Europarecht

Unvereinbarkeit der behördlichen Aussetzung mit Unionsrecht

Aktenzeichen  M 2 K 19.51274

Datum:
7.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 15516
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
VwGO § 80 Abs. 4
Dublin III-VO Art. 27 Abs. 4, Art. 29 Abs. 1

 

Leitsatz

Eine Aussetzung der Vollziehung einer Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO in einem „Dublin-Bescheid“ durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist mit Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nur vereinbar und unterbricht die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO nur, wenn sie dazu dient, im Einzelfall die Durchführung eines konkreten Rechtsbehelfsverfahren bis zu einer gerichtlichen Sachentscheidung zu ermöglichen. (Rn. 14)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 12. November 2019 (Gz. 7944707 – 423) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Der Kläger hat mit Erklärung seiner Bevollmächtigten vom 3. Juli 2020, die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 auf die Durchführung einer mündliche Verhandlung verzichtet.
Die zulässig Klage ist begründet. Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Beklagte ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin. Es bedarf keiner Entscheidung, ob nach der Dublin III-VO grundsätzlich eine Zuständigkeit Griechenlands bestanden hätte; denn diese ist jedenfalls gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO durch Ablauf der Überstellungsfrist auf die Beklagte übergegangen.
Das fristauslösende Ereignis für die sechsmonatige Überstellungfrist ist im vorliegenden Fall gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO die endgültige Entscheidung über eine Überprüfung, die gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat, und damit die ablehnende Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vom 10. Dezember 2020. Die Frist endete daher mit Ablauf des 10. Juni 2020 (zur Berechnung der Frist vgl. Art. 42 Buchst. b) Dublin III-VO).
Eine Unterbrechung des Fristlaufs wurde durch die Aussetzungsentscheidung der Beklagten gemäß § 80 Abs. 4 VwGO nicht bewirkt. Zwar haben nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO die Behörden grundsätzlich die Befugnis, die Vollziehung auszusetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Regelungen des Asylgesetzes schließen dabei eine behördliche Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO nicht aus (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 23). In prozessualer Hinsicht hat die Aussetzungsentscheidung daher – und zwar ungeachtet ihrer Rechtmäßigkeit – die Unzulässigkeit des zuvor gestellten Antrags (soweit hierüber noch nicht entschieden wurde) nach § 80 Abs. 5 VwGO zur Folge (vgl. VG Aachen, U.v. 10.6.2020 – 9 K 2584/19.A – juris Rn. 32; VG München, B.v. 20.5.2020 – M 19 S 20.50161 – juris Rn. 8 ff.).
Allerdings ist die behördliche Aussetzung vorliegend nicht mit Unionsrecht vereinbar. Das Unionsrecht kennt in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO zwar das Instrument einer behördlichen Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung und hindert daher eine Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO nicht von vorherein. Allerdings setzt das insoweit vorrangige Unionsrecht dem Gebrauch des § 80 Abs. 4 VwGO materielle Grenzen (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 25: „gewisse Grenzen“), die überschritten wurden. Denn die Dublin III-Verordnung gestattet eine Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung (mit der Folge einer Fristunterbrechung nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO) nur im Einzelfall und zur Effektivierung eines eingelegten Rechtsbehelfs. Hierum ging es der Beklagten mit ihren flächendeckenden und undifferenzierten Aussetzungsentscheidungen nach § 80 Abs. 4 VwGO (etwa auch in Fällen einer bereits erfolgten gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung) ersichtlich nicht.
Die Mitgliedstaaten können zwar nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorsehen, dass die zuständigen Behörden von Amts wegen tätig werden dürfen, „um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen“. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO verknüpft schon im Wortlaut die Möglichkeiten der behördlichen Aussetzung nicht nur mit einem eingelegten Rechtsbehelf (zu dieser Mindestvoraussetzung vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 26), sondern richtet die Aussetzungsentscheidung gerade auf dessen Effektivität (im Sinne seines Abschlusses durch eine Sachentscheidung) aus („bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs“). Die Norm zielt mithin darauf, den Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens zur Klärung von Rechts- oder Tatsachenfragen nicht durch einen Zuständigkeitswechsel zu verhindern. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die Überstellungsfrist infolge der behördlichen Aussetzungsentscheidung nicht an- oder jedenfalls nicht abläuft, da andernfalls der Bescheid ohne nähere Klärung allein wegen des dem Fristablauf geschuldeten Zuständigkeitswechsels aufzuheben wäre. Ordnet die Behörde die Aussetzung der Vollziehung bereits im Bescheid an, bedarf es für den Adressaten keines Eilantrags, sondern nur eines Hauptsacherechtsbehelfs. Erst mit der gerichtlichen Entscheidung über diesen beginnt die Frist dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO zufolge zu laufen („endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf“). Ordnet die Behörde die Aussetzung erst nachträglich, aber vor der gerichtlichen Entscheidung über den rechtzeitig (vgl. § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG) gestellten Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO an, beginnt die Überstellungsfrist mit der gerichtlichen Entscheidung über das Eilverfahren (typischerweise die Einstellung des Verfahrens wegen Erledigung). Ordnet hingegen – wie im vorliegenden Fall – die Behörde die Aussetzung erst nach der gerichtlichen Ablehnung des Eilantrags an, wird hierdurch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zwar dennoch die Frist (erneut) unterbrochen. Denn nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO sei allein entscheidend, dass ein Rechtsbehelf im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung habe und daher eine Überstellung nicht durchgeführt werden könne. Die in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO den Mitgliedstaaten eröffnete Möglichkeit, dass auch die zuständigen Behörden die Durchführung der Überstellungsentscheidung aussetzen könne, erweitere lediglich die Fallgruppen, in denen einem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO zukomme (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 20). Die Frist beginnt daher (vorbehaltlich eines Widerrufs der Entscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO) dann mit der Entscheidung in der Hauptsache (neu) zu laufen.
Die Unterbrechungswirkung einer nachträglichen Anordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO entfällt in allen Fallgruppen allerdings, wenn diese rechtswidrig ist (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 21). Dies ist vorliegend der Fall (so für vergleichbare Sachverhalte auch VG Aachen, U.v. 10.6.2020 – 9 K 2584/19.A – juris Rn. 36 ff.; VG Schleswig U.v. 15.5.2020 – 10 A 596/19 – juris Rn. 20).
Das Bundesverwaltungsgericht hat bislang entschieden, dass eine behördliche Aussetzungsentscheidung unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen darf, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen – das ist hier grundsätzlich nicht der Fall – oder „aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser [gemeint: Zweifels-]Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind“ (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 27). Gemäß der im Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgenommenen Verknüpfung der Aussetzungsentscheidung mit der individuellen Garantie des Rechtsschutzes stellt auch das Bundesverwaltungsgericht die allgemeine „Missbrauchsprüfung“ in den engen Zusammenhang mit der Berücksichtigung der Effektivität des Rechtsschutzes; denn in seiner konkreten Entscheidung ging es gerade darum, wegen einer vom dortigen Kläger erhobenen Verfassungsbeschwerde (und der Bitte des Bundesverfassungsgerichts an das Bundesamt, eine „Stillhalteerklärung“ abzugeben) die Vollziehung auszusetzen (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 32). In der Sache fand daher die nachträgliche Aussetzung ihre Rechtfertigung in der dadurch ermöglichten Gewinnung von Erkenntnissen durch das konkrete gerichtliche Verfahren und konnte überhaupt nur deshalb mit dem Beschleunigungsgedanken und den Interessen des zuständigen Mitgliedstaats vereinbar sein. Hieraus wird deutlich, dass auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine nachträgliche Aussetzung die Überstellungfrist nicht unterbrechen kann, wenn die Aussetzung (nur) dazu dient, auf außerhalb des konkreten Sachverhalts- und des konkreten Verfahrens liegende Entwicklungen (wie das Auftreten einer Pandemie und damit zusammenhängender rechtlicher oder auch nur tatsächlicher Überstellungshindernisse) zu reagieren. Somit liegt – mag die Corona-Pandemie für sich genommen auch ein sachlich gerechtfertigter Anlass für das Verhalten der Beklagten sein – ein Überschreiten der Missbrauchsschwelle vor und wird die Überstellungsfrist nicht unterbrochen (anders VG Osnabrück, B.v. 12.5.2020 – 5 B 95/20 – juris Rn. 12 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 15.6.2020 – 22 L 701/20.A – BA S. 3 [bisher nur veröffentlicht in der Datenbank Milo]; VG Würzburg, GB v. 11.5.2020 – W 8 20.50114 – GBA S. 19 [bisher nur veröffentlicht in der Datenbank Milo]).
Die Befugnis einer von rechtlichen oder tatsächlichen Unsicherheiten des konkreten Falles losgelösten, pauschalen und flächendeckenden Fristunterbrechung konterkarierte im Übrigen auch das Ziel der Dublin III-Verordnung, durch ein strenges Fristenregime die rasche Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats sicherzustellen (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO), und zu verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden. Dieser dominierende Beschleunigungsgedanke erfährt in der Verordnung selbst nur begrenzt und ebenfalls bezogen auf den konkreten Einzelfall eine Durchbrechung (insbesondere durch die Fristverlängerungsmöglichkeit nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO im Falle der Inhaftierung oder Flucht – ein solcher Fall liegt nicht vor). Die Verlängerungstatbestände sind als Ausnahmetatbestände eng auszulegen und kann daher im vorliegenden Fall die Aussetzungsentscheidung die Frist nicht unterbrechen.
Angesichts der gebotenen Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung können auch die übrigen Regelungen des Bescheides keinen Bestand haben. Die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, nebst der Abschiebungsanordnung sind jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1, 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.

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