Europarecht

Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren bei “flüchtigem” Asylbewerber

Aktenzeichen  11 ZB 16.50024

Datum:
29.4.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 45993
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-Verordnung Art. 29
AsylG § 78 III Nr. 1

 

Leitsatz

Ein Asylbewerber gilt als “flüchtig” im Sinne von Art. 29 II 2 Dublin III-Verordnung bei jeder Form eines unbekannten Aufenthalts, mit der er sich vorsätzlich und unentschuldigt seiner Abschiebung entzieht.  (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

W 7 K 15.50221 2016-02-08 Ent VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
III.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin K.-P., Erlangen, wird abgelehnt.

Gründe

I. Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Sie wenden sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 2015, mit dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge festgestellt hat, dass die Asylanträge der Kläger unzulässig sind und die Abschiebung der Kläger nach Polen angeordnet hat.
Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Würzburg mit Urteil vom 1. Februar 2016 abgewiesen. Der Bescheid sei rechtmäßig. Die Überstellungsfrist sei auch noch nicht abgelaufen, da die Kläger flüchtig gewesen seien. Am 10. Dezember 2015 habe daher eine neue Sechs-Monats-Frist zu laufen begonnen. Systemische Mängel im polnischen Asylsystem seien nicht ersichtlich.
Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht hinreichend dargelegt ist.
Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass eine im Zulassungsantrag darzulegende konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Eine solche Frage lässt sich dem Zulassungsantrag nicht entnehmen.
Die Kläger halten es für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob sie als „flüchtig“ i. S. d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO anzusehen sind, da sie sich vom 6. bis 9. Dezember 2015 unstreitig nicht in ihrer Unterkunft aufgehalten hätten, ohne dies zu melden, aber sofort zurückgekehrt seien, als sie erfahren hätten, dass nach ihnen gesucht werde. Damit wird den Darlegungsanforderungen nicht Genüge getan, denn es wird nicht erläutert, weshalb diese Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Rechtsfortbildung der Klärung bedarf.
Das Verwaltungsgericht hat in Anlehnung an die Kommentarliteratur (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 232 und Marx in AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 27a Rn. 98) angenommen, als „flüchtig“ i. S. d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO sei jede Form des unbekannten Aufenthalts eines Asylbewerbers zu verstehen, mit der er sich vorsätzlich und unentschuldigt der Abschiebung entzieht. Gegen diese Auslegung des Begriffs „flüchtig“ durch das Erstgericht wenden sich die Kläger nicht.
Das Verwaltungsgericht hat dann die Überzeugungsgewissheit gewonnen, dass sich die anwaltlich vertretenen Kläger durch ihre mehrtägige unentschuldigte Abwesenheit kurz vor Ablauf der Überstellungsfrist vorsätzlich und unentschuldigt der Abschiebung entzogen haben. In Wahrheit greift der Zulassungsantrag daher nur im Gewande der Grundsatzrüge die einzelfallbezogene Bewertung des Verwaltungsgerichts an, dass die Kläger in Anbetracht der Umstände als flüchtig i. S. d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO anzusehen waren; damit vermag er die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht zu erreichen.
Des Weiteren halten es die Kläger für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob in einer solchen Konstellation die Verlängerung der Überstellungsfrist auf die längst mögliche Zeit von 18 Monaten gerechtfertigt sei. Sie übersehen dabei, dass das Verwaltungsgericht selbst davon ausgegangen ist, dass mit dem Wiederauftauchen der Kläger vor Ablauf der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, weder eine Fristverlängerung um 18 Monate noch auf insgesamt 18 Monate zulässig war, sondern am 10. Dezember 2015 nur eine neue Frist von sechs Monaten zu laufen begonnen hat, und setzen sich mit dieser Argumentation nicht auseinander.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts war abzulehnen, da die Rechtssache keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen