Europarecht

Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens aufgrund von Familienangehörigen im Asylverfahren

Aktenzeichen  M 12 K 14.50285

Datum:
1.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 11 lit. a, Art. 13 Abs. 1 S. 1
AsylG AsylG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Für den „verfahrensrechtlichen Familienverbund“ nach Art. 11 Dublin III-VO ist die Situation maßgeblich, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat (ebenso VG Stade BeckRS 2014, 52666). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Mai 2014 wird aufgehoben.
III.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
IV.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten – der Kläger durch Erklärung seines Bevollmächtigten vom … Juni 2015 und die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung – hierzu ihr Einverständnis erteilt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO -). Der Vertreter des öffentlichen Interesses hat seine Beteiligung in den Schreiben vom 11. und 18. Mai 2015 ausdrücklich auf die Übersendung der jeweiligen End- bzw. Letztentscheidung beschränkt.
1. Soweit die Klage mit der am … Juni 2015 bei Gericht eingegangenen Rücknahmeerklärung hinsichtlich der Verpflichtungsanträge (Klageanträge II. und III.) zurückgenommen wurde, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
2. Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 16. Mai 2014 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 des Asylgesetzes (AsylG; vormals: AsylVfG) als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
2.1. Die Beklagte hat den Asylantrag des Klägers vom 15. April 2014 zu Unrecht in Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 16. Mai 2014 als unzulässig abgelehnt.
Gemäß § 27a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das Bundesamt kann in einem solchen Fall die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Im Fall des Klägers ist die Beklagte aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013 in Kraft getretene Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, also auch auf das am 15. April 2014 gestellte Schutzgesuch des Klägers.
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Zwar ergibt sich vorliegend grundsätzlich eine Zuständigkeit Ungarns nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da der Kläger über Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Im Fall des Klägers kommt jedoch die gegenüber Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO vorrangige Zuständigkeitsbestimmung des Art. 11 a) Dublin III-VO zum Tragen. Nach dieser Vorschrift ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung der Anträge sämtlicher Familienangehöriger und/oder unverheirateter minderjähriger Geschwister zuständig, der nach den Kriterien für die Aufnahme für den größten Teil von ihnen zuständig ist, wenn mehrere Familienangehörige und/oder unverheiratete Geschwister in demselben Mitgliedstaat gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, dass die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam durchgeführt werden können und die Anwendung der in dieser Verordnung genannten Kriterien ihre Trennung zur Folge haben könnte. Aufgrund von Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ist für den „verfahrensrechtlichen Familienverbund“ nach Art. 11 Dublin III-VO die Situation maßgeblich, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Kläger seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat (vgl. VG Stade, B. v. 16.6.2014 – 1 B 871/14 – juris Rn. 13). Danach liegen im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für ein Familienverfahren im Sinne von Art. 11 a) Dublin III-VO vor. Der zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige und unverheiratete Kläger ist zusammen mit seinem Bruder und dessen Familie am 1. April 2014 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Nur einen Tag nachdem sein Bruder und dessen Familie beim Bundesamt um Asyl nachgesucht haben, hat auch der Kläger einen Asylantrag gestellt. Der Antrag auf internationalen Schutz vom 15. April 2014 wurde vom Kläger damit in so großer zeitlicher Nähe gestellt, dass sein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats sowie die Verfahren seines Bruders und dessen Familie gemeinsam durchgeführt werden können. Die Beklagte ist vorliegend gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO für die Prüfung der Asylanträge des Bruders des Klägers und dessen Familie – und damit für den Großteil der Familie – zuständig, da die Unterbringungsbedingungen in Ungarn für Familien mit minderjährigen Kindern systemische Schwachstellen aufweisen. Auf das Urteil des Gerichts vom 29. Februar 2016 im Verfahren M 12 K 14.50283, mit dem der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Mai 2014 aufgehoben wurde, wird insofern Bezug genommen. Die Beklagte ist daher auch für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig.
2.2. Ist die Feststellung nach § 27a AsylG rechtwidrig, ist auch kein Raum mehr für die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nach Ungarn. Die Abschiebungsanordnung in Nummer 2 des angegriffenen Bescheides vom 16. Mai 2014 war somit ebenfalls aufzuheben.
Das Bundesamt ist in der Folge kraft Gesetzes (vgl. § 31 Abs. 2 AsylG) verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. BayVGH, U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22).
3. Die Kostenfolge beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

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