Aktenzeichen L 12 KA 13/16
SGB V SGB V § 106 Abs. 5e
Leitsatz
1. Die individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V (idF vom 19.10.2012, BGBl. S. 2192) hat zusätzlich zu der ohnehin nach § 25 Abs. 1 SGB X notwendigen Begründung der Überschreitungen und möglichen Einsparpotenzialen im Widerspruchsbescheid zu erfolgen. (Rn. 26)
2. Die Trennung der Beratung in eine Festsetzung im Prüfbzw. Widerspruchsbescheid und die verwaltungsmäßige Umsetzung (Vollzug) in einem nachfolgenden Beratungsgespräch bzw. dessen Angebot begegnet keinen rechtlichen Bedenken. (Rn. 28)
Verfahrensgang
S 28 KA 1344/14 2015-12-08 Urt SGMUENCHEN SG München
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.12.2015, S 28 KA 1344/14 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte und die Beigeladenen zu 2) und 6) tragen die Kosten des Berufungsverfahrens zu je 1/3. Die Kosten der übrigen Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht Ziffer 2 Satz 2 des Widerspruchsbescheides aufgehoben. Der Senat schließt sich der zutreffenden Begründung des SG an und verweist auf dessen Ausführungen, § 153 Abs. 2 SGG.
Auch die in der Berufungsinstanz vorgetragenen Argumente führen zu keinem anderen Ergebnis.
Der Urteilstenor, mit dem das SG den Bescheid des Beklagten vom 8.7.2014 insoweit aufgehoben hat, als unter Ziffer 2 Satz 2 festgestellt wurde, dass die ausgesprochene Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgt ist, ist bestimmt genug. Denn aus den zur Auslegung des Tenors heranzuziehenden Entscheidungsgründen des Urteils (Keller in Meyer/Ladewig, Komm. zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 136, Rn. 5) ergibt sich, dass der Beklagte die in Ziffer 2 Satz 1 des Bescheides ausgesprochene Beratung zumindest noch anzubieten hat.
Das SG hat die streitige Ziffer auch zu Recht aufgehoben.
§ 106 Abs. 5e SGB V (idF vom 19.10.2012, BGBl. I S. 2192) lautet wie folgt:
„Abweichend von Absatz 5a Satz 3 erfolgt bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung nach Absatz 5a Satz 1. Ein Erstattungsbetrag kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeit-raum nach der Beratung festgesetzt werden. Dies gilt entsprechend, wenn ein Vertragsarzt die ihm angebotene Beratung abgelehnt hat. Im Rahmen der Beratung nach Satz 1 können Vertragsärzte in begründeten Fällen eine Feststellung der Prüfungsstelle über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten beantragen. Eine solche Feststellung kann auch beantragt werden, wenn zu einem späteren Zeitpunkt die Festsetzung eines Erstattungs-betrags nach Absatz 5a droht. Das Nähere zur Umsetzung der Sätze 1 bis 5 regeln die Vertragspartner nach Absatz 2 Satz 4. Dieser Absatz gilt auch für Verfahren, die am 31. Dezember 2011 noch nicht abgeschlossen waren.“
Auf die vorliegende Richtgrößenprüfung der Beigeladenen zu 1. war § 106 Abs. 5e SGB V anzuwenden, da das Prüfverfahren am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen war und die Entscheidung des Beklagten nach dem 25.10.2012 ergangen ist (vgl. BSG, Urteil vom 22.10.2014, Az. B 6 KA 3/14 R). Soweit argumentiert wurde, inwieweit sich eine erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens nur auf den Zeitraum nach Inkrafttreten der Neuregelung des Absatz 5e bezieht, hat sich der Senat hierzu schon in mehreren Urteilen geäußert (vgl. zuletzt Urteil des Senats vom 24.5.2017, L 12 KA 19/16). Die Neuregelung sollte demnach keine Zäsur bzw. Amnestie insoweit darstellen, dass eine erstmalige Überschreitung nur den Zeitraum nach der Neuregelung betrifft, vielmehr liegt bei Überschreitungen vor der Neuregelung dann keine erstmalige Überschreitung mehr vor (so auch BSG, Urteil vom 22.10.2014, B 6 KA 3/14 R, Rn. 58 ff.).
Nähere Regelungen der Partner der Gesamtverträge nach § 106 Abs. 5e Satz 6 SGB V zur Frage der Umsetzung des § 106 Abs. 5e Sätze 1 bis 5 SGB V existieren für den streitgegenständlichen Prüfungszeitraum nicht.
§ 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V verweist bezüglich der individuellen Beratung auf Absatz 5a Satz 1, der wiederum auf Absatz 1a Bezug nimmt. Danach berät in erforderlichen Fällen die in Absatz 4 genannte Prüfungsstelle die Vertragsärzte auf der Grundlage von Übersichten über die von ihnen im Zeitraum eines Jahres oder in einem kürzeren Zeitraum erbrachten, verordneten oder veranlassten Leistungen über Fragen der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung.
Nach der Gesetzesbegründung zum GKV-VStG sollte bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 v.H. „kein Regress festgesetzt werden, bevor den betroffenen Vertragsärztinnen und -ärzten daraufhin nicht zumindest eine einmalige Beratung angeboten wurde“ (BT-Drs. 17/6906, S. 79). Dementsprechend führt auch das BSG aus, dass Sinn und Zweck der Einfügung des § 106 Abs. 5e SGB V gewesen sei, Ärzte nach erstmaligem Überschreiten des Richtgrößenvolumens nicht unmittelbar einem – trotz der betragsmäßigen Begrenzung durch § 106 Abs. 5c Satz 7 SGB V wirtschaftlich belastenden – Regress auszusetzen, sondern ihnen über eine eingehende „Beratung“ zunächst ohne finanzielle Konsequenzen für die Praxis die Möglichkeit zu geben, ihr Verordnungsverhalten bei Arznei- und Heilmitteln zu modifizieren (BSG, Urteil vom 22.10.2014, Az. B 6 KA 3/14 R, Rn. 65).
Das SG hat hierzu zutreffend ausgeführt, dass die individuelle Beratung nach Absatz 5e zusätzlich zu der ohnehin nach § 35 Abs. 1 SGB X notwendigen Begründung der Überschreitungen und möglichen Einsparpotenzialen im Widerspruchsbescheid zu erfolgen hat. Diese Notwendigkeit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der maßgeblichen Vorschrift, denn nach Absatz 5e Satz 3 kann ein Vertragsarzt die ihm „angebotene“ Beratung ablehnen. Ein Angebot setzt bereits begrifflich die Möglichkeit der Annahme oder der Verweigerung voraus, was allein nach Ausspruch einer „erfolgten“ Beratung in einem schriftlichen Bescheid nicht möglich ist. Im Übrigen gehen die Ausführungen im Widerspruchsbescheid zu den Einsparpotenzialen der Beigeladenen zu 1. auch nicht über das hinaus, was im Rahmen der Begründungspflicht nach § 35 SGB X zu verlangen ist. Hierin gleichzeitig eine vom Gesetz verlangte individuelle Beratung zu sehen, würde der Intention des Gesetzgebers, mit dem ausdrücklichen Beratungsangebot eine Änderung des Verordnungsverhaltens herbeizuführen, nicht gerecht. Auch hätte es des Umsetzungsauftrages des § 106 Absatz 5b Satz 6 an die untergesetzliche Ebene nicht bedurft, wenn sich durch die Neuregelung keine Änderung gegenüber der alten Rechtslage hätte ergeben sollen.
Entsprechend haben die Vertragspartner die Prüfvereinbarung, gültig ab dem Quartal 1/15 in § 17 entsprechend angepasst. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 der (neuen) Prüfvereinbarung erfolgt die individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e S. 1 SGB V durch Festsetzung im Bescheid. Nach Satz 2 der Vorschrift wird die Maßnahme der individuellen Beratung von der Prüfungsstelle vollzogen, findet in einem persönlichen (auf Wunsch des Vertragsarztes auch fernmündlichen) Gespräch statt und soll dem Vertragsarzt zeitnah angeboten werden. Lehnt der Vertragsarzt eine Beratung ab, stellt die Prüfungsstelle in einem Feststellungsbescheid fest, dass der Vertragsarzt als beraten im Sinne des § 106 Abs. 5e S. 1 SGB V gilt. Der weitere Ablauf der Beratung wird in § 17 Abs. 2 der PV (neu) näher dargestellt. Mit dieser (neuen) Regelung wird letztlich das kodifiziert, was der Beklagte für den streitgegenständlichen Zeitraum für rechtlich und praktisch nicht umsetzbar hält.
Die von dem Beklagten monierte Trennung der Beratung in eine Festsetzung im Prüfbzw. Widerspruchsbescheid und die verwaltungsmäßige Umsetzung (Vollzug) in einem nachfolgenden Beratungsgespräch bzw. dessen Angebot begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Verwaltungsaktqualität hat zunächst nur die Festsetzung der Beratung im Bescheid, die Durchführung der Beratung ist lediglich dessen Vollzug, der nicht angefochten werden kann. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass der Vertragsarzt eine angebotene Beratung auch ablehnen kann. Das reine Angebot der Beratung hat schon mangels Regelungscharakter keine Verwaltungsaktqualität.
Rechtsunsicherheit ist durch diese Auslegung – wie auch die Umsetzung in der neuen Prüfvereinbarung zeigt – nicht zu befürchten. Der Beklagte verfängt auch nicht mit dem Argument, der Zeitpunkt der Beratung würde sich durch eine zusätzlich zum schriftlichen Bescheid erforderliche Beratung immer weiter nach hinten hinaus schieben. Vielmehr hat es der Beklagte bzw. die Prüfstelle durch zeitnah angebotene Beratungen selbst in der Hand, auf einen kurzen Verfahrensablauf hinzuwirken. Zudem kann eine Beratung nur auf eine Verhaltensänderung in der Zukunft hinwirken. Insoweit geht das Argument des Beklagten – eine Beratung könne am Verordnungsverhalten für zurückliegende Zeiträume nichts ändern und sei bloße Förmelei – ins Leere.
Soweit die Beigeladene zu 2. ausführt, dass mit Abs. 5e lediglich der Grundsatz „Beratung vor Regress“ Einzug ins Gesetz finden sollte, ohne zusätzliche Anforderungen an die Beratung zu stellen, für dies zu keinem anderen Ergebnis. Es hätte des Zusatzes „individuelle“ Beratung nicht bedurft, hätte die Regelung nur zur Verankerung des Grundsatzes gedient. In diesem Fall wäre der alleinige Hinweis in Abs. 5e Satz 1 auf Abs. 5a Satz 1 ausreichend gewesen. Auch die Argumentation, die Regelung hätte nach der Gesetzesbegründung in erster Linie Jungpraxen im Auge, greift nicht. Die Regelung wollte vielmehr das wirtschaftliche Risiko einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens kalkulierbar halten, indem in diesem Fall zumindest eine einmalige Beratung angeboten werden soll. Bei einer erstmaligen Überschreitung sind Jungpraxen aber nicht schutzbedürftiger als bisher nicht auffällig gewordene Altpraxen. In diesem Sinne argumentiert auch das BSG in seinem Urteil vom 22.10.2014, das eine Schutzbedürftigkeit von bereits in der Vergangenheit auffällig gewordenen Praxen verneint und insoweit eine Privilegierung von Vertragsärzten, die seit längerem nicht mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot im Einklang handeln, verneint (BSG, aaO, Rn 66). Diese Ärzte bedürften keiner Beratung, „diese wäre vielmehr bloße Förmelei“. Eine Anwendung des Grundsatzes ausschließlich auf Jungpraxen, wie der Beklagte meint, hat aber auch das BSG nicht gesehen. Wenn der Gesetzgeber dies gewollt hätte, hätte es seinen Niederschlag im Gesetzestext finden müssen. In der hier maßgeblichen Fassung des § 106 Abs. 5e SGB V stellt der Wortlaut aber nur auf die erstmalige Überschreitung ab, unabhängig davon, ob es sich um eine Jung- oder eine Altpraxis handelt.
Das SG hat daher Ziffer 2 Satz 2 des streitgegenständlichen Bescheides in zutreffendem Umfang aufgehoben.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 und 3 VwGO und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG, zuzulassen.