Aktenzeichen S 3 R 472/15
SGB VI SGB VI § 248 Abs. 3, § 256a, § 259a
GG GG Art. 3, Art. 14, Art. 100 Abs. 1
Leitsatz
Für vor dem 19.05.1990 in die Bundesrepublik übergesiedelte ehemalige DDR-Bürger ab Geburtsjahrgang 1937 werden Entgeltpunkte für Beitragszeiten im Beitrittsgebiet nach §§ 256a ff. SGB VI und nicht nach dem Fremdrentengesetz ermittelt. Auch eine historische Auslegung des am 01.01.1992 in Kraft getretenen Renten-Überleitungsgesetzes führt zu keinem anderen Ergebnis. (Rn. 20 und 44 – 58)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Rentenbescheid vom 12.11.2002 und der den Überprüfungsantrag vom 15.01.2015 ablehnende Bescheid vom 11.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2015 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch nach § 44 SGB X auf Änderung seiner Rentenbewilligung und Gewährung einer höheren Altersrente.
Denn seit Inkrafttreten des Renten-Überleitungsgesetzes vom 25.07.1991 (BGBl. I 1991, S. 1606 ff.) fehlt es an einer Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers, die von ihm im Beitrittsgebiet zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach Maßgabe des FRG bei der Ermittlung seiner Altersrente zu berücksichtigen.
Das FRG findet auf den Kläger keine Anwendung. Zwar hatte der Kläger, als er 1988 in das Bundesgebiet zuzog, eine Anwartschaft auf Berücksichtigung seiner im Beitrittsgebiet zurückgelegten Zeiten nach dem FRG in der damals geltenden Fassung. Nach dem auf dem Gedanken der Eingliederung basierenden FRG sollten die Berechtigten grundsätzlich so gestellt werden, als hätten sie ihr Versicherungsleben in der Bundesrepublik Deutschland verbracht (vgl. § 17 Abs. 1, § 15 Abs. 1 FRG in der bis 31.12.1991 geltenden Fassung). Demnach wurde ursprünglich bei der Anrechnung von Beitragszeiten in der DDR die für den Kläger maßgebliche Rentenbemessungsgrundlage nach der Anlage 1 zum FRG auf der Grundlage von Tabellenwerten ermittelt (§ 22 Abs. 1 FRG in der vom 01.01.1984 bis 30.6.1990 geltenden Fassung).
Im Zuge der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wurde das FRG jedoch geändert – insbesondere hinsichtlich der rentenrechtlichen Stellung der Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR. Der durch Art. 14 Nr. 14 Buchst. a RÜG zum 01.01.1992 neu gefasste § 15 Abs. 1 FRG schließt die Anwendbarkeit des FRG auf im Beitrittsgebiet zurückgelegte rentenrechtliche Zeiten aus. Ebenso wurde mit Art. 14 Nr. 16 Buchst. b RÜG zum 01.01.1992 § 17 Abs. 1 FRG a.F. gestrichen. Eine Anwendung des FRG sollte nur noch übergangsweise in Abhängigkeit von einem Rentenbeginn vor dem 01.01.1996 erfolgen, vgl. § 259a SGB VI i.d.F. des Art. 1 Nr. 75 RÜG. Davon war der Kläger nicht erfasst.
Im Jahr 1993 erfolgte dann rückwirkend zum 01.01.1992 die Begrenzung der Anwendung des FRG auf den aktuell noch erfassten Personenkreis durch § 259a SGB VI i.d.F. des Art. 1 Nr. 16 Buchst. b des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes (RÜ-ErgG vom 24.06.1993, BGBl. I, 1993, S. 1038 ff.): (Nur) für bis zum 18.05.1990 Zugezogene, die vor dem 01.01.1937 geboren wurden, werden die Entgeltpunkte weiter aufgrund der Anlagen 1 bis 16 zum FRG ermittelt. Zwar hatte vorliegend der Kläger am 18.05.1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet, jedoch wurde er erst 1938 geboren, so dass die Anwendbarkeit des FRG für ihn nicht über die Ausnahmeregelung des § 259a SGB VI eröffnet wird.
Vielmehr hat die Beklagte zutreffend die im Beitrittsgebiet zurückgelegten Zeiten des Klägers als Beitragszeiten nach § 248 Abs. 3 SGB VI berücksichtigt und für sie entsprechende Entgeltpunkte nach § 256a SGB VI ermittelt. Für die Wertbestimmung der klägerischen Rente ist damit aufgrund gesetzlich angeordneter Gleichstellung und entsprechend den allgemeinen Grundlagen des bundesdeutschen Rentenrechts das im Beitrittsgebiet individuell beitragsversicherte Erwerbseinkommen maßgeblich.
Das Sozialgericht sieht sich nicht veranlasst, den Rechtsstreit gemäß Art. 100 GG auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, denn es ist der Überzeugung, dass die Regelungen der §§ 256a, 259a SGB VI nicht gegen das Grundgesetz verstoßen.
Zur Verfassungsmäßigkeit der §§ 256a, 259a SGB VI haben bereits mehrere Landessozialgerichte (Hessisches LSG, Urteil vom 18.01.2013, Az. L 5 R 144/12 ZVW; Bayerisches LSG, Urteil vom 29.09.2014, Az. L 19 R 673/12; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.10.2016, Az. L 17 R 444/13) sowie insbesondere das Bundessozialgericht in seinem grundlegenden Urteil vom 14.12.2011 (Az. B 5 R 36/11 R) ausführlich Stellung genommen.
Das Bundessozialgericht und ihm folgend die Landessozialgerichte sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt, dass es keinerlei verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, dass auch vor dem 19.05.1990 in die Bundesrepublik Zugezogene durch §§ 256a, 259a SGB VI nunmehr vom Anwendungsbereich des FRG ausgenommen und im Zuge der Angleichung der Lebensverhältnisse den allgemeinen Bewertungsvorschriften des einheitlichen Rentenrechts in beiden Teilen Deutschlands unterworfen werden, wenn sie nach dem 31.12.1936 geboren wurden. Es liege kein Verstoß gegen das allgemeine rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip vor, insbesondere keine unzulässige Rückwirkung von Gesetzen. Denn die Verfassung gewähre keinen Schutz vor einer nachteiligen Veränderung der geltenden Rechtslage. Auch verstoße die vom Gesetzgeber gewählte Stichtagsregelung des § 259a SGB VI nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Und schließlich verstießen die mit dem RÜG und dem RÜ-ErgG eingeführten Regelungen der Ermittlung von Entgeltpunkten nach §§ 256a ff. SGB VI auch nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG. Selbst wenn man die aus dem FRG abgeleiteten Ansprüche und Anwartschaften dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG für den Fall unterstellen wollte, dass sie sich zusammen mit den in der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland erworbenen Rentenanwartschaften zu einer rentenrechtlichen Einheit verbinden, hätte der Gesetzgeber mit dem RÜG und dem RÜ-ErgG von seiner Befugnis zur Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) einen verfassungsgemäßen Gebrauch gemacht.
Die Kammer schließt sich dieser Einschätzung vollumfänglich an und verweist insofern auf die ausführliche verfassungsrechtliche Diskussion des BSG im zitierten Urteil vom 14.12.2011 (Az. B 5 R 36/11 R, Rn. 19-43, zit. nach juris).
Ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen:
In seinem Nichtannahmebeschluss vom 13.12.2016 (Az. 1 BvR 713/13) hat es das Bundesverfassungsgericht erneut offengelassen (wie bereits BVerfG, Beschluss vom 13.06.2006, Az. 1 BvL 9/00, 1 BvL 11/00, 1 BvL 12/00, 1 BvL 5/01, 1 BvL 10/04), ob Eigentumsschutz für eine rentenrechtliche Gesamtrechtsposition besteht, wenn – wie im Falle des Klägers – in der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland erworbene Rentenanwartschaften hinzukommen.
Ein solcher Eigentumsschutz für eine rentenrechtliche Gesamtrechtsposition dürfte jedoch nicht bestehen, weil die nach dem FRG erworbenen und die später hinzugekommenen Rentenanwartschaften bei einem Rentenversicherungsträger der Bundesrepublik Deutschland sich auch zu einem späteren Zeitpunkt teilen lassen und durchaus einem unterschiedlichen rechtlichen Schicksal zugänglich sind. Eine Verschmelzung der beiden unterschiedlichen Anwartschaften findet nicht so weit statt, dass hieraus ein unteilbarer Anspruch entstehen würde (Hessisches LSG, Urteil vom 25.03.2011, Az. L 5 R 334/09). Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben, denn selbst wenn diese rentenrechtliche Gesamtrechtsposition dem Schutze des Art. 14 Abs. 1 GG unterstünde, hat der Gesetzgeber in verfassungsrechtlich zulässiger Weise von seiner Befugnis zur Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums Gebrauch gemacht, vgl. hierzu die Ausführungen des BSG im oben zit. Urteil vom 14.12.2011 (Az. B 5 R 36/11 R).
Das BSG hat dargelegt, dass die Ersetzung der Regelungen des FRG durch eine fiktive Zuerkennung von in der gesetzlichen Rentenversicherung beitragsversicherten Entgelten nach Maßgabe der allgemeinen Regelungen des Überleitungsrechts nicht gegen das rechtsstaatliche Vertrauensprinzip verstößt, da die schlichte Erwartung, das geltende Recht werde auch in der Zukunft unverändert fortbestehen, verfassungsrechtlich nicht geschützt sei. Diese Auffassung findet auch im SGB VI selbst eine entsprechende Stütze. So bestimmt § 149 Abs. 5 Satz 3 SGB VI ausdrücklich, dass über die Anrechnung und Bewertung der im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten erst bei Feststellung einer Leistung entschieden wird. Das bedeutet, dass Versicherungsverläufe oder Rentenauskünfte unverbindlich sind und vom Versicherten stets unter dem Vorbehalt einer (zulässigen) Änderung der gesetzlichen Regelungen gewertet werden müssen. Selbst formelle, bestandskräftige Feststellungsbescheide können im Falle der konkreten Leistungsgewährung unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen noch aufgehoben oder abgeändert werden. Dabei ist noch wesentlich zwischen rentenrechtlichen Zeiten aufgrund eigener Beitragsleistung und sonstigen vom Gesetzgeber zuerkannten rentenrechtlichen Zeiten zu unterscheiden (Bayerisches LSG, Urteil vom 29.09.2014, Az. L 19 R 673/12).
Der Kläger kann auch nicht, worauf er wohl in seinem Schriftsatz vom 12.10.2015 abzielt, aus § 256a Abs. 3a SGB VI eine Bewertung seiner Zeiten im Beitrittsgebiet nach dem FRG herleiten. § 256a Abs. 3a SGB VI besagt, dass die Werte der Anlagen 1 bis 16 zum FRG als Verdienst gelten für Zeiten vor dem 01.07.1990, in denen Versicherte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik ohne das Beitrittsgebiet hatten und Beiträge zu einem System der gesetzlichen Rentenversicherung des Beitrittsgebiets gezahlt worden sind. Der Kläger trägt insoweit vor, der eindeutige Wortlaut des Absatzes 3a lasse es nicht zu, die beiden dort genannten Voraussetzungen für eine Bewertung nach dem FRG als gleichzeitig erfüllt zu verlangen. Zwar weist der Kläger zutreffend darauf hin, dass nach dem Wortlaut des Gesetzes die beiden Tatbestandsmerkmale „Zeiten vor dem 1. Juli 1990, in denen Versicherte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet hatten“ sowie „Beiträge zu einem System der gesetzlichen Rentenversicherung des Beitrittsgebiets gezahlt worden sind“ nur durch ein „und“, nicht dagegen durch „und gleichzeitig“ verbunden sind. Dennoch ergibt sich das Erfordernis, dass beide Merkmale zeitgleich vorliegen, unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift. Denn die Regelung des Absatzes 3a gilt „für Zeiten, in denen“ beide Tatbestandmerkmale verknüpft durch ein „und“, also kumulativ, vorliegen (nicht verknüpft durch ein „oder“, wonach alternativ das Vorliegen eines der beiden Merkmale ausreichen würde). Im Übrigen lassen sowohl Sinn und Zweck der Norm als auch die Entstehungsgeschichte und die systematische Stellung im Gesetz unzweifelhaft erkennen, dass diese beiden Voraussetzungen zeitgleich vorgelegen haben müssen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.10.2014, Az. L 17 R 444/13). Die Norm regelt die Beitragsbemessungsgrundlage für Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im alten Bundesgebiet und gleichzeitiger Beschäftigung im Beitrittsgebiet vor dem 01.07.1990 (vgl. Kasseler Kommentar/Gürtner, SGB VI, § 256a, Rn. 40).
Schließlich hält auch das zentrale Argument der Klägerseite, dass vor dem 19.05.1990 in die Bundesrepublik zugezogene Flüchtlinge und Übersiedler wie der Kläger von den Regelungen des RÜG gar nicht erfasst seien, einer kritischen rechtlichen Würdigung nicht stand.
Die Klägerseite ist der Auffassung, aus Art. 2 § 1 RÜG folge zwingend, dass sich das Renten-Überleitungsgesetz nur auf Personen beziehe, die, anders als der Kläger, am 18.05.1990 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatten. Die Anwendung des RÜG auch auf Übersiedler und Flüchtlinge widerspreche außerdem dem Willen des Gesetzgebers des RÜG und RÜ-ErgG, der keineswegs rentenrechtliche Nachteile – durch „Entzug“ der Regelungen des FRG – für Personen schaffen wollte, die vor dem 19.05.1990 in die Bundesrepublik übergesiedelt oder geflüchtet waren. Eine Überleitung von deren DDR-Renten könne es schon denknotwendig nicht geben, weil diese Personen mit der Ausbürgerung sämtliche Rentenansprüche in der ehemaligen DDR verloren haben.
Das Gericht kann sich einer derartigen Auslegung des RÜG nicht anschließen.
Um den wahren Willen des Gesetzes zu erforschen, kommt es auf den Wortsinn (1.), den systematischen Zusammenhang der Norm (2.), ihren Sinn und Zweck (3.) sowie die Entstehungsgeschichte der Norm (4.) an (vgl. z.B. Walz, Das Ziel der Auslegung und die Rangfolge der Auslegungskriterien, ZJS 2010, S. 482 ff.).
1. Grammatikalische Auslegung
Ausgangspunkt jeder Auslegung ist zunächst der Wortlaut des Gesetzes, der gleichsam die äußerste Grenze der Auslegung bildet.
Bei der grammatikalischen Auslegung erfolgt die Interpretation der Norm ausschließlich bzw. vorrangig nach ihrem Wortsinn. Nach dem Wortlaut des durch Art. 1 Nr. 71 RÜG in das SGB VI eingefügten § 256a Abs. 1 Satz 1 bezieht sich die dort geregelte Bemessung der Entgeltpunkte auf alle „Beitragszeiten im Beitrittsgebiet nach dem 8. Mai 1945“. Hierunter fallen auch die Beitragszeiten des Klägers im Beitrittsgebiet. Darauf, ob für diese Beitragszeiten noch Rentenanwartschaften gegenüber einem Rentenversicherungsträger der vormaligen DDR bestanden hätten oder ob diese wegen Flucht oder Übersiedlung in die BRD untergegangen sind, kommt es nach dem klaren Wortlaut des § 256a SGB VI nicht an.
Auch die Tatsache, dass durch Art. 14 Nr. 14 Buchst. a und Nr. 16 Buchst. b RÜG Beitragszeiten bei einem außerhalb des Geltungsbereichs des FRG befindlichen deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen aus dem Regelungsbereich der §§ 15 Abs. 1 und 17 Abs. 1 FRG ausdrücklich herausgenommen wurden, kann grammatikalisch nur dahingehend verstanden werden, dass Beitragszeiten in der ehemaligen DDR nicht mehr nach dem FRG bewertet werden sollten.
2. Systematische Auslegung
Die systematische Auslegung stellt auf die Systematik der Norm im Gesamtgefüge des Rechts und innerhalb des jeweiligen Gesetzes ab.
Die Klägerseite argumentiert, dass Personen wie der Kläger, die bis zum Stichtag 18.05.1990 von der DDR in die alte Bundesrepublik übergesiedelt oder geflohen waren, überhaupt nicht vom Regelungsgegenstand des RÜG erfasst würden. Denn nach Art. 2 § 1 RÜG beträfen dessen Regelungen ausschließlich die Versicherten des Beitrittsgebiets, die am 18.05.1990 im Beitrittsgebiet ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Dies sei beim Kläger eben nicht mehr der Fall gewesen.
Eine systematische Betrachtung des RÜG hat jedoch zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Die Änderungen des SGB VI durch das RÜG, insbesondere die Einfügung der §§ 256a und 259a SGB VI, sind in Art. 1 RÜG geregelt, ohne dass dort eine Beschränkung auf bestimmte Personen vorgenommen worden wäre. Art. 2 RÜG regelt sodann ein Übergangsrecht für Renten nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets. In § 1 des Art. 2 RÜG wird bestimmt, dass Anspruch auf Rente nach den Vorschriften des Art. 2 RÜG Personen haben, die unter anderem am 18.05.1990 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatten. Zwar fällt der Kläger tatsächlich nicht unter diese Personengruppe. Auf ihn sind deshalb auch nicht die Regelungen des Art. 2 RÜG anzuwenden, wohl aber diejenigen des Art. 1 RÜG, der ohne Beschränkung auf bestimmte Personengruppen gilt. Damit gilt für die klägerischen Beitragszeiten im Beitrittsgebiet auch § 256 a SGB VI, der unter Nr. 71 des Art. 1 RÜG eingeführt wurde.
3. Teleologische Auslegung
Die teleologische Auslegung stellt auf das Ziel sowie Sinn und Zweck der auszulegenden Norm ab. Sie führt vorliegend zu keinen klaren Erkenntnissen. Denn einerseits war es Ziel des RÜG, im Zuge der Angleichung der Lebensverhältnisse die Renten grundsätzlich den allgemeinen Bewertungsvorschriften eines einheitlichen Rentenrechts in beiden Teilen Deutschlands zu unterwerfen (sofern die Rentenberechtigten nach dem 31.12.1936 geboren sind). Andererseits hätte es aber auch ein nachvollziehbares gesetzgeberisches Ziel sein können, unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes es bei der Anwendung des FRG für alle Personen zu belassen, die bis zum Stichtag 18.05.1990 in die Bundesrepublik übergesiedelt oder geflüchtet waren.
4. Historische Auslegung
Die historische Auslegung stellt auf den historischen Zusammenhang bei Normentstehung und den ursprünglichen Willen des Gesetzgebers ab. Sie dient der Ermittlung des vom Gesetzgeber Gesagten oder Gewollten.
a) Die sog. subjektiv-historische Auslegung ist bestrebt, den Sinn zu erforschen, den der historische Gesetzgeber seinerzeit mit den von ihm gebrauchten Worten verbunden hat. Die Klägerseite stützt sich auf diese Auslegung des RÜG und trägt vor, dass es niemals Wille des 12. Deutschen Bundestages gewesen sei, mit dem RÜG vom 25.07.1991 Rentenanwartschaften von Flüchtlingen und Übersiedlern aus der DDR zu beschneiden. Wenn Verwaltung und Rechtsprechung das RÜG nunmehr in diesem Sinne auslegten, widerspreche dies eklatant dem Willen des historischen Gesetzgebers.
Hier stellt sich das praktische Problem, wie dieser historische Gesetzgebungswille zu ermitteln ist. Dafür sind die Gesetzesmaterialien heranzuziehen.
Bereits der 1. Gesetzentwurf zum RÜG der Bundesregierung und der Fraktionen der CDU/CSU und FDP in der 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages sah die oben dargestellten Neuregelungen bzw. Änderungen von SGB VI und FRG in dem Sinne vor, dass im Beitrittsgebiet zurückgelegte Beitragszeiten rückwirkend auch für Übersiedler und Flüchtlinge über § 248 Abs. 3 SGB VI anerkannt und für die Rentenhöhe grundsätzlich nach § 256a SGB VI berücksichtigt werden (BR-Drucks. 197/91, BT-Drucks. 12/405). Zur entsprechenden Änderung des § 15 FRG wird in der Gesetzesbegründung Folgendes angeführt, vgl. BT-Drucks. 12/405, S. 162:
„Die Änderung schließt die weitere Anerkennung von Beitragszeiten, die im Beitrittsgebiet zurückgelegt worden sind, auf der Grundlage dieses Gesetzes aus. Die Anrechnung und Bewertung von Beitragszeiten im Beitrittsgebiet ist ab 1. Januar 1992 ausschließlich in dem ab diesem Zeitpunkt für das ganze Bundesgebiet geltenden Sechsten Buch Sozialgesetzbuch geregelt.“
In der folgenden Stellungnahme des Bundesrates, in den Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung sowie im Plenum des Bundestages wurde die rückwirkende Ablösung des Fremdrentenrechts für Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR offensichtlich nicht weiter thematisiert, bevor das RÜG mit den maßgeblichen Regelungen letztlich verabschiedet wurde (vgl. hierzu die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages „Die rückwirkende Ablösung des Fremdrentenrechts für nach 1936 geborene Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR im Rahmen der Rentenüberleitung“, WD 6 – 3000-030/12).
Es mag durchaus so sein, dass die Ablösung des FRG für Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR tatsächlich verschiedenen Abgeordneten nicht bewusst war, obwohl sie aus dem Wortlaut des Gesetzentwurfs des RÜG sowie der Gesetzesbegründung ersichtlich gewesen wäre. Wie viele Abgeordnete dies waren, insbesondere ob sie die Mehrheit des Bundestages bildeten, lässt sich nicht mehr eruieren. Die Meinung einzelner (damaliger) Abgeordneter kann jedoch nicht ohne weiteres mit dem Willen des Gesetzgebers, d.h. mit dem allein entscheidenden Mehrheitswillen des Parlaments, gleichgesetzt werden.
Auch im Wege der subjektiv-historischen Auslegung vermag das Gericht daher nicht, zu der von der Klägerseite vertretenen Gesetzesauslegung zu gelangen.
b) Die sog. objektiv-historische Auslegung orientiert sich nicht allein an dem subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers, sondern auch an dem Gesetzessinn, den ein typischer Normadressat unter den aktuellen Umständen der gesetzlichen Regelung entnehmen kann und muss. Es sind also die weiteren Umstände, welche die Regelung nach ihrem Inkrafttreten begleitet und beeinflusst haben, in den Blick zu nehmen.
Der Deutsche Bundestag war seit 1991 wiederholt mit der vorliegend streitigen Rentenberechnung für Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR befasst und konnte sich nicht dazu durchringen, die Berechnung nach § 256a SGB VI für diese Personengruppe zu ändern oder auszuschließen bzw. eine Klarstellung vorzunehmen, dass seinerzeit etwas anderes gewollt war, als der Wortlaut des § 256a SGB VI widergibt:
Die Kleine Anfrage vom 23.05.2007 zur „Rentenberechnung für Übersiedler“ (BT-Drucks. 16/5466) beantwortete die Bundesregierung am 11.06.2011 dahingehend, dass grundsätzlich auch die Renten von Übersiedlern und Flüchtlingen nach § 256a SGB VI berechnet werden sollten (Ausnahme § 259a SGB VI), weil angesichts der Wiedervereinigung ein wesentlicher Grund für die Anwendung des FRG auf Übersiedler und Flüchtlinge entfallen sei und es längerfristig zu einer einheitlichen Behandlung der im Beitrittsgebiet zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten kommen sollte (BT-Drucks. 16/5571).
Die Anträge der SPD-Fraktion vom 13.04.2011 (BT-Drucks. 17/5516) sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 08.06.2011 (BT-Drucks. 17/6108) jeweils mit dem Titel „DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern“ und mit dem Ziel, eine Regelung für Bestandsübersiedler zu schaffen, so dass sich deren Renten (wieder) nach den Tabellenwerten 1 bis 16 des FRG berechnen würden, wurden mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP am 26.01.2012 abgelehnt.
Der im Wesentlichen gleichlautende Antrag vom 25.02.2016 „DDR-Altübersiedlerinnen und -Altübersiedler sowie DDR-Flüchtlinge vor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern“ der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drucks. 18/7699) wurde am 12.05.2016 abgelehnt, nunmehr mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD.
Damit hat der Deutsche Bundestag mehrmals bestätigt, dass es Wille des Gesetzgebers im Sinne einer parlamentarischen Mehrheit war und ist, die gesetzliche Regelung des § 256a SGB VI grundsätzlich auch auf Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR anzuwenden.
An diesen legislativen Willen sind Verwaltung und Gerichte gebunden.
Gründe, die nach dem Wortlaut des § 256a SGB VI vorgegebene Regelung unter Berücksichtigung weiterer Auslegungskriterien zu korrigieren, ergeben sich, wie gezeigt, gerade nicht.
Die Ermittlung der klägerischen Entgeltpunkte für Beitragszeiten im Beitrittsgebiet erfolgte damit zu Recht nach § 256a SGB VI, die angefochtenen Bescheide ergingen rechtmäßig. Der Klage war daher insgesamt der Erfolg zu versagen.
Die Kostenregelung folgt aus § 193 SGG.