Europarecht

Zurückweisungshaft bei Aufgreifen im grenznahmen Bereich

Aktenzeichen  1 XIV 87/17 (B)

Datum:
11.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 148321
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Mühldorf
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 15 Abs. 1 S. 1, § 57 Abs. 1, Abs. 3, § 60, § 62 Abs. 3
FamFG § 420 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Ist ein Ausländer von Österreich aus kommend mit einem Fernlinienbus Richtung Deutschland gereist und wurde er in engem örtlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Überquerung der Grenzlinie grenzpolizeilich kontrolliert, ist er noch nicht eingereist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Entsprechend ist Zurückweisungshaft iSd § 15 Abs. 1 S. 1 AufenthG und nicht Zurückschiebungshaft iSd § 62 AufenthG zu verhängen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3 Ob Fluchtgefahr vorliegt, bedarf einer umfassenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Gegen d. Betroff. wird Haft zur Sicherung der Zurückweisung angeordnet, §§ 57 Abs. 1, Abs. 3, 62 AufenthG.
2. Die Haft beginnt mit der Festnahme am 16.04.2017 und endet spätestens am 23.05.2017.
3. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

Gründe

I.
D. Betroff. ist nigerianischer Staatsangehörige/r.
D. Betroff. reiste am 16.04.2017 von Österreich kommend mit einem Flixbus Richtung Deutschland. Bei einer polizeilichen Kontrolle am 16.04.2017 konnte er keine aufenthaltslegitimierende Dokumente vorweisen.
Die beteiligte Ausländerbehörde beantragte am 08.05.2017 gegen d. Betroff. gemäß §§ 57 Abs. 1, 62 III, 60 AufenthG, 420 FamFG Zurückweisungshaft bis zur vollzogenen Zurückweisung, längstens jedoch bis zum 23.05.2017 anzuordnen.
Durch Beschluss des Amtsgerichts Kempten vom 17.04.2017 wurde gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis 15.05.2017 angeordnet.
II.
Im Rahmen der heutigen Vorführung wurde d. Betroff. gemäß § 420 I 1 FamFG in der gebotenen Weise vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt.
Der Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde ist d. Betroff. vor der Anhörung übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben worden. Ein Abdruck des Antrags ist d. Betroff. überlassen worden. D. Betroffene war in der Lage, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde zu äußern. Es handelt sich vorliegend um einen überschaubaren Sachverhalt, den d. Betroff. vor der Anhörung ausreichend erfassen konnte. Zudem hatte er bereits aufgrund der vorangegangenen polizeilichen Vernehmung Kenntnis von den tatsächlichen Umständen, die die Ausländerbehörde dem Antrag zugrunde gelegt hat.
Bei der mündlichen Anhörung am 11.05.2017 erklärte d. Betroff., dass seine Freundin schwanger sei.
Im übrigen wird auf die Niederschrift vom heutigen Tag Bezug genommen.
III.
Die zuständige Ausländerbehörde hat den Haftantrag zulässig und ausreichend begründet.
Der vorliegende Haftantrag genügt den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGH vom 15.09.2011, Az V ZB 123/11; vom 10.05.2012, Az V ZB 246/11). Insbesondere werden verlangt – wie hier erfolgt – Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Zurückweisungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Zurückweisung und zu der notwendigen Haftdauer, § 417 II 2 Nr. 3-5 FamFG. Das Darlegungserfordernis soll gewährleisten, dass das Gericht die Grundlagen erkennt, auf welche die Behörde ihren Antrag stützt, und dass das rechtliche Gehör d. Betroff. durch die Übermittlung des Haftantrags nach § 23 II FamFG gewahrt wird, wobei die Darlegungen knapp gehalten sein dürfen, solange sie die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falles ansprechen (BGH FGPrax 2011, 317).
Das Gericht erachtet diese Voraussetzungen unter Bezugnahme auf I. für erfüllt.
Ferner hat die Ausländerbehörde insbesondere schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum die Sicherungshaft in der beantragten Länge erforderlich und unverzichtbar ist (vgl. auch BGH vom 12.09.2013, Az V ZB 171/12).
Sie trägt hierzu plausibel vor:
Das erforderliche Konsultationsverfahren für die Zurückschiebung des Betroffenen nach Italien als zuständigen Mitgliedsstaat wurde unverzüglich eingeleitet und dauert im Regelfall 4 Wochen und weitere 8 Tage, wobei sich dieser Zeitansatz wie folgt zusammensetzt: 1 Woche Bearbeitungszeit bei der Bundespolizei und beim BAMF zwischen Aufgriff und Eingang des Wiederaufnahmegesuchs beim zuständigen Mitgliedsstaat, 2 Wochen Antwortfrist aufgrund des vorliegenden Eurodac-Treffers für die Zustimmung zur Überstellung, 1 Woche zur Erstellung des Haftantrags gemäß § 417 FamFG, Terminierung des Vorführtermins, Vorführung bei Gericht, während dieser Zeit bereits Erstellung und Übersendung des Bescheids durch das BAMF an den Betroffenen sowie Anlaufen der Organisation der tatsächlichen Überstellung (Flugbuchung etc.) durch die Bundespolizei und weitere 8 Tage für die Einhaltung der Rechtsmittelfrist gemäß § 34 a AsylVfG und Einhaltung der Überstellungsvorgabe durch den Mitgliedsstaat Italien mit einer Zeitspanne von mindestens 10 Werktagen zwischen Rückantwort und Überstellungstermin.
Die Dauer der Haft wird somit von der Behörde glaubhaft mit den für die Organisation und Durchführung der Zurückweisung nach Ungarn notwendigen Erfordernissen, mithin mit der voraussichtlichen Dauer des Rücknahmeverfahrens begründet. Die im Antrag angegebenen einzelnen Zeitspannen sind für die organisatorische Realisierung der Zurückweisung erforderlich, aber auch ausreichend.
Sollte das Rücknahmeverfahren vor Ablauf der Frist abgeschlossen sein, so ist die Behörde aufgrund des Beschleunigungsgebots gehalten, d. Betroff. unverzüglich zurückzuweisen, vgl. auch § 62 I 2 AufenthG.
Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft ist in Fällen der Zurückweisung ausweislich des Gesetzteswortlauts nicht erforderlich, § 72 IV AufenthG.
Der Betroffene ist von Österreich aus kommend mit einem Flixbus Richtung Deutschland gereist und wurde in engem örtlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Überquerung der Grenzlinie grenzpolizeilich kontrolliert. Er war folglich noch nicht eingereist. Entsprechend war vorliegend Zurückweisungshaft i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und nicht Zurückschiebungshaft i.S. des § 62 AufenthG zu verhängen.
Die Zurückweisungshaft ist verhältnismäßig, weil anderenfalls die Gefahr bestünde, dass sich der Betroffene der Zurückweisung nach Italien nicht stellen und untertauchen würde.
a) Fluchtgefahr i.d.S. ist das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich der Betroffene dem laufenden Überstellungsverfahren möglicherweise durch Flucht entzieht. Diese Fluchtgefahr hat sich an den in §§ 2 XV 1, XIX und 2 XV 2 AufenthG etablierten Kriterien zu bemessen. Diese Kriterien sind allerdings nur als Anhaltspunkte für das Bestehen von Fluchtgefahr zu verstehen und haben lediglich Indizwirkung. Grundsätzlich bedarf es einer umfassenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls.
Es besteht der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene der Zurückweisung durch Flucht oder Untertauchen entziehen will.
Die Annahme der Entziehungsabsicht setzt konkrete Umstände, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen d. Betroff. voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahelegen, dass d. Betroff. beabsichtigt unterzutauchen oder die Zurückweisung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (BGH vom 03.05.2012, Az V ZB 244/11; Renner, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rz 76).
Konkrete Anhaltspunkte i.S.d. § 2 Abs. 15, Abs. 14 AufenthG liegen in Folgendem begründet:
Der Betroffene erklärte bei seiner Befragung durch die Bundespolizei, dass er für Rückführungsmaßnahmen nicht bereitstünde (vgl. § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG).
D. Betroffene verfügt weder über einen festen Wohnsitz noch sonstige soziale Bindungen im Bundesgebiet.
b) Die Fluchtgefahr ist auch als erheblich zu qualifizieren.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Erheblichkeit als Begriff des Europarechts autonom auszulegen ist (amtliche Begründung, BT-Drucksache 18/4097, S. 32). Im Rahmen der Auslegung ist der Erwägungsgrund 20 der Dublin III-VO zu berücksichtigen, wonach die Inhaftierung lediglich als letztes Mittel – weniger einschneidende Maßnahmen sind nicht wirksam anwendbar – nach durchgeführter Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuordnen ist.
Aufgrund der Gesamtumstände erachtet das Gericht diese Erheblichkeit für gegeben. Der Betroffene führte bei seiner Reise Richtung Deutschland den italienischen Fremdenpass bzw. Aufenthaltstitel nicht mit sich.
Im übrigen wird ergänzend auf die Gründe des Antrages Bezug genommen.
Gründe, die ein Absehen von der Sicherungshaft gem. § 57 Abs. 1, Abs. 3, 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG rechtfertigen können, sind nicht ersichtlich bzw. nicht glaubhaft gemacht.
Im übrigen liegen Zurückweisungshindernisse nicht vor. Ob die Zurückweisung nach Italien zu Recht erfolgt, ist nicht vom Haftrichter, sondern von den jeweils zuständigen Verwaltungsgerichten zu entscheiden (BGH vom 25.02.2010, Az V ZB 172/09); der Haftrichter ist letztlich nicht befugt, über das Vorliegen von Zurückweisungshindernissen – mit wenigen Ausnahmen, die eine Sachverhaltsermittlung des Haftrichters erfordern (vgl. hierzu BGH a.a.O.) – zu entscheiden.
Umstände, die einer Durchführung der Zurückweisung innerhalb der nächsten 3 Monaten aus Gründen, die d. Betroff. nicht zu vertreten hat, entgegenstehen, sind nicht erkennbar (§ 57 Abs. 3, 62 Abs. 3 S. 4, IV 1 AufenthG).
Ein milderes Mittel als die Inhaftierung des Betroffenen im Sinne von § 62 Abs. 1 AufenthG ist nicht ersichtlich. Insbesondere ist – angesichts der unter Ziffer 3 dargelegten Gegebenheiten – die Hinterlegung von Ausweispapieren bzw. eine Meldeauflage bzw. die Auflage, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, vorliegend nicht ausreichend.
Das Verfahren beruht auf den §§ 416, 418, 419, 420, 421 FamFG.
Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung beruht auf § 422 Abs. 2 FamFG.

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