Aktenzeichen 2 BvQ 31/12
Art 16 Abs 2 S 1 GG
§ 32 Abs 1 BVerfGG
§ 32 IRG
§ 17 Abs 1 Nr 2 RuStAG vom 02.07.1976
§ 19 RuStAG vom 18.07.1979
§ 25 RuStAG vom 29.06.1977
Verfahrensgang
vorgehend OLG Rostock, 25. Juni 2012, Az: 2 Ausl 30/10 I 47/11, Beschluss
Gründe
1
                            Der Antrag auf einstweilige Anordnung betrifft die Auslieferung des Antragstellers in die Vereinigten Staaten von Amerika
      zum Zweck der Strafverfolgung, wobei die Frage im Mittelpunkt steht, ob der Antragsteller als deutscher Staatsangehöriger
      den Schutz von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG genießt.
   
I.
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                            1. Die Vereinigten Staaten von Amerika ersuchten im Oktober 2011 um die Auslieferung des Antragstellers, gegen den seit dem
      Jahr 2000 wegen sexueller Kontakte mit seiner damals minderjährigen Tochter ein Haftbefehl besteht. Der Antragsteller wurde
      überdies im Jahr 2000 in Abwesenheit wegen derartiger Handlungen schuldig gesprochen, wobei ein Strafmaß wegen seiner Abwesenheit
      nicht verhängt wurde. Die Bundesregierung hat die Auslieferung bewilligt. Der Antragsteller befindet sich in Auslieferungshaft
      und soll nach dem 16. Juli 2012 den US-amerikanischen Behörden übergeben werden.
   
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                            2. Mit Beschluss vom 25. Juni 2012 hat das Oberlandesgericht Rostock die Auslieferung des Antragstellers wegen der ihm zur
      Last gelegten Taten für zulässig erklärt. Es hat sich dabei darauf gestützt, dass der Antragsteller seine deutsche Staatsangehörigkeit
      1980 mit dem Erwerb der Staatsangehörigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika verloren habe.
   
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                            Dies sei nach den damaligen Fassungen von §§ 17, 25 RuStAG dann möglich gewesen, wenn die Voraussetzungen vorgelegen hätten,
      unter denen eine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft gemäß § 19 RuStAG hätte beantragt werden können.
   
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                            a) Voraussetzung sei demgemäß der Erwerb der US-amerikanischen Staatsangehörigkeit aufgrund eines Antrags der allein sorgeberechtigten
      Mutter gewesen. Insoweit schade es nicht, dass der Antragsteller die US-amerikanische Staatsangehörigkeit aufgrund der Einbürgerung
      der Mutter gesetzlich – und nicht auf Antrag – erworben habe. Denn wenn ein Antrag überhaupt gestellt worden sei, reiche auch
      ein gesetzlicher Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit aus, um im Sinne der §§ 19, 25 RuStAG sicherzustellen, dass der Staatsangehörigkeitserwerb
      auf dem freien Willen des gesetzlichen Vertreters beruhe. Ein entsprechender Wille sei vorliegend „mehr als deutlich und eingebettet
      in ein nachvollziehbares Motiv“ zutage getreten. Die Mutter des Antragstellers habe in ihrem Einbürgerungsgesuch ausdrücklich
      deutlich gemacht, dass sie die US-amerikanische Staatsangehörigkeit auch für den Antragsteller erreichen wolle. Sie habe ausgeführt,
      der Antragsteller wolle eine „Air Force Academy“ besuchen, was die US-amerikanische Staatsangehörigkeit voraussetze.
   
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                            b) Da keine Genehmigung eines Vormundschaftsgerichts vorliege, müsste die Mutter zudem zur Zeit des Antrags die deutsche Staatsangehörigkeit
      besessen haben. Dies sei der Fall. Die Mutter des Antragstellers sei ursprünglich Deutsche gewesen und habe ihre Staatsangehörigkeit
      erst 1980 mit dem Erwerb der Staatsangehörigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika verloren. Ein derartiger Verlust sei
      nicht bereits 1960 eingetreten, als ihr Vater für sie erfolgreich die kanadische Staatsangehörigkeit beantragt habe. Denn
      ihr Vater sei nicht allein sorgeberechtigt gewesen. Ein für den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit erforderlicher Antrag
      beider Elternteile sei nicht gestellt worden.
   
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                            3. Der Antragsteller wandte sich mit Gegenvorstellungen vom 28. Juni 2012 und vom 4. Juli 2012, über die bisher noch nicht
      entschieden wurde, erneut an das Oberlandesgericht Rostock.
   
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                            a) Nach dem Willen des Gesetzgebers scheide ein Staatsangehörigkeitsverlust minderjähriger Kinder bei einer durch Gesetz –
      und nicht durch Antrag – bewirkten Einbürgerungserstreckung generell aus. Dies ergebe sich aus der Verwaltungsvorschrift zum
      Staatsangehörigkeitsgesetz, in der es heiße, ein Antragserwerb liege auch dann nicht vor, wenn ein minderjähriges Kind, welches
      selbst keinen Antrag gestellt habe, in den Einbürgerungsantrag der Eingebürgerten einbezogen werde.
   
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                            b) Außerdem sei die Mutter des Antragstellers zu jener Zeit nicht mehr Deutsche gewesen. Dass der Antrag auf Erwerb der kanadischen
      Staatsangehörigkeit lediglich durch deren Vater unterzeichnet worden sei, liege daran, dass auf dem entsprechenden Formular
      ausschließlich dessen Unterschrift vorgesehen gewesen sei. Tatsächlich habe ihre Mutter ebenfalls den Erwerb der kanadischen
      Staatsangehörigkeit für die Tochter gewünscht und diese in ihrem eigenen Antrag auf kanadische Staatsangehörigkeit „angegeben“.
      Auch habe die gesamte Familie, also beide Eltern der Mutter des Antragstellers, bei den kanadischen Behörden vorgesprochen
      und den Wunsch bekräftigt, die kanadische Staatsangehörigkeit zu erlangen. Dem Oberlandesgericht sei noch vor Erlass der angegriffenen
      Entscheidung der Antrag der Großmutter des Antragstellers übersandt worden, in welchem auch die Mutter des Antragstellers
      „angegeben“ gewesen sei. Daher hätte das Oberlandesgericht von Amts wegen weiter ermitteln müssen (Verweis auf BVerfGE 8,
      81 ).
   
II.
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                            Der anwaltlich vertretene Antragsteller sieht sich durch den Beschluss vom 25. Juni 2012 in seinem Grundrecht aus Art. 16
      Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde sei weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich
      unbegründet. Die Folgenabwägung zwinge zum Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung, weil die Auslieferung bei einem
      Erfolg in der Hauptsache unumkehrbar sei.
   
III.
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                            Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.
   
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                            1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig
      regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten
      ist. Eine einstweilige Anordnung darf allerdings dann nicht ergehen, wenn sich das in der Hauptsache verfolgte Begehren von
      vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist (vgl. BVerfGE 103, 41 ; 111, 147 ; stRspr).
   
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                            2. Danach kann vorliegend eine einstweilige Anordnung nicht ergehen. Der insofern gestellte Antrag ist jedenfalls unbegründet,
      da eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat.
   
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                            a) Die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass auch ein gesetzlicher Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit zum Verlust
      der deutschen Staatsangehörigkeit eines Minderjährigen führen kann, wenn ein entsprechender Antrag der Sorgeberechtigten gestellt
      wurde, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
   
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                            aa) Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass eine gesetzliche Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit
      an den freiwilligen, antragsgemäßen Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit knüpft, keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen
      Bedenken gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG begegnet. Zwar tritt der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit in einem derartigen
      Fall ohne hierauf gerichteten Antrag als automatische Rechtsfolge ein. Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ist jedoch
      nicht die Folge eines allein auf dem Willen des Staates zur Wegnahme der deutschen Staatsangehörigkeit beruhenden Aktes, sondern
      er tritt aufgrund von Handlungen des Betroffenen ein, die auf einem selbstverantwortlichen und freien Willensentschluss gegründet
      sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1990 – 2 BvR 116/90 -, NJW 1990, S. 2193; BVerfG,
      Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Dezember 2006 – 2 BvR 1339/06 -, NVwZ 2007, S. 441 ).
   
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                            bb) Auch die Auslegung der §§ 19, 25 RuStAG in der hier maßgeblichen Fassung durch das Oberlandesgericht gewährleistet, dass
      kein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ohne freien, selbstverantwortlichen Willensentschluss erfolgt. Auch wenn das
      Bundesverwaltungsgericht die Frage, ob die Anwendbarkeit der § 25 Abs. 1, § 19 Abs. 2 RuStAG eine Ursächlichkeit des Antrags
      auf Einbürgerung voraussetzt, offen gelassen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Mai 1986 – 1 C 40.84 -, NJW 1987, S. 1157, juris,
      Rn. 22; siehe auch BayVGH, Urteil vom 14. November 2007 – 5 B 05.3039 -, juris, Rn. 34 ff.), kommt bei einer dem ausdrücklichen,
      in einem Antrag dokumentierten Willen entsprechenden Einbürgerung und dem damit verbundenen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit
      ein Verstoß gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in Betracht. Die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass bei einer durch
      Gesetz bewirkten Erstreckungseinbürgerung eine Anwendung der § 25 Abs. 1, § 19 Abs. 2 RuStAG nicht generell ausscheidet, ist
      zumindest für den vorliegenden Fall eines ausdrücklich gestellten Einbürgerungsantrags verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
   
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                            cc) Demgegenüber kann der Antragsteller sich nicht auf die von ihm zitierten Verwaltungsvorschriften zum Staatsangehörigkeitsgesetz
      berufen, ohne dass es darauf ankäme, inwiefern diese für die Auslegung des Gesetzes von Bedeutung sein können. Die Verwaltungsvorschriften
      betreffen den Fall, dass jemand in den Einbürgerungsantrag eines Dritten einbezogen wird. Vorliegend hat das Oberlandesgericht
      aber unter Bezugnahme auf den Wortlaut des Schreibens vom 8. Oktober 1979 nachvollziehbar dargelegt, dass die Mutter des Antragstellers
      diesen nicht nur einbezogen, sondern für ihn einen eigenen Einbürgerungsantrag („… 
      our request for citizenship …“) gestellt hat. Ihr ging es erkennbar nicht bloß darum, die Erstreckungswirkung ihrer Einbürgerung
      hinzunehmen, sondern sie wollte die eigenständige Einbürgerung des Antragstellers aktiv betreiben.
   
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                            b) Soweit das Oberlandesgericht davon ausgegangen ist, die Mutter des Antragstellers sei bis zur Einbürgerung in die Vereinigten
      Staaten von Amerika im Jahr 1980 deutsche Staatsangehörige gewesen, begegnet dies ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen
      Bedenken. Insbesondere war zum Zeitpunkt der Beschlussfassung eine weitere Aufklärung von Amts wegen verfassungsrechtlich
      nicht geboten.
   
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                            aa) In einem Auslieferungsverfahren haben die Behörden von Amts wegen die Zulässigkeit der beantragten Maßnahme festzustellen;
      vor allem haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht im Hinblick auf das Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz
      1 GG die Verpflichtung, den Sachverhalt so weit aufzuklären, dass die Eigenschaft des Auszuliefernden als Nichtdeutscher eindeutig
      feststeht. Gelangt das Instanzgericht dadurch, dass es diese Frage aufgrund eines nur unzureichend aufgeklärten Sachverhalts
      beantwortet, zu einer unrichtigen Schlussfolgerung, so liegt ein Grundrechtsverstoß vor (BVerfGE 8, 81 ; 17, 224 ;
      BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1990 – 2 BvR 116/90 -, NJW 1990, S. 2193; BVerfGK 16, 328
      ).
   
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                            bb) Vorliegend bedurfte daher die Frage der Prüfung, ob die Mutter des Antragstellers bereits im Jahr 1960 ihre deutsche Staatsangehörigkeit
      verloren hatte, so dass sie im Jahr 1980 nicht mehr in der Lage gewesen wäre, einen Einbürgerungsantrag für den Antragsteller
      mit der Folge des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit gemäß §§ 19, 25 RuStAG zu stellen.
   
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                            cc) Die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass die Mutter des Antragstellers die deutsche Staatsangehörigkeit nicht bereits
      im Jahr 1960 verloren hat, ist jedoch nicht zu beanstanden. Das Oberlandesgericht konnte davon ausgehen, dass die Eltern der
      Mutter des Antragstellers gemeinsam sorgeberechtigt waren. Ein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit der Mutter des Antragstellers
      durch den Erwerb der kanadischen Staatsangehörigkeit im Jahr 1960 hätte, da für eine vormundschaftliche Genehmigung nichts
      ersichtlich ist, daher einen Antrag beider Eltern zur Voraussetzung gehabt. Dem steht aber entgegen, dass der Antrag auf Erteilung
      eines Staatsangehörigkeitszeugnisses für die Mutter des Antragstellers lediglich die Unterschrift ihres Vaters trug. Dabei
      spielt es keine Rolle, ob dies nach kanadischem Recht für die Erlangung der kanadischen Staatsbürgerschaft ausreichte. Vorliegend
      geht es nicht um den Erwerb der kanadischen, sondern um den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit der Mutter des Antragstellers.
      Dafür ist gemäß § 25 Abs. 1, § 19 Abs. 2 RuStAG ein Antrag beider Elternteile erforderlich. Im Übrigen genügte der Antrag
      auf Erteilung eines Staatsangehörigkeitszeugnisses für den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit schon deshalb nicht,
      weil § 19 Abs. 2 RuStAG voraussetzt, dass der Antrag zugunsten des Kindes „zugleich“ mit dem Einbürgerungsantrag des Sorgeberechtigten
      gestellt werden muss. Da der Vater in dem Antrag erklärt, bereits kanadischer Staatsangehöriger zu sein („I am a Canadian
      citizen“), ist dieser Antrag zumindest nicht geeignet, die notwendige zeitliche Verbindung des Einbürgerungsantrags des Vaters
      mit einem entsprechendem Antrag für seine Tochter nachzuweisen.
   
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                            Umstände, die darauf hinweisen, dass bereits die früheren Einbürgerungsanträge der Eltern mit einem Antrag auf Einbürgerung
      der Tochter verbunden gewesen wären, hat das Oberlandesgericht nicht festgestellt und wurden vom Antragsteller auch nicht
      geltend gemacht. Seinem Vortrag, er habe dem Oberlandesgericht Unterlagen vorgelegt, nach denen die Mutter ihre drei Kinder
      und damit auch die Mutter des Antragstellers in ihrem Einbürgerungsantrag „angegeben“ habe, lässt sich nicht entnehmen, dass
      sie zugleich beantragt habe, auch ihre Tochter möge die kanadische Staatsangehörigkeit erlangen.
   
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                            dd) Wodurch Oberlandesgericht und Generalstaatsanwaltschaft vor dem Beschluss vom 25. Juni 2012 gegen die Pflicht zur bestmöglichen
      Sachverhaltsaufklärung verstoßen haben könnten, ist dem Antragsvorbringen nicht zu entnehmen. Soweit der Antragsteller im
      Rahmen der Gegenvorstellung umfänglich zu den Erinnerungen seiner Mutter und seiner Tanten vorträgt, kann dahinstehen, ob
      dieser Vortrag geeignet ist, den Nachweis zu führen, dass die Großmutter des Antragstellers zugleich mit ihrem Einbürgerungsantrag
      einen Antrag zur Einbürgerung ihrer Tochter gestellt hat. Diese Umstände waren dem Gericht bis zum Zeitpunkt des Beschlusses
      vom 25. Juni 2012 nicht bekannt und können daher eine Verletzung der Grundrechte des Antragstellers durch diesen Beschluss
      nicht begründen.
   
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                            Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
   




