Europarecht

Vorläufiger Rechtsschutz gegen drohende Überstellung wegen unklarer Zuständigkeit des ersuchten Staates im Dublin-Verfahren

Aktenzeichen  M 26 S 16.51166

Datum:
23.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 1
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, § 75 Abs. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 2, Abs. 4, Abs. 5

 

Leitsatz

Wird ein Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach der Dublin III-VO nicht beantwortet und lässt sich im Eilverfahren nicht klären, ob der ersuchte Mitgliedstaat, ein anderer Mitgliedstaat oder die Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist im Rahmen einer Interessenabwägung Eilrechtsschutz zu gewähren.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Nr. 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 25. November 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die drohende Überstellung nach Italien im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein Staatsangehöriger von Pakistan, reiste angeblich im November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 12. August 2016 einen Asylantrag. Nach Aktenlage – es ergaben sich am 12. August 2016 entsprechende Eurodac-Treffer der Kategorien eins und zwei – war der Antragsteller am 31. Oktober 2015 in Italien als illegal eingereist bzw. als illegal sich dort aufhaltend registriert worden und stellte dort am 12. November 2015 einen Asylantrag. Am 24. August 2016 stellte die Antragsgegnerin ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien, welches nicht beantwortet wurde.
Im Rahmen der persönlichen Anhörungen des Antragstellers am 15. September 2016 (Erst- und Zweitbefragung) gab dieser an, Pakistan Ende 2012 verlassen zu haben und über Weißrussland (mit Visum, Aufenthalt von 3,5 Jahren) und Polen (am 10. November 2015) mit dem Bus nach Deutschland gereist zu sein. In Deutschland sei er im November 2015 angekommen und von München aus mit dem Zug weiter nach Italien gefahren, weil er dort einen Freund gehabt habe. In Italien habe er Anfang Dezember 2015 Asyl beantragt. Er habe in Italien zwei Wochen lang in einer Kirche gelebt und für sein Essen selber sorgen müssen. Mangels Unterkunft und Geld sei er zurück nach Deutschland (…) gefahren, wo er am 23. Dezember 2015 Asyl beantragt habe. Das Visum von Weißrussland nach Deutschland habe er mit Hilfe eines Schleppers organisiert und hierfür 4.000,00 EUR gezahlt.
Nach Aktenlage besaß der Antragsteller ein vom 30. Juni 2015 bis 9. Juli 2015 gültiges Visum (Nr. D.; Bl. 65 der Behördenakte). Außerdem ist ersichtlich, dass die am 12. August 2016 vom Bundesamt durchgeführte Abfrage in der VIS-Datenbank ergab, dass dem Antragsteller am 25. September 2015 ein Visum (Nr. LTU…) für einen Kurzaufenthalt in den Schengen-Staaten vom 10. Oktober 2015 bis 21. Oktober 2015 erteilt wurde (Bl. 23 der Behördenakte). Weiter lässt sich ersehen, dass der Antragsteller am 23. Dezember 2015 in Deutschland (…) erkennungsdienstlich behandelt wurde (Bl. 28 der Behördenakte).
Mit Bescheid vom 25. November 2016, zugestellt am 26. November 2016, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), stellte fest, das Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG – nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 6 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4).
Zur Begründung führte es u. a. aus, dass Italien aufgrund des dort gestellten Asylantrags für dessen Behandlung zuständig sei. Gründe zur Annahme von systemischen Mängeln im italienischen Asylverfahren oder der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor.
Am … Dezember 2016 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers in dessen Namen Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Er beantragte die Aufhebung des Bescheids vom 25. November 2016, außerdem die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes, außerdem die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (M 26 K 16.51165). Weiter beantragte er,
die sofortige Vollziehbarkeit des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. November 2016 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das Hauptsacheverfahren außer Vollzug zu setzen.
Der Bevollmächtigte des Antragstellers kündigte an, dass eine Begründung in Kürze nachfolge.
Mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2016 übermittelte das Bundesamt für die Antragsgegnerin die Behördenakte in elektronischer Form. Sie wurde dem Bevollmächtigten des Antragstellers auf dessen Antrag mit gerichtlichem Schreiben vom 20. Dezember 2016 zur Einsichtnahme übermittelt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Verfahren M 26 K 16.51165 sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 und § 75 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) hat in der Sache Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen.
Der Antragsteller darf aufgrund offener Erfolgsaussichten der Hauptsache und seines das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an der Rückführung überwiegenden Interesses an der aufschiebenden Wirkung der Klage derzeit nicht nach Italien abgeschoben werden.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers u. a. in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Ob diese Voraussetzungen in Bezug auf den Antragsteller hinsichtlich der Zuständigkeit Italiens erfüllt sind, ist derzeit noch unklar. Eine abschließende Entscheidung hierzu muss – nach weiterer Sachverhaltsaufklärung – dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Nach dem derzeit bekannten Sachverhalt kann nicht sicher davon ausgegangen werden, dass Italien als Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller sich – entgegen seiner Angaben, aber ausweislich der erzielten Eurodac-Treffer – seit spätestens dem 31. Oktober 2015 aufhielt und wo er bereits am 12. November 2016 einen Asylantrag gestellt hat, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Denn aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 2, 4 Dublin lll-VO könnte sich die Zuständigkeit Litauens, nicht völlig auszuschließen sogar Deutschlands, ergeben. Nach Art. 12 Abs. 2 Dublin lll-VO ist der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, wenn der Antragsteller ein gültiges Visum besitzt. Dies gilt gem. Art. 12 Abs. 4 Dublin lll-VO aber auch dann, wenn der Antragsteller ein Visum besitzt, welches seit weniger als sechs Monaten abgelaufen ist, aufgrund dessen er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, solange er das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat.
Litauen wäre – vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse im Sinne des Art. 12 Abs. 5 Dublin III-VO – zuständig, wenn der Antragsteller unter Verwendung des bis zum 21. Oktober 2015 gültigen Schengen-Visums (Nr. LTU…, wobei LTU für Litauen steht), in das Gebiet der Mitgliedstatten eingereist ist. Hierfür spricht insbesondere die zeitnah zum Gültigkeitszeitraum erfolgte Registrierung des Antragstellers in Italien (31.10.2015). Der Antragsteller gab insoweit nachvollziehbar an, über Polen und Deutschland nach Italien weitergereist zu sein. Widersprüchlich sind allerdings die von ihm angegebenen Reise- und Antragsdaten, die nicht mit den aus den Eurodac-Treffern ableitbaren Informationen zu vereinbaren sind. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten seit der Einreise verlassen hat, bestehen aktuell nicht.
Die Gültigkeit des Visums war schließlich im Zeitpunkt der Asylantragstellung in Italien am 12. November 2015 seit weniger als sechs Monaten abgelaufen. Dieser Zeitpunkt ist hier maßgeblich, denn nach Art. 7 Abs. 2 der Dublin lll-VO kommt es für die Bestimmung des nach Kapitel III der Verordnung zuständigen Mitgliedstaates auf den Zeitpunkt der ersten Stellung eines Gesuchs auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat an (vgl. VG Stade, U. v. 28.9.2016 – 1 A 1454/14 – juris m. w. N.).
Im Übrigen würde auch für das weiter festgestellte Visum mit Gültigkeit vom 30. Juni 2015 bis 9. Juli 2015 (Nr. D.) gelten, dass es zum Zeitpunkt der maßgeblichen Antragstellung in Italien noch nicht länger als 6 Monate abgelaufen war.
Da eine abschließende Entscheidung über die vorstehende Frage des zuständigen Mitgliedstaats davon abhängt, ob noch und welche Erkenntnisse zum Sachverhalt ermittelt werden können, ist sie dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten.
Nach alledem verbleibt es somit bei einer allgemeinen Interessenabwägung. Das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage überwiegt hier das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids. Denn würde der Sofortvollzug in Kraft bleiben und auf dieser Basis eine Abschiebung tatsächlich durchgeführt, käme es trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache rein faktisch wohl zu einem nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten revidierbaren Zustand. Ein solches Vorgehen würde den Grundsätzen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) widersprechen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG)

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