Europarecht

Zuständigkeit für ein weiteres Asylverfahren nach Verlassen des Hoheitsgebiets der Mitgliedsstaaten für mehr als drei Monate

Aktenzeichen  B 3 S 17.50616

Datum:
23.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 34a Abs. 1, § 36 Abs. 4, § 75 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 19 Abs. 2, Art. 23 Abs. 4, Art. 25 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Der Fiktionseintritt des Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO setzt ein formell ordnungsgemäßes und prüffähiges Wiederaufnahmegesuch voraus. (Rn. 23)
2. Ein nach der Periode der Abwesenheit iSd Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO gestellter Asylantrag gilt als neuer Antrag, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats auslöst. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der EURODAC-Treffer für Italien aus dem Jahr 2010 führt nach einer Rückkehr des Schutzsuchenden in sein Heimatland nicht mehr zur Zuständigkeit Italiens für das gegenwärtige Asylverfahren. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 02.05.2017 gegen die Abschiebungsanordnung (Ziffer 3) im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 23.02.2017 wird angeordnet.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
3. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin …, …, bewilligt, soweit der Antrag vom 02.05.2017 die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des Bescheides vom 23.02.2017) zum Gegenstand hat.
Im Übrigen wird der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Gründe

I.
Der Antragsteller, irakischer Staatsangehöriger, reiste eigenen Angaben zufolge am 25.11.2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 13.12.2016 einen Asylantrag.
Bei der Befragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 21.12.2016 in …, erklärte der Antragsteller, er habe am 21.08.2016 sein Herkunftsland verlassen und sei über die Türkei, Griechenland – wo er sich über einen Monat aufgehalten habe – und Italien am 23.11.2016 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Seitdem habe er das Gebiet der „Dublin-Mitgliedsstaaten“ nicht mehr verlassen.
Die EURODAC-Abfrage ergab einen Treffer der „Kategorie 1“ ( …), wonach der Antragsteller am 15.07.2010 in Italien ( …) einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.
Mit Schreiben vom 19.12.2016 richtete die Antragsgegnerin – gestützt auf eine Asylantragstellung am 15.07.2016 in Italien – ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Italien. Die italienischen Behörden antworteten hierauf nicht.
Mit Bescheid vom 23.02.2017 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Es wurde die Abschiebung nach Italien angeordnet (Nr. 3) und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Zur Begründung führte die Antragsgegnerin im Wesentlichen aus, die Unzulässigkeit des Antrags ergebe sich aus § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, da Italien aufgrund des dort bereit gestellten Asylantrags gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig sei. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheids, die sich vor allem mit den fehlenden Abschiebungsverboten und dem Nichtvorliegen systemischer Mängel in Italien auseinandersetzt, verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 02.05.2017, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tag, erhob die Bevollmächtigte des Antragstellers Klage gegen den Bescheid vom 23.02.2017 und beantragte zugleich:
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 02.05.2017 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23.02.2017, Az.:  …, wird angeordnet.
Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe bewilligt und die Unterzeichnende beigeordnet.
Zur Begründung führte die Bevollmächtigte des Antragstellers im Wesentlichen aus, der Antragsteller habe sein früheres Asylverfahren in Italien im Jahre 2011 zurückgenommen und sei in seine Heimat zurückgekehrt. Sein neuerlicher Entschluss, den Irak zu verlassen, beruhe auf neuen, erst später entstandenen, Gründen und habe nichts mit dem damaligen Verfahren zu tun. Bei seiner jetzigen Flucht habe er sich nicht in Italien aufgehalten und sei weder dort noch in einem anderen europäischen Land registriert worden. Er habe auch anderweitig keinen Asylantrag gestellt, sondern ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland. Zudem lägen in Italien, insbesondere angesichts der Vielzahl der ankommenden Asylbewerber, systemische Mängel des Asylverfahrens vor, so dass schon deswegen ein neuerliches Asylverfahren in Deutschland durchzuführen sei.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 08.05.2017,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung bezog sich die Antragsgegnerin auf die angefochtene Entscheidung.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 10.05.2017 wurde der Antragsgegnerin aufgegeben, dem Gericht nachzuweisen, dass für den Antragsteller ein EURODAC-Treffer für Italien vom 15.07.2016 vorliegt. Der gerichtlichen Aufforderung kam die Antragsgegnerin nicht nach. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Behördenakte, die Gerichtsakte des Klageverfahrens B 3 K 17.50609 und die Gerichtsakte dieses Verfahrens verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
II.
1. Der Antrag ist unzulässig, soweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 02.05.2017 gegen die Ziffern 1, 2 und 4 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 23.02.2017 beantragt wurde. Insoweit fehlt es bereits an der Statthaftigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO bzw. am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis für ein Eilverfahren, da aus den diesbezüglichen Regelungen keine Vollstreckung gegenüber dem Antragsteller droht (vgl. VG Sigmaringen, B. v. 21.10.2016 – A 3 K 3105/16 – juris).
2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des Bescheides vom 23.02.2017) ist hingegen zulässig und begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage – im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG – ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht in der Regel kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Nicht erforderlich sind insoweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids, denn die Regelung des § 36 Abs. 4 AsylG ist hier nicht (entsprechend) anwendbar (vgl. VG München, B. v. 18.7.2016 – M 12 S. 16.50473 – juris). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessensabwägung.
Vorliegend stellt sich die angegriffene Abschiebungsanordnung nach Italien unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage bei der im Eilverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig dar, so dass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung überwiegt.
Nach § 34a Abs. 1 AsylG wird die Abschiebung ohne das Erfordernis einer vorherigen Androhung und Fristsetzung insbesondere dann angeordnet, wenn der Ausländer in einem für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Zuständigkeit des anderen Staates gegeben ist und feststeht, dass die Abschiebung in den zuständigen Staat nicht aus anderen Gründen rechtlich unzulässig oder tatsächlich unmöglich ist.
Diese Voraussetzungen liegen im Hinblick auf die angeordnete Überstellung nach Italien nicht vor, da Italien für die Durchführung des (neuen) Asylverfahrens des Antragstellers nicht zuständig ist.
a) Die Antragsgegnerin stützt das Übernahmeersuchen vom 19.12.2016 auf einen EURODAC-Treffer der „Kategorie 1“ für Italien vom 15.07.2016 (vgl. Bl. 58/59 der Akte). Eine Asylantragstellung im Juli 2016 in Italien ist aber für das Gericht nicht ersichtlich. Der gerichtlichen Aufforderung, einen Nachweis für den behaupteten EURODAC-Treffer vom 15.07.2016 vorzulegen, ist die Antragsgegnerin – trotz Fristsetzung – nicht nachgekommen. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass sich die Antragsgegnerin auf den EURODAC-Treffer vom 15.07.2010 stützt.
b) Die Asylantragstellung am 15.07.2010 in Italien führt aber nicht gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG zur Unzulässigkeit des Asylantrags vom 13.12.2016 in Deutschland.
Der Antragsteller hat glaubhaft vorgetragen, dass er seinen Asylantrag in Italien im Jahr 2011 zurückgenommen hat und damals freiwillig in die Heimat zurückgekehrt ist. Dies ergibt sich auch aus den vorgelegten Unterlagen der italienischen Behörden, wonach der Antragsteller am 04.10.2011 von Rom nach Erbil geflogen ist.
Gemäß Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO erlischt die Pflicht Italiens nach Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO zur Wiederaufnahme des Antragstellers, wenn dieser das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, die betreffende Person ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedsstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels. Ein nach der Periode der Abwesenheit im Sinne des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO gestellter Antrag gilt als neuer Antrag, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates auslöst (Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO). Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen, insbesondere aufgrund der vorgelegten Dokumente der zuständigen italienischen Stellen, geht das Gericht davon aus, dass der Antragsteller im Oktober 2011 im Rahmen eines „Rückkehrerprogramms“ in sein Heimatland zurückgekehrt, erst im August 2016 erneut nach Europa ausgereist und am 23.11.2016 in Deutschland eingereist ist. Der EURODAC-Treffer für Italien aus dem Jahr 2010 führt daher nicht (mehr) zur Zuständigkeit Italiens für das gegenwärtige Asylverfahren. Der Antragsteller wurde vor der Einreise nach Deutschland auch nicht (erneut) in Italien registriert.
c) Die Zuständigkeit Italiens ist auch nicht infolge des Fristablaufes nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO eingetreten. Zwar hat Italien nicht innerhalb der Frist des § 25 Abs. 2 Dublin III-VO auf das Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 19.12.2016 geantwortet, jedoch setzt der Fiktionseintritt ein formell ordnungsgemäßes und prüffähiges Wiederaufnahmegesuch voraus (vgl. Art. 23 Abs. 4 Dublin III-VO). Dem ist die Antragsgegnerin nicht nachgekommen, indem das Übernahmeersuchen auf einen (nicht belegbaren) EURODAC-Treffer vom 15.07.2016 gestützt wurde. Es ist nicht auszuschließen, dass Italien – bei ordnungsgemäßen Angaben – rechtzeitig und rechtmäßig die Wiederaufnahme des Antragstellers abgelehnt hätte.
d) Die Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Dublin III-VO nach Italien erweist sich somit aller Voraussicht nach im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig. Dementsprechend überwiegt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes das Interesse des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.
4. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist dem Antragsteller gem. § 166 VwGO i. V. m. §§ 114 ff. ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen, soweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung beantragt wurde. Der Antragsteller erfüllt die wirtschaftlichen Voraussetzungen. Die Antragstellung war nicht mutwillig. Der Eilantrag hat insoweit die notwendigen Erfolgsaussichten. Im Übrigen war der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen, da die weitergehende Rechtsverfolgung keine hinreichenden Erfolgsaussichten bietet (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Dieser Beschluss ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.

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