Aktenzeichen M 18 K 16.5286
Leitsatz
Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege besteht nicht, wenn die Vollzeitpflege allein unter finanziellen Aspekten beantragt wird, die Pflegepersonen aber nicht zu der nach §§ 27, 33 SGB VIII erforderlichen Zusammenarbeit mit dem Jugendamt bereit sind. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Gründe
Die zulässige Klage ist nicht erfolgreich.
Nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde auszusprechen, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, soweit die Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist.
Ein Anspruch der Kläger auf Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege für D. im Sinne der §§ 27, 33 SGB VIII liegt nicht vor.
Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten kann ein Anspruch auf Pflegegeld nach § 39 SGB VIII nicht isoliert gegenüber der Beklagten geltend gemacht werden. Ein Anspruch nach § 39 SGB VIII setzt schon nach dem Wortlaut des § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Gewährung einer Hilfe nach den §§ 32 bis 35 bzw. § 35a Abs. 2 Nr. 2 bis 4 SGB VIII voraus. Das sogenannte „Pflegegeld“ nach § 39 SGB VIII stellt mithin lediglich einen Annex-Anspruch aus den vorgenannten Hilfegewährungen dar (BVerwG, U.v. 1.3.2012 – 5 C 12.11 -, juris Rn. 19).
Da das Kind bereits seit 2007 im Haushalt der Kläger wohnt, ist maßgebliche Anspruchsgrundlage für den Zeitpunkt bis zur mündlichen Verhandlung nicht § 27 Abs. 1, 33 SGB VIII, sondern § 36a Abs. 3 SGB VIII.
Nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sind Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme von erforderlichen Aufwendungen bei von den Leistungsberechtigten selbst beschafften Hilfen nur verpflichtet, wenn
Nr. 1 der Leistungsberechtigte den Träger vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat,
Nr. 2 die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und Nr. 3 die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
Vorliegend ist § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII dahingehend auszulegen, dass ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege erst ab der Beantragung beim Jugendhilfeträger rückwirkend gewährt werden soll. Dies gilt auch für den Annex-Anspruch des § 39 SGB VIII. Vorliegend haben die personensorgeberechtigten Kläger (siehe Vormundseinsetzung vom 8. Mai 2007) mit Anruf vom 2. Februar 2016 einen Bedarf bei der Beklagten geltend gemacht. Da pädagogische und erzieherische Hilfen nicht rückwirkend erstattet werden können, kommt für den Zeitraum vom 2. Februar 2016 bis 6. September 2017 lediglich eine Erstattung von Pflegegeld in Betracht.
Nach § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII müssten hierfür jedoch die Voraussetzungen für die Hilfegewährung vorliegen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.
Vorliegend bezweifelt das Gericht bereits das Vorliegen eines erzieherischen Bedarfs beim Enkelkind der Kläger für den maßgeblichen Zeitpunkt vom 2. Februar 2016 bis zur Urteilsfällung. Aus dem Tod der Kindsmutter im Jahr 2007 ergibt sich kein erzieherischer Bedarf (mehr). Nicht jeder Ausfall der Erziehungsleistung (hier durch den Tod der Kindsmutter im April 2007) führt automatisch zu einem erzieherischen Bedarf des Kindes. Anders als im Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 30. Juni 2016 (12 C 16.1162 -, juris Rn. 24), der bei einem alleinerziehenden, vollzeittätigen Vater mit Säugling/Kleinkind nach plötzlich unfallbedingtem Tod der Kindsmutter einen erzieherischen Bedarf allein durch den Wegfall der Kindsmutter annahm, ist vorliegend allein schon aufgrund des Alters des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum eine Erziehung durch den Kindsvater unter Inanspruchnahme von Möglichkeiten nach § 24 Abs. 4 SGB VIII oder einer Internatserziehung möglich.
Der Vater des Enkelkindes der Kläger stand im maßgeblichen Zeitraum auch bereit, um die Pflege des Kindes zu übernehmen. Dass die Tochter der Kläger in ihrer letztwilligen Verfügung die Kläger als Vormünder vorgeschlagen hat und nicht den leiblichen Kindsvater, ist unerheblich. Aus den Protokollen der Verhandlung vor dem Amtsgericht M. anlässlich der Vormundschaftsübertragung lässt sich nicht entnehmen, dass der Kindsvater nicht bereit gewesen wäre, sich um D. zu kümmern. Lediglich die letztwillige Verfügung und das bereits bestehende enge Verhältnis von D. zu den Klägern führte dazu, dass der Kindsvater das Kind nicht tatsächlich übernahm. Jedenfalls ist aus der Aktenlage ersichtlich, dass der Kindsvater inzwischen ein sehr gutes Verhältnis zum Sohn pflegt und, wie sich aus den Aktenvermerken der Beklagten vom 8. Dezember 2014 und 12. Dezember 2014 ergibt, sich auch für den Sohn verantwortlich fühlt und zu einer Übernahme der Pflege und Erziehungsleistung bereit gewesen wäre. Angesichts des im streitgegenständlichen Zeitraum bereits fortgeschrittenen Jugendalters von D. ist daher auch dem Klägerbevollmächtigten dahingehend zu widersprechen, dass ein Umzug zum Kindsvater wohl möglich gewesen wäre.
Selbst bei Bejahung eines erzieherischen Bedarfs allein auf Grundlage des Ausfalls eines personensorgeberechtigten Elternteils, ist ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege durch die Kläger nicht gegeben.
Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass die Kläger nicht als geeignete Pflegepersonen angesehen werden können.
Aus dem Akteninhalt ergibt sich, dass die Klägerin zu 1) sich schwer dabei tut, konsequent mit ihrem Mündel umzugehen sowie Regeln durchzusetzen. D. spiele viel mit dem PC und sei auch oft nachts teilweise bis 1.00 Uhr online. Zudem ergibt sich aus der Akte, dass die Kläger ihrem Enkel möglicherweise zu wenig Unterstützung bei der notwendigen Verselbständigung bieten können, da sie ihn zu sehr verwöhnen („Er könne sich nicht einmal ein Brot für sich schmieren“, wenig Mitarbeit im Haushalt bzw. Alltag, verwöhnende Haltung der Großmutter).
Ob die vorgenannten Punkte tatsächlich vorliegen, kann jedoch dahinstehen. Die Geeignetheit der Kläger als Pflegepersonen ist schon deshalb zu verneinen, weil nicht davon auszugehen ist, dass die Kläger bei der zwingend im Rahmen der §§ 27, 33 SGB VIII erforderlichen Zusammenarbeit mit dem Jugendamt bereit sind. Im Rahmen eines Pflegeverhältnisses wird von den Pflegeeltern erwartet, dass eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Jugendamtes zum Wohl des Pflegekindes zu Stande kommt. Dies beinhaltet neben der Teilnahme an regelmäßigen Hilfeplangesprächen auch die Bereitschaft der Pflegeeltern, die Verantwortung für die Gestaltung der Erziehung unter die Kontrolle des Jugendamtes zu stellen und ggf. ihr Erziehungsverhalten gegenüber dem Pflegekind unter Einbeziehung der Ratschläge des Jugendamtes zu (umzu-)gestalten. Sowohl beim Hausbesuch am 21. Januar 2015, aus den Schreiben des Klägervertreters vom 30. Mai und 10. Juni 2016 als auch aus den Klagebegründungsschriftsätzen vom 21. Februar und 7. Juli 2017 ergibt sich, dass die Kläger möglichst wenig Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt anstreben. Sie lehnten sogar ein einmaliges Erscheinen beim Jugendamt zur Klärung ihres Antrags auf „Pflegegeld“ hin mangels Bedarfs/Interesses mehrfach konkret ab.
Aus den vorgenannten Unterlagen sowie den Anrufen der Klägerin persönlich beim Beklagten ergibt sich zudem eindeutig, dass der finanzielle Aspekt der Hilfe, also der eigentliche Annexanspruch, im Vordergrund des Klägerbegehrens steht. Ausdrücklich weist der Klägerbevollmächtigte in seinen vorgenannten Schreiben darauf hin, dass es lediglich um das Pflegegeld gehe und weitere Hilfen bzw. Kontakte durch die Beklagte von den Klägern nicht erwünscht seien. Soweit bei der Verwandtenpflege bei Großeltern jedoch lediglich ein finanzieller Zuschuss zur Unterbringung des Kindes nach dem Willen der Kläger gedeckt werden soll, kommt eine Hilfe zur Erziehung mit der Annex-Leistung des Pflegegeldes nach § 39 SGB VIII jedoch nicht in Betracht (Münder, Meysen, Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 6. Auflage, § 27 Rn. 24; sowie ausdrücklich Bundestags-Drucksache 15/3676, Seite 36). Nach der Aktenlage ist nicht anzunehmen, dass die Kläger die Kontrollfunktion des Jugendamtes für das Wohl des Kindes für den streitgegenständlichen Zeitraum akzeptiert hätten, sondern das Jugendamt lediglich als Zahlstelle für die Unterbringung des Kindes ansehen. Den Klägern sowie D. stehen zur Deckung einer rein finanziellen Notlage jedoch Unterhaltsansprüche gegen den Kindsvater sowie ggf. Ansprüche aus den Sozialgesetzbüchern II und XII sowie nach dem Wohngeldgesetz zu.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei nach § 188 Satz 2 VwGO.