Aktenzeichen 3 T 241/16
Leitsatz
1. Ist der Anwendungsbereich des Art. 28 Abs. 2 Dublin III-VO eröffnet, ist ein (ergänzender) Rückgriff auf die in § 62 Abs. 3 S. 1 AufenthG geregelten Haftgründe nicht statthaft (so auch BGH BeckRS 2016, 17449). (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Haftrichter hat alle Umstände rechtlicher und tatsächlicher Art zu prüfen und zu bewerten, die einer Anordnung oder Fortsetzung der Abschiebungshaft entgegenstehen könnten. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Verbindung mit dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verpflichtet den Haftrichter zu überprüfen, ob die Ausreisepflicht fortbesteht und ob Umstände vorliegen, durch die die Durchführbarkeit der Abschiebung für längere Zeit oder auf Dauer gehindert wird, und zwar gerade auch bei der erstmaligen Anordnung von Abschiebungshaft (so auch BVerfG BeckRS 2009, 32496). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
15 XIV B 42/16 2016-11-25 Bes AGBAMBERG AG Bamberg
Tenor
1. Auf die Beschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Bamberg vom 25.11.2016, Az. 15 XIV B 42/16, den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
2. Gerichtskosten werden in beiden Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in beiden Instanzen werden dem Regierungsbezirk Oberfranken auferlegt.
3. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die nunmehr als Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde nach §§ 62, 58 Abs. 1 FamFG zu behandelnde Beschwerde des Betroffenen, bei dem insbesondere ein berechtigtes Feststellungsinteresse im Sinne von § 62 Abs. 2 FamFG vorliegt, ist statthaft und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Amtsgericht Bamberg unter Annahme der Haftgründe des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG Abschiebungshaft bis spätestens 24.12.2016 angeordnet. Mit seinem Beschwerdevorbringen dringt der Betroffene durch.
Der Haftantrag der beteiligten Behörde vom 25.11.2016 war nicht begründet. Die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung der (erneuten) Überstellung nach Österreich lagen nicht vor. Dabei bedarf es an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob der von der beteiligten Behörde ihrem Antrag zugrunde gelegte Haftgrund des Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung gegeben war. Insoweit ist allerdings festzustellen, dass das Amtsgericht in dem angefochtenen Beschluss nicht auf Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung abgestellt hat, sondern allein auf die Haftgründe des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG. Ist der Anwendungsbereich des Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung jedoch eröffnet, ist dies die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Inhaftierung des Betroffenen; ein (ergänzender) Rückgriff auf die in § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG geregelten Haftgründe ist nach der Rechtsprechung des BGH nicht statthaft (vgl. BGH, Beschluss vom 07.07.2016, Az. V ZB 21/16, FGPrax 2016, 278, bei juris Rn. 4; BGH, Beschluss vom 25.02.2016, Az. V ZB 157/15, FGPrax 2016, 140, bei juris Rn. 6).
Unabhängig hiervon durfte der Betroffene gemäß Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung zur Sicherstellung des Überstellungsverfahren nicht in Haft genommen werden, weil zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses die Überstellungsfrist von 6 Monaten bereits geraume Zeit abgelaufen war.
Nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 der Dublin-III-Verordnung hat die Überstellung des Betroffenen „spätestens innerhalb einer Frist von 6 Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs“ zu erfolgen. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin-III-Verordnung ist der zuständige Mitgliedstaat – hier Österreich – nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Betroffenen verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat – hier Deutschland – über, wenn die Überstellung nicht innerhalb dieser sechsmonatigen Frist durchgeführt wurde. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchgeführt, die Folgen tragen muss (BayVGH, Beschluss vom 11.05.2015, Az. 13a ZB 15.50006, bei juris Rn. 5; VG München, Beschluss vom 06.06.2017, Az. M 9 S 17.50290, bei juris Rn. 19). Hier lief die Überstellungsfrist bis zum 01.09.2016, nachdem das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich mit Schreiben vom 01.03.2016 dem Übernahmeersuchen Deutschlands zugestimmt hatte (Bl. 49 der BAMF-Akte).
Eine wirksame Verlängerung dieser am 01.09.2016 ablaufenden Überstellungsfrist durch das BAMF ist nicht erfolgt. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin-III-Verordnung kann die sechsmonatige Frist zwar höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder sogar höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Vorliegend waren diese Voraussetzungen jedoch nicht gegeben, weshalb weder die Verlängerungsentscheidung des BAMF vom 03.03.2016 (Verlängerung der Überstellungsfrist bis spätestens 01.03.2017 wegen Inhaftierung des Betroffenen, Bl. 51 der BAMF-Akte) noch die weitere Verlängerungsentscheidung des BAMF vom 28.04.2016 (Verlängerung der Überstellungsfrist bis spätestens 01.09.2017 wegen Flüchtigkeit des Betroffenen, Bl. 129 der BAMF-Akte) rechtmäßig und damit wirksam war.
Die Verlängerungsentscheidung des BAMF vom 03.03.2016 wegen Inhaftierung des Betroffenen war deshalb rechtswidrig, weil zu diesem Zeitpunkt bereits feststand, dass der Betroffene sich maximal bis zum 17.04.2016 in Strafhaft befinden würde. Der Betroffene war wegen seiner unerlaubten Einreise vom 18.02.2016 bereits mit Urteil des Amtsgerichts Laufen vom 19.02.2016 im Verfahren 260 Js 30009/16 nach § 95 AufenthG zu einer Freiheitsstrafe von 2 Monaten verurteilt worden. Dass der Betroffene spätestens am 17.04.2016 aus der Haft entlassen werden würde, war dem BAMF auch noch vor der Verlängerungsentscheidung vom 03.03.2016 bekannt gemacht worden, und zwar mit Faxschreiben des Landratsamts …H vom 26.02.2016 (Bl. 1 der BAMF-Akte). Den beteiligten Behörden war mithin bereits im Februar 2016 positiv bekannt, dass nach der Entlassung des Betroffenen Mitte April 2016 noch mehr als vier Monate für die Überstellung nach Österreich zur Verfügung standen. Für eine Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin-III-Verordnung bestand in der Folge kein rechtfertigender Anlass. Die beteiligte Behörde hat im Beschwerdeverfahren insoweit auch keine neuen Gesichtspunkte aufgezeigt.
Die nachfolgende Verlängerungsentscheidung des BAMF vom 28.04.2016 wegen Flüchtigkeit des Betroffenen war ebenfalls rechtswidrig, weil der Betroffene nicht flüchtig war. Wie der Betroffene im Beschwerdeverfahren im Einzelnen – von der beteiligten Behörde unwidersprochen – vorgetragen hat und wie sich auch aus der Akte des BAMF ergibt, war der Betroffene nach seiner Wiedereinreise am 18.02.2016 zu keinem Zeitpunkt flüchtig, vielmehr war den zuständigen Behörden sein Aufenthaltsort stets bekannt. Nach der Entlassung aus der JVA Bernau begab sich der Betroffene weisungsgemäß zunächst nach München in das dortige Ankunftszentrum für Asylbewerber, um sich anschließend ebenfalls weisungsgemäß in die Unterkunft in der in … B. zu begeben. Dort war der Betroffene bis zum Ablauf der Überstellungsfrist am 01.09.2016 jederzeit erreichbar. Die beteiligte Behörde hat keinen Anhaltspunkt dafür aufgezeigt, dass der Betroffene zum Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung am 28.04.2016 tatsächlich flüchtig gewesen ist.
Soweit die beteiligte Behörde in ihrer Stellungnahme vom 21.12.2016 geltend macht, im Rahmen des Verfahrens nach der Dublin-III-Verordnung obliege es allein dem BAMF, die tatsächliche und rechtliche Durchführbarkeit der Abschiebung in den zuständigen Mietgliedstaat zu prüfen, für die Ausländerbehörde verbleibe daher keinerlei eigene Entscheidungskompetenz hinsichtlich etwaiger Vollzugshindernisse, für sie habe auch zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens Veranlassung bestanden, an der Gültigkeit der vom BAMF mitgeteilten Überstellungsfrist zu zweifeln, verfängt ihr Vorbringen nicht.
Der Haftrichter hat nach der Rechtsprechung des BGH zwar nicht zu prüfen, ob die zuständige Behörde die Abschiebung bzw. Zurückschiebung zu Recht betreibt; denn die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden unterliegt allein der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Ergibt sich die Ausreisepflicht aus einer bestandskräftigen Abschiebungs- bzw. Zurückschiebungsverfügung, erstreckt sich die Prüfung des Richters – im Verfahren nach § 62 AufenthG – daher nicht darauf, ob die von der Behörde betriebene Abschiebung oder Zurückschiebung durchgeführt werden kann (BGH, Beschluss vom 16.12.2009, Az. V ZB 148/09, bei juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 06.05.2010, Az. V ZB 193/09, bei juris Rn. 19). Auf der anderen Seite ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen, dass der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Verbindung mit dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen für eine Anordnung von Abschiebungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gewährleistet. Insbesondere verpflichtet er die Haftgerichte zu überprüfen, ob die Ausreisepflicht fortbesteht und ob Umstände vorliegen, durch die die Durchführbarkeit der Abschiebung für längere Zeit oder auf Dauer gehindert wird, und zwar gerade auch bei der erstmaligen Anordnung von Abschiebungshaft (BVerfG Beschluss vom 27.2.2009, Az. 2 BvR 538/08, BeckRS 2009, 32496; BVerfG, Beschluss vom 15.12.2000, Az. 2 BvR 347/00, bei juris Rn. 27). Der Haftrichter hat daher grundsätzlich alle Umstände rechtlicher und tatsächlicher Art zu prüfen und zu bewerten, die einer Anordnung oder Fortsetzung der Abschiebungshaft entgegenstehen könnten (näher Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 62 AufenthG Rn. 245 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen kann es im vorliegenden Fall nicht zum Nachteil des Betroffenen gereichen, dass das BAMF – vermutlich aufgrund der versehentlichen Anlegung einer zweiten Akte unter einem gesonderten Aktenzeichen – ihn am 28.04.2016 als flüchtig betrachtete und deswegen die Überstellungsfrist zu Unrecht verlängerte. Die beteiligte Behörde hätte vor Stellung ihres Haftantrags in eigener Verantwortung prüfen müssen, ob die sechsmonatige Überstellungsfrist wirksam verlängert worden war; tatsächlich verhält sich der Antrag vom 25.11.2016 zur Frist nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 der Dublin-III-Verordnung aber überhaupt nicht. Aus der Akte des BAMF ergibt sich vielmehr, dass die beteiligte Behörde im Juli 2016 noch selbst davon ausging, die Überstellungsfrist werde am 01.09.2016 enden (Schreiben vom 12.07.2016, Bl. 175 der BAMF-Akte).
Da nach allem die Verlängerungen der Überstellungsfrist durch das BAMF nicht wirksam waren, verblieb es bei der ursprünglichen Dauer der Überstellungsfrist bis zum 01.09.2016. Diese Frist war mithin im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses des Amtsgerichts längst abgelaufen. In der Folge ist nunmehr auf die Beschwerde des Betroffenen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses festzustellen.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 EMRK analog.
III.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 36 Abs. 3 GNotKG.