Europarecht

Verweisungsbeschluss – Verfahrensverzögerungen sind abzuwenden

Aktenzeichen  34 AR 111/19

Datum:
13.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
MDR – 2019, 1404
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 32, § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 281 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

Zur Frage der Willkür bei Klagen in vom Abgasskandal betroffenen Verfahren, wenn das Gericht die grundsätzlich wahlweise bestehende Zuständigkeit an jedem Begehungsort (Handlungs-, Erfolgs- oder Schadensort) nur unzureichend geprüft hat.

Tenor

1. Örtlich zuständig ist das Landgericht München I. 2. Dessen Beschluss vom 17. April 2019 wird aufgehoben.

Gründe

I.
Mit ihrer zum Landgericht München II (Az.: zunächst 12 O 5403/18) erhobenen Klage vom 19.12.2018 begehrt die im Bezirk dieses Landgerichts wohnhafte Klägerin von der im Bezirk des Landgerichts Braunschweig ansässigen Beklagten u.a. Zahlung von Schadensersatz Zug um Zug gegen Rückgabe eines vom sogenannten Abgasskandal betroffenen Diesel-Fahrzeugs. Das Fahrzeug hatte sie am 21.7.2012 für 22.500,00 € bei einem im Bezirk des Landgerichts München I ansässigen Autohändler erworben, wobei ausweislich des Kaufvertrages der Kaufpreis abzüglich des Wertes des vom Händler in Zahlung genommenen Altfahrzeugs der Klägerin bei Bereitstellung des Fahrzeugs in bar gezahlt wurde.
Die Klägerin führt aus, die Beklagte habe durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs unter Verschweigen der gesetzwidrigen Softwareprogrammierung eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung begangen. Die Organe der Beklagten hätten gegenüber der Klägerin – jedenfalls in mittelbarer Täterschaft – den Tatbestand des Betrugs erfüllt, indem sie Dieselmotoren mit einer gesetzwidrig programmierten Motorsteuerungssoftware in den Verkehr gebracht und somit die Klägerin über die Gesetzeskonformität des Fahrzeugs getäuscht haben.
Mit Verfügung vom 24.1.2019 hat das Landgericht München II die Durchführung eines schriftlichen Vorverfahrens angeordnet und darauf hingewiesen, dass gegen seine örtliche Zuständigkeit Bedenken bestünden.
Mit Schriftsatz vom 12.2.2019 beantragte die Klägerin, unter nochmaligem Hinweis darauf, dass ihrer Ansicht nach das Landgericht München II zuständig sei, hilfsweise Verweisung an das Landgericht München I.
Mit Beschluss vom 12.3.2019 hat sich das Landgericht München II für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht München I verwiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, eine Zuständigkeit des Landgerichts München II sei nicht gegeben, da der Handlungsort der behaupteten deliktischen Ansprüche nicht im Bezirk des Landgerichts München II läge. Eine Zuständigkeit ergebe sich auch nicht im Hinblick auf den behaupteten Schadenseintritt. Die Bestellung des Fahrzeugs sei am Sitz des Händlers und damit im Bezirk des Landgerichts München I erfolgt. Die behauptete schadensstiftende Vermögensverfügung in Form der Verpflichtung zur Kaufpreiszahlung sei daher nicht im Bezirk des Landgerichts München II, sondern am Sitz des Verkäufers im Bezirk des Landgerichts München I getroffen worden, weshalb bereits dort der Vermögensschaden eingetreten sei und sich am Wohnsitz der Klägerin lediglich perpetuiert habe.
Das Landgericht München I (Az.: 34 O 3485/19) hat nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 17.4.2019 das Verfahren an das Landgericht München II zurückverwiesen. Der Beschluss des Landgerichts München II entfalte keine Bindungswirkung und sei willkürlich. Zwar sei für die Annahme objektiver Willkür nicht ausreichend, dass das verweisende Gericht einem Rechtsirrtum unterliegt. Verneint werde die Bindung aber bei einer Verweisung durch ein nach Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Entscheidung zuständiges Gericht unter Übergehung einer eindeutigen Zuständigkeitsvorschrift. Vorliegend habe das Bayerische Oberste Landesgericht mit Beschluss vom 23.1.2019 in einem Verfahren des Landgerichts München II mit dem Az. 2 O 401/18 entschieden, dass in den gegen den Hersteller gerichteten Verfahren eine Zuständigkeit nach § 32 ZPO sowohl bei dem Gericht am Sitz des Herstellers, am Sitz des Händlers als auch am Wohnsitz des Käufers zu bejahen sei. Dieser Beschluss sei dem Landgericht München II bekannt gewesen. Mithin habe das Landgericht München II in Kenntnis der Zuständigkeit am Wohnsitz des Käufers seine Zuständigkeit dennoch abgelehnt.
Mit Beschluss vom 2.5.2019 hat das Landgericht München II (Az. nunmehr: 12 O 1565/19) das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Gerichts dem Oberlandesgericht München vorgelegt (Az.: 34 AR 111/19).
II.
Die Voraussetzungen einer Zuständigkeitsbestimmung gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO durch das Oberlandesgericht München, zu dessen Bezirk beide Landgerichte gehören, liegen vor. Das Landgericht München II und das Landgericht München I haben sich im Sinne dieser Vorschrift bindend für unzuständig erklärt; das Landgericht München II durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 12.3.2019 (§ 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO), das Landgericht München I durch eine seine Zuständigkeit verneinende Entscheidung vom 17.4.2019. Eine solche Zuständigkeitsleugnung genügt den Anforderungen, die an das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind (vgl. BGH NJW-RR 2013, 764; OLG Hamm NJW 2016, 172; Hüßtege in Thomas/Putzo ZPO 40. Aufl. § 36 Rn. 23 m. w. N.).
1. Gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO sind Verweisungsbeschlüsse im Interesse der Prozessökonomie und zur Vermeidung von verfahrensverzögernden Zuständigkeitsstreitigkeiten unanfechtbar. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung (st. Rechtspr.; BGHZ 102, 338/340; BGH NJW 2002, 3634/3635; Zöller/Greger ZPO 32. Aufl. § 281 Rn. 16). Die Bindungswirkung entfällt nicht schon dann, wenn der ergangene Beschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist, sondern nur dann, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (BGH NJW 2002, 3634/3635; NJW-RR 2013, 764/765; Zöller/Greger § 281 Rn. 17 m. w. N.). Dies ist der Fall, wenn er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich erachtet werden muss, z.B. weil der Akteninhalt eindeutige Hinweise auf die Zuständigkeit des verweisenden Gerichts gibt, das verweisende Gericht selbst zu erkennen gegeben hat, dass es sich für zuständig hält oder auch, wenn die allgemeine Systematik des Verfahrensrechts eine derartige Verweisung überhaupt nicht vorsieht. Bloßer Rechtsirrtum jedoch lässt die Bindungswirkung nicht entfallen (BGH NJW-RR 1992, 902; NJW-RR 2011, 1364; Zöller/Greger § 281 Rn. 17). Stellt sich eine Verweisung als im Ergebnis vertretbar dar und ist der betreffende Beschluss, auch wenn er von einer einhelligen oder herrschende Meinung abweicht, eingehend begründet, ist von einer Bindungswirkung des Verweisungsbeschluss auszugehen, selbst wenn das verweisende Gericht einen maßgeblichen Gesichtspunkt übersehen hat. Eine gegebenenfalls unzutreffende Prüfung einer Zuständigkeitsnorm begründet grundsätzlich keinen derart schwerwiegenden Rechtsfehler, dass der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (BGH NJW-RR 2015, 1016; BayObLG BeckRS 2019, 5991; OLG Hamm NJW-RR 2019, 186).
2. Gemessen daran sind ausreichende Anhaltspunkte für objektive Willkür vorliegend noch nicht erkennbar.
a) Zur Begründung des besonderen Gerichtsstands nach § 32 ZPO ist erforderlich, dass die Klägerin schlüssig Tatsachen behauptet, aus denen sich das Vorliegen einer im Gerichtsbezirk begangenen unerlaubten Handlung ergibt (Zöller/Schultzky § 32 Rn. 21 m. w. N.). Ob die geltend gemachten Ansprüche tatsächlich bestehen, hat der Senat nicht zu prüfen. Der Ort, an dem im Sinne des § 32 ZPO eine unerlaubte Handlung begangen ist (Begehungsort), ist sowohl der Ort, an dem der Täter gehandelt hat (Handlungsort), als auch der Ort, an dem in das geschützte Rechtsgut eingegriffen wurde (Erfolgsort), sowie, wenn der Schadenseintritt selbst zum Tatbestandsmerkmal der Rechtsverletzung gehört, der Ort des Schadenseintritts (BGH NJW 1996, 1411; BayObLG MDR 2003, 893; BayObLG NJOZ 2004, 2528; OLG Düsseldorf NJW-RR 2018, 573; Touissant in BeckOK ZPO 30. Edition § 32 Rn. 12.1; Rn. 13; Zöller/Schultzky § 32 Rn. 19). Bei mehreren Begehungsorten hat der Kläger grundsätzlich die Möglichkeit der Wahl zwischen den einzelnen Gerichtsständen gemäß § 35 ZPO (Zöller/Schultzky § 32 Rn. 21).
b) Die Klägerin hat die erforderlichen Tatsachen für einen Anspruch aus unerlaubter Handlung bzw. vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gegen die Beklagte schlüssig behauptet.
Eine Zuständigkeit wird grundsätzlich, auch wenn die Klage nur gegen den Hersteller gerichtet ist, wahlweise bei dem Gericht am Sitz des Herstellers, am Sitz des Händlers oder am Wohnsitz des Käufers bejaht (BayObLG BeckRS 2019, 5991; OLG Hamm NJW-RR 2019, 186; OLG Düsseldorf NJW-RR 2018, 573; OLG Stuttgart BeckRS 2018, 10638; Vossler in NJW 2018, 2201 [Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 6.6.2018, X ARZ 303/18]; Longrée in MDR 2018, 1348), in letzterem Fall dann, wenn dort das Klägervermögen belegen ist (BGH NJW 1996, 1411; BayObLG MDR 2003, 893; OLG Stuttgart BeckRS 2018, 10638; Zöller/Schultzky § 32 Rn. 19).
c) Es kann letztendlich dahinstehen, ob das Landgericht München II unzutreffend seine eigene Zuständigkeit verneint hat, auch wenn einige Umstände dafür sprechen könnten.
Das Landgericht München II hat sich mit den Voraussetzungen des Gerichtsstands der unerlaubten Handlung gemäß § 32 ZPO auseinandergesetzt und unter Bezugnahme auf zwei (nicht veröffentlichte) Entscheidungen seine örtliche Zuständigkeit mit der Begründung verneint, der bereits am Händlersitz eingetretene Vermögensschaden habe sich am Wohnsitz der Klägerin lediglich perpetuiert, was für die Begründung einer örtlichen Zuständigkeit nicht ausreichend sei. Dabei hat es jedoch übersehen, dass die Klägerin gemäß § 35 ZPO grundsätzlich an jedem Begehungsort (Handlungs-, Erfolgs- oder Schadensort) klagen kann (Zöller/Schultzky § 32 Rn. 21; Musielak/Voit ZPO 16. Aufl. § 32 Rn. 15). Dies stellt keinen derart schwerwiegenden Rechtsfehler dar, dass von einer nicht mehr im Rahmen des § 281 ZPO ergangenen Verweisung ausgegangen werden kann, zumal eine Zuständigkeit des Landgerichts München I als Gericht am Sitz des Händlers nach dem Klägervortrag jedenfalls in Betracht kommt, denn auf der Grundlage des Klagevorbringens hat der Abschluss des Kaufvertrages zu einer schadensgleichen Vermögensgefährdung geführt. Auf diesen Gesichtspunkt hat das abgebende Gericht die ausgesprochene Verweisung gestützt. Zudem könnten, was das Landgericht München II überhaupt nicht berücksichtigt hat, Bedenken gegen dessen örtliche Zuständigkeit deshalb bestehen, da das streitgegenständliche Fahrzeug ausweislich des von der Klägerin vorgelegten Kaufvertrages gegen Barzahlung beim Händler abgeholt wurde, weshalb schon nicht zwingend davon ausgegangen werden kann, dass tatsächlich am Wohnsitz der Klägerin der Vermögensschaden eingetreten ist.
Eine willkürliche Verweisung durch das LG München II ist auch nicht deshalb anzunehmen, weil, wie das Landgericht München I ausführt, das Bayerische Oberste Landesgericht in einem Verfahren der 2. Zivilkammer des Landgerichts München II entschieden hat, dass in allein gegen den Hersteller gerichteten Verfahren eine Zuständigkeit nach § 32 ZPO sowohl bei dem Gericht am Sitz des Herstellers, am Sitz des Händlers als auch am Wohnsitz des Käufers zu bejahen sei. Dass diese Entscheidung der hier befassten 12. Zivilkammer bekannt war und diese bewusst in Kenntnis ihrer eigenen Zuständigkeit die Verweisung ausgesprochen hat, kann nicht unterstellt werden. Zudem ist ein Verweisungsbeschluss nicht schon deshalb willkürlich, weil er von der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung und Literatur abweicht (OLG Karlsruhe BeckRS 2019, 11308). Etwas anderes mag gelten, wenn diese beharrlich ignoriert wird.
Daher ist vorliegend noch von einer Bindung des Verweisungsbeschluss des Landgerichts München II für das Landgericht München I auszugehen. Dessen Beschluss vom 17.4.2019 hebt der Senat daher klarstellend auf.
Allerdings ist anzumerken, dass mittlerweile in einer Vielzahl veröffentlichter obergerichtlicher Entscheidungen sowie in der Literatur die Frage der örtlichen Zuständigkeit nach § 32 ZPO bei Klagen gegen den Hersteller in vom sog. Abgasskandal betroffenen Verfahren ausführlich erörtert wird. Dabei ist einhellige Meinung, dass grundsätzlich wahlweise die Zuständigkeit an jedem Begehungsort (Handlungs-, Erfolgs- oder Schadensort) begründet sein kann (BayObLG BeckRS 2019, 5991; OLG Hamm NJW-RR 2019, 186; OLG Hamm BeckRS 2018, 38057; OLG Düsseldorf NJW-RR 2018, 573; OLG Stuttgart BeckRS 2018, 10638; Vossler in NJW 2018, 2201 [Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 6.6.2018, X ARZ 303/18]; Longrée in MDR 2018, 1348). Ein Verweisungsbeschluss, der sich mit den hier maßgeblichen zuständigkeitsbegründenden Voraussetzungen nicht genügend auseinandersetzt, könnte in Zukunft durchaus als willkürlich anzusehen sein.

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