Aktenzeichen 1 BvR 285/11
Art 20 Abs 3 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 89b Abs 1 S 1 HGB
§ 522 Abs 2 S 1 Nr 3 ZPO vom 05.12.2005
Verfahrensgang
vorgehend OLG München, 21. Dezember 2010, Az: 7 U 4103/10, Beschlussvorgehend LG München I, 29. Juni 2010, Az: 13HK O 20686/09, Teilurteilnachgehend OLG München, 24. Oktober 2012, Az: 7 U 4103/10, Urteil
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 21. Dezember 2010 – 7 U 4103/10 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem      Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben.      Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
2. …
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe
I.
1
                            Gegenstand des Ausgangsverfahrens war eine Streitigkeit aus dem Handelsvertreterrecht.
   
2
                            1. Die Beschwerdeführerin stellt Brillen her und vertreibt diese. Mit dem Vertrieb sind etwa 50 Handelsvertreter betraut,
      die in den ihnen zugewiesenen Gebieten bestimmte Kollektionen der Beschwerdeführerin an die dortigen Optiker vertreiben. In
      den jeweiligen Gebieten sind dabei stets mehrere Handelsvertreter für die Beschwerdeführerin tätig, die jeweils mit dem Vertrieb
      unterschiedlicher Kollektionen betraut sind. Im September 2008 schloss die Beschwerdeführerin mit der Klägerin des Ausgangsverfahrens
      (im Folgenden: Klägerin) einen Handelsvertretervertrag ab. Nach Maßgabe des Vertrages war die Klägerin mit dem Vertrieb der
      neu in das Sortiment der Beschwerdeführerin aufgenommenen Brillenkollektionen C. und F. in dem ihr zugewiesenen Gebiet betraut.
      Die Klägerin erhielt von der Beschwerdeführerin eine Liste ausgehändigt, in der sämtliche bisherigen Kunden der Beschwerdeführerin
      verzeichnet waren. Bis zum Ende der Vertragsbeziehung im Juni 2009 vermittelte die Klägerin der Beschwerdeführerin unter anderem
      Kaufverträge mit 34 Optikern, die bereits auf der Liste aufgeführt waren. Nach Beendigung des Handelsvertretervertrages machte
      die Klägerin Ausgleichsansprüche geltend. Ihre Forderung begründete sie unter anderem damit, dass es sich auch bei den 34
      bereits auf der Kundenliste verzeichneten Optikern um Neukunden im Sinne des § 89b Abs. 1 Satz 1 HGB gehandelt habe, da diese
      vorher keine Brillen aus den Kollektionen C. und F. bezogen hätten.
   
3
                            Das Landgericht gab der Klage mit Teil- und Grundurteil vom 29. Juni 2010 dem Grunde nach statt. Es seien alle von der Klägerin
      geworbenen Kunden als Neukunden anzusehen. Die Grenzziehung zwischen Alt- und Neukunden orientiere sich an der Frage, „ob
      hier ein gänzlich neues Produkt beziehungsweise ein Artikel aus einer neuen Branche und damit eine neue werthaltige Geschäftsbeziehung
      vom Handelsvertreter geknüpft wurde“. Da es hier der Klägerin verwehrt gewesen sei, Brillen aus anderen Kollektionen der Beschwerdeführerin
      anzubieten, und sie damit in Konkurrenz zu den anderen Vertretern der Beschwerdeführerin getreten sei, sei jeder der von ihr
      geworbenen Optiker als neuer Kunde anzusehen, auch wenn er bereits Brillen aus anderen Kollektionen der Beschwerdeführerin
      bezogen habe.
   
4
                            Hiergegen legte die Beschwerdeführerin Berufung ein. Nach vorangegangenem Hinweis wies das Oberlandesgericht die Berufung
      mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Zur Begründung führte es aus, dass es hier aufgrund der besonderen Vertragskonstruktion,
      die die Beschwerdeführerin für den Vertrieb ihrer Produkte verwende, gerechtfertigt sei, bei der Abgrenzung zwischen Alt-
      und Neukunden keine branchenbezogene Betrachtung anzustellen und sämtliche Kunden der Klägerin als Neukunden zu werten. Dem
      stünden die von der Beklagten zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 28. April 1999 – VIII ZR 354/97
      -, MDR 1999, S. 1076) sowie der Oberlandesgerichte Düsseldorf (Urteil vom 17. Dezember 1999 – 16 U 250/97 -, juris) und Stuttgart
      (Urteil vom 15. Juli 2008 – 10 U 16/08 -, juris) nicht entgegen, da diesen andere Vertragskonstellationen zugrunde gelegen
      hätten. Die Rechtsfrage habe entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin keine grundsätzliche Bedeutung, da es lediglich
      um die konkrete Vertragsgestaltung der Beschwerdeführerin mit ihren Handelsvertretern ginge. Anderes gelte auch dann nicht,
      wenn die von ihr gewählte Art des Vertriebs branchenüblich sein sollte.
   
5
                            2. Gegen die genannten Entscheidungen wendet sich die Beschwerdeführerin mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde. Sie rügt
      eine Verletzung ihres Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
   
6
                            3. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie der Klägerin
      zugestellt. Von der eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme wurde kein Gebrauch gemacht. Die Akten des Ausgangsverfahrens
      lagen der Kammer vor.
   
II.
7
                            Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts
      der Beschwerdeführerin auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt
      ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das
      Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde
      ist danach offensichtlich begründet.
   
8
                            1. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes, das für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten
      ist (vgl. BVerfGE 54, 277 ; 80, 103 ; 85, 337 ; 97, 169 ; stRspr), beeinflusst die Auslegung und Anwendung
      der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Hat
      der Gesetzgeber sich für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend
      ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise
      erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 ; 74, 228 ; 77, 275 ). Dementsprechend beanstandet das Bundesverfassungsgericht
      eine den Zugang zum Rechtsmittel erschwerende Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilprozessualen Vorschriften dann,
      wenn sie aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen und damit schlechterdings unvertretbar sind, sich somit als objektiv
      willkürlich erweisen und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränken (vgl. BVerfGE 74, 228 ; BVerfGK
      11, 235 ; 12, 341 ; 14, 238 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 2010
      – 1 BvR 1991/09 -, GRUR 2010, S. 1033). Dieser verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab gilt insbesondere auch für die Auslegung
      und Anwendung des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO (vgl. BVerfGK 11, 235 ; 12, 341 ; 14, 238 ). Bei Zugrundelegung
      dieses Maßstabs verletzt die hier durch das Oberlandesgericht vorgenommene Auslegung und Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO das
      Gebot effektiven Rechtsschutzes.
   
9
                            a) Nach § 522 Abs. 2 ZPO a.F. ist Voraussetzung für die Zurückweisung der Berufung durch einstimmigen Beschluss unter anderem,
      dass nicht die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts
      erfordern (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO). Diese Voraussetzung steht einer Verwerfung der Berufung durch einstimmigen Beschluss
      unter anderem dann entgegen, wenn die beabsichtigte Berufungsentscheidung von einem tragenden Rechtssatz eines höher- oder
      gleichrangigen Gerichts abweicht und die beabsichtigte Entscheidung auf dieser Abweichung beruht (vgl. BVerfG, Beschluss der
      2. Kammer des Ersten Senats vom 21. März 2012 – 1 BvR 2365/11 -, GRUR 2012, S. 601 zu den entsprechenden Voraussetzungen des
      § 543 Abs. 2 ZPO).
   
10
                            b) Das Oberlandesgericht verkennt diese Voraussetzungen. Seine Annahme, die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordere
      hier keine Entscheidung durch Urteil unter Zulassung der Revision, kann sachlich nicht gerechtfertigt werden und ist schlechterdings
      unvertretbar.
   
11
                            aa) Der Bundesgerichtshof hat es in der zitierten Entscheidung vom 28. April 1999 als rechtsfehlerfrei angesehen, den Begriff
      des Neukunden branchenbezogen zu definieren und davon auszugehen, dass ein Kunde, der schon bisher mit dem Unternehmer in
      Geschäftsbeziehungen gestanden habe, auch dann als Neukunde betrachtet werden müsse, wenn er für einen anderen Geschäftszweig
      neu gewonnen werde (a.a.O., S. 1078). Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat in seinem Urteil vom 17. Dezember 1999 ebenfalls
      anhand einer branchenbezogenen Sichtweise beurteilt, ob Bestandskunden, die Waren für einen anderen Einsatzzweck bestellen,
      deshalb als „neue Kunden“ im Sinne des § 89b Abs. 1 Satz 1 HGB zu betrachten sind (a.a.O., Rz. 96, 114). Auch das Oberlandesgericht
      Stuttgart hat in seiner Entscheidung vom 15. Juli 2008 einen branchenbezogenen Neukundenbegriff zugrunde gelegt; ob die neu
      angebotene Ware noch in die gleiche Branche falle, hänge davon ab, inwieweit ein Zusammenhang mit den bisherigen Erzeugnissen
      des Unternehmers bestehe. Jedenfalls genüge es nicht, wenn lediglich das Sortiment erweitert und der Kunde auch für Artikel
      des erweiterten Sortiments gewonnen werde (a.a.O., Rz. 86 ff. ).
   
12
                            bb) Zwar liegt hier keine Abweichung von der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vor. Denn dieser hat lediglich
      die Erweiterung des Neukundenbegriffs aufgrund einer branchenbezogenen Sichtweise als frei von Rechtsfehlern angesehen, ohne
      damit aber Erweiterungen aufgrund anderer Erwägungen zwingend auszuschließen. Anders liegt es jedoch im Hinblick auf die Entscheidungen
      der Oberlandesgerichte Düsseldorf und Stuttgart. Denn in beiden zitierten Entscheidungen wurde davon ausgegangen, dass es
      sich bei einem Bestandskunden, der Waren für einen anderen Einsatzzweck beziehungsweise aus einer anderen Produktlinie bezieht,
      nicht um einen Neukunden im Sinne des § 89b Abs. 1 Satz 1 HGB handele, wenn die Waren derselben Branche wie die bisher bezogenen
      Waren zuzurechnen sind (OLG Düsseldorf, a.a.O., Rz. 96, 114; OLG Stuttgart, a.a.O., Rz. 98). Dieser Rechtssatz trägt die genannten
      Entscheidungen. Indem das Oberlandesgericht im vorliegenden Verfahren angenommen hat, dass auch jene Kunden als Neukunden
      anzusehen seien, die bereits andere Brillen der Beschwerdeführerin bezogen hatten, ist es von diesem Rechtssatz abgewichen.
   
13
                            Warum das Oberlandesgericht trotz der ausdrücklichen und entscheidungserheblichen Abweichung dennoch davon ausgegangen ist,
      dass die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung durch Urteil erfordere, ist nicht nachvollziehbar.
      Die Begründung des Oberlandesgerichts, die von der Beklagten zitierten Entscheidungen stünden seiner Rechtsauffassung nicht
      entgegen, da diesen andere Vertragskonstruktionen zugrunde gelegen hätten, ist offensichtlich unvertretbar. Denn für die Frage
      der Divergenz kommt es nur darauf an, dass das Oberlandesgericht bei der Beantwortung der abstrakten Rechtsfrage, unter welchen
      Umständen ein Kunde, mit dem bereits eine Geschäftsbeziehung besteht, dennoch als „neuer“ Kunde im Sinne des § 89b Abs. 1
      Satz 1 HGB angesehen werden kann, von dem genannten abstrakten Rechtssatz abgewichen ist. Diese Abweichung wird durch die
      Besonderheiten der vorliegenden Vertragskonstruktion nicht berührt.
   
14
                            2. Ob auch insoweit von einer willkürlichen Auslegung und Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO a.F. auszugehen ist, weil eine Entscheidung
      im Beschlusswege auch deswegen hätte offensichtlich unterbleiben müssen, weil der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt,
      kann offen bleiben.
   
III.
15
                            Der Beschluss des Oberlandesgerichts ist hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die
      Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
   
16
                            Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Der nach § 37 Abs. 2 in Verbindung mit § 14
      Abs. 1 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit beträgt 8.000 € (vgl. BVerfGE 79, 365 ).
   




