Aktenzeichen M 7 K 15.50368
AsylG AsylG § 26a Abs. 1 S. 1, S. 3 Nr. 2, § 31 Abs. 4 S. 1
VwVfG VwVfG § 47
VO (EG) Nr. 343/2003 Art. 2 lit. j, Art. 16 Abs. 1 lit. e, Abs. 2, Art. 20 Abs. 1 lit. d S. 2, Abs. 2 S. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2
RL 2013/32/EU Art. 5, Art. 33 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 lit. a, Art. 52 Abs. 1
RL 2005/85/EG RL 2005/85/EG Art. 25 Abs. 2 lit. a
Leitsatz
Wurde der erste Asylantrag in einem Dublin-Mitgliedstaat noch unter der Geltung der Dublin II-VO gestellt und subsidiärer Schutz gewährt, bleibt diese Verordnung weiterhin anwendbar mit der Folge, dass der subsidiär Schutzberechtigte nach der Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat weiterhin als Asylsuchender gilt. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. März 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Mit dem Einverständnis der Beteiligten kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die statthafte Anfechtungsklage ist zulässig und begründet.
Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt den Kläger damit in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die ursprünglich auf § 27a AsylVfG a. F. gestützte Ablehnung des Asylantrags als unzulässig (Nummer 1 des Bescheides vom 19. März 2015) findet weder eine Rechtsgrundlage in § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, noch lässt sie sich im Wege der Umdeutung auf § 26a AsylG oder eine andere Rechtsgrundlage stützen.
Die Beklagte führt zwar zu Recht an, dass nach § 60 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 3 AufenthG ein Ausländer, der in einem anderen EU-Staat bereits als Flüchtling anerkannt worden ist, in Deutschland nicht erneut Flüchtlingsschutz oder den Status eines subsidiär Schutzberechtigten oder eine hieran anknüpfende Erteilung eines Aufenthaltstitels in Deutschland beanspruchen kann (BVerwG, U. v. 25. August 2014 – 10 C 7/13 – juris Rn. 6). Er genießt gem. § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ohne neuerliches Anerkennungsverfahren Schutz vor Abschiebung in den Herkunftsstaat. Dem Kläger ist allerdings nach dem Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 18. Juni 2015 nur subsidiärer Schutz („subsidiary protection“) zuerkannt worden und nicht die Flüchtlingseigenschaft („refugee status“), welche der von ihm gestellte Asylantrag mitumfasst (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 1, § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Mit seinem Asylfolgeantrag im Bundesgebiet begehrt er somit eine Aufstockung seines Schutzes.
Asylanträge, die wie der des Klägers vor dem 20. Juli 2015 gestellt worden sind, dürfen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht allein aufgrund von § 60 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 3 AufenthG als unzulässig abgelehnt werden, weil Art. 33 Abs. 2 lit. a) der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 nach der Übergangsvorschrift des Art. 52 Abs. 1 RL 2013/32/EU auf vor dem 20. Juli 2015 gestellte Asylanträge nicht anzuwenden ist (BVerwG, a. a. O., Rn. 11 u. B. v. 23. Oktober 2015 – 1 B 41/15 – juris). Für sie gilt die Vorgängerrichtlinie 2005/85/EG vom 1. Dezember 2005, nach deren Art. 25 Abs. 2 lit. a) die Mitgliedstaaten einen Asylantrag wegen Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat nur dann als unzulässig betrachten können, wenn der andere Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (BVerwG, a. a. O.). Dies ist hier jedoch gerade nicht der Fall. Da es sich bei der den Mitgliedstaaten in Art. 33 Abs. 1 lit. a) RL 2013/32/EU eingeräumten – und gegenüber der Vorgängerregelung erweiterten – Option um eine den Antragsteller belastende Änderung handelt, ermöglicht auch die Günstigkeitsbestimmung des Art. 5 RL 2013/32/EU keine vorzeitige Anwendung der Änderung auf vor dem 20. Juli 2015 gestellte Asylanträge (BVerwG, a. a. O., Rn. 12).
Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig lässt sich auch nicht auf § 31 Abs. 4 Satz 1, § 26a AsylG stützen. Es kann offen bleiben, ob – was zweifelhaft erscheint (vgl. VG Berlin, U. v. 22. Februar 2016 – 23 K 183.15 A – juris Rn. 22 m. w. N.) – eine auf § 27a AsylG gestützte Ablehnung eines Asylantrages als unzulässig überhaupt nach § 47 VwVfG in eine Feststellung gem. § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG umgedeutet werden kann. Jedenfalls ist § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG vorliegend wegen § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG nicht anwendbar. Nach dieser Ausnahmeregelung gilt die Drittstaatenregelung nicht, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem sicheren Drittstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist der Fall, weil die ursprüngliche Zuständigkeit Italiens für die Prüfung des über die Zuerkennung subsidiären Schutzes hinausgehenden Asylbegehrens nach Art. 10 Dublin II-VO mittlerweile gem. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO entfallen und auf die Beklagte übergegangen ist.
Obwohl der Kläger in Italien subsidiär schutzberechtigt ist, gelten für ihn entgegen der Auffassung der Beklagten noch die Dublin-Regelungen hinsichtlich der Zuständigkeitsbestimmung und zwar die Dublin II-VO (Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist; ABl EU Nr. L 50 S. 1) (vgl. VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 57/15 – juris Rn. 36 f. m. zahlreichen w. N.). Denn der Kläger hatte noch unter der Geltung der Dublin II-VO, nämlich am 26. Juni 2013, seinen ersten Asylantrag in der Europäischen Union (Italien) gestellt. Die Dublin II-VO wurde zwar gem. Art. 48 Abs. 1 Dublin III-VO (Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist; ABl L 180/31) zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 gestellte Anträge auf internationalen Schutz – gemeint ist damit der erste Antrag eines Fremden auf internationalen Schutz im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (Filzwieser/Sprung, Komm. z. Dublin III-Verordnung, Stand: 1. Februar 2014, Art. 49 K3; vgl. auch VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 57/15 – juris Rn. 34) -, bleibt sie jedoch gem. Art. 49 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO weiterhin anwendbar. Da subsidiär Schutzberechtigte, die nach Statusgewährung aus dem Aufnahmemitgliedstaat anschließend weiterreisen, nach der Dublin II-VO – anders als nach der Dublin III-VO – weiterhin als Asylsuchende gelten, weil ihr auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichteter Asylantrag im Sinne von Art. 2 lit. c) Satz 1 Dublin II-VO ohne Erfolg geblieben ist, bleibt die Dublin II-VO auf sie anwendbar (vgl. Marx, InfAuslR 2014, 227 f.; VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 57/15 – juris Rn. 36 f.). Nach Art. 16 Abs. 1 lit. e) und Abs. 2 Dublin II-VO ist der zuständige Mitgliedstaat als auch der Staat, der einen Aufenthaltstitel erteilt hat – hier in beiden Fällen Italien -, gehalten, einen abgelehnten Asylsuchenden, der sich unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Art. 20 Dublin II-VO wieder aufzunehmen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Auch wenn der Kläger bei seiner Einreise ins Bundesgebiet im Besitz eines gültigen italienischen Aufenthaltstitels für subsidiär Schutzberechtigte war und sich damit (sowie einem hier wohl fehlenden gültigen Reisedokument) bis zu drei Monate gem. Art. 21 Abs. 1 des Schengener Durchführungsabkommens (SDÜ) frei im Bundesgebiet bewegen konnte, entfällt deshalb nicht der unerlaubte Aufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 lit. e) Dublin II-VO (VGH BW, a. a. O., Rn. 38 f.). Denn von einem erlaubten Aufenthalt ist erst auszugehen, wenn der betreffende Aufenthaltsstaat einen Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 lit. j) Dublin II-VO ausgestellt und damit den Aufenthalt des Asylsuchenden selbst legitimiert hat (VGH BW, a. a. O.). Wegen des gültigen italienischen Aufenthaltstitels war die Wiederaufnahmeverpflichtung zunächst auch nicht gem. Art. 16 Abs. 3 Dublin II-VO erloschen.
Nachdem mittlerweile die sechsmonatige Überstellungsfrist (Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 Dublin-II-VO) abgelaufen ist, ist allerdings die ursprüngliche Zuständigkeit Italiens nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen. Die Überstellungsfrist des Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 Dublin II-VO ist spätestens sechs Monate nach Zustellung des unanfechtbaren Ablehnungsbeschlusses gem. § 80 Abs. 5 VwGO am 7. Mai 2015, also am 7. Dezember 2015 abgelaufen (vgl. BVerwG, B. v. 27. April 2016 – 1 C 22/15 – juris Rn. 21 u. U. v. 9. August 2016 – 1 C 6/16 – juris Rn. 14 ff.). Seit diesem Zeitpunkt war der Asylantrag nicht mehr nach § 27a AsylG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig.
Folglich kommt nach den einschlägigen europarechtlichen Regularien eine Anordnung der Abschiebung in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nach § 34a AsylG ebenfalls nicht mehr in Betracht. Dass Italien sich entgegen der europarechtlichen Bestimmungen nicht auf den Fristablauf berufen wird und ausnahmsweise dennoch zur Übernahme des Klägers bereit ist, ist nicht ersichtlich. Hiervon kann grundsätzlich auch nicht ausgegangen werden (BayVGH, B. v. 11. Februar 2015 – 13a ZB 15. 50005 – juris Rn. 4).
Jedenfalls dann kann sich der Kläger auf den Ablauf der Überstellungsfrist ungeachtet dessen berufen (vgl. BVerwG, U. v. 27. April 2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 20; BayVGH, B. v. 3. August 2015 – 11 ZB 15.50085 – juris Rn. 14 u. B. v. 29. April 2015 – 11 ZB 15.50033 – juris Rn. 16; VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 30, 37; OVG BB, U. v. 21. April 2016 – 3 B 16.15 – juris Rn. 34), dass ein Asylbewerber der Überstellung in den nach den Dublin-Verordnungen für ihn zuständigen Mitgliedstaat nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegentreten kann (vgl. BVerwG, B. v. 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – juris Ls; VGH BW, a. a. O., Rn. 28).
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist ferner geklärt, dass die angefochtene Entscheidung gem. § 27a AsylVfG auch nicht auf der Grundlage von § 71a AsylVfG aufrechterhalten werden kann. Weder kann sie als negative Entscheidung über einen Zweitantrag angesehen noch in eine solche umgedeutet werden (vgl. BayVGH, a. a. O.; VGH BW, a. a. O., Rn. 35 ff.; OVG Hamburg, B. v. 2. Februar 2015 – 1 Bf 208/14.AZ – juris Rn. 12 ff.). Die Zuständigkeitsprüfung nach den Dublin II- und III-Verordnungen ist der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und von dem Verfahren zur inhaltlichen Prüfung des Asylverfahrens zu unterscheiden (BayVGH, B. v. 11. Februar 2015 – 13a ZB 15. 50005 – juris Rn. 9). Der Ausspruch, dass der Asylantrag mangels Zuständigkeit unzulässig ist, enthält nicht zugleich eine materiell-rechtliche Aussage dahingehend, dass ein weiteres Asylverfahren im Sinn von § 71a AsylG nicht durchzuführen ist (BayVGH, B. v. 15. April 2014 – 13a ZB 15.50066 – juris Rn. 5). Während die Entscheidung der Beklagten auf die Unzulässigkeit im Sinne des § 31 Abs. 6 AsylVfG gerichtet war sowie darauf, die zwingende Rechtsfolge des § 34a Abs. 1 AsylG herbeizuführen, wird mit der Entscheidung zu § 71a AsylG die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, d. h. ein Wiederaufgreifen eines nicht mehr angreifbaren Verfahrens abgelehnt, die dann in erster Linie die Rechtsfolge des § 71a Abs. 4 i. V. m. § 34 bzw. § 36 AsylVfG (in Bezug auf den Herkunftsstaat) auslöst und damit eine völlig andere Qualität hat als eine Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (in den anderen Mitglied- oder Vertragsstaat) (VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 41). Daran, dass der Verwaltungsakt nicht auf das gleiche oder ein im Wesentlichen gleiches Ziel gerichtet wäre und im Übrigen ungünstigere Rechtsfolgen für den Kläger zeitigen würde, würde auch eine Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG scheitern (vgl. VGH BW, a. a. O.; BayVGH, B. v. 13. April 2015 – 11 ZB 14.50055 – juris Rn. 15).
Nach allem war der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gem. § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.