zum Nachteil gereichen, wenn sie nicht einmal mehr nach der BGH-Entscheidung vom 25.05.2020 Klage erhebt. Zuvor war das mit einem solchen Verfahren verbundene Unterliegens- und Kostenrisiko so hoch, dass ein vernünftiger Teilnehmer im Rechtsverkehr von einer solchen Klage abgesehen hätte.
7. Der Klagepartei steht Prozesszins seit 02.07.2020 zu.
8. Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 571,44 € stehen der Klagepartei aus einem Streitwert von 5879 € zu. In der Sache ist eine 1,3-Gebühr angemessen.
II.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 2, 709 S. 2 ZPO.
gez.
Verkündet am 27.08.2020