Aktenzeichen 7 K 713/15
Leitsatz
Tenor
1. Der Bescheid vom 11. November 2014 und die Einspruchsentscheidung vom 9. Februar 2015 werden aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Gründe
I.
Streitig ist, ob die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für die Tochter der Klägerin (D), geboren am 2. November 1990, ab November 2009 zu Recht aufgehoben und den für den Zeitraum Januar 2010 bis September 2010 ausgezahlten Betrag von 1.656 € zurückgefordert hat.
Die Klägerin bezog für ihre Tochter laufend Kindergeld. D besuchte vom 16. September 2008 bis 17. September 2009 eine Berufsschule und Berufsfachschule für Kinderpflege in Starnberg. Am 8. August 2009 wurde sie Mutter eines Sohnes. Die Mutterschutzfrist begann am 27. Juni 2009 und endete am 3. Oktober 2009. D bezog ab Februar 2009 eine Waisenrente sowie nach der Geburt ihres Sohnes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Auf Anfrage der Familienkasse teilte die Klägerin mit Schreiben vom 12. Oktober 2010 mit, dass sich D im Zeitraum August 2009 bis August 2010 in Elternzeit befinde und ihre Ausbildung voraussichtlich im September 2011 wieder aufnehmen werde. Laut Bestätigung des staatlichen beruflichen Zentrums … habe D die 10. Jahrgangstufe im Jahr 2009 erfolgreich abgeschlossen und könne in die 11. Klasse übertreten.
Mit Bescheid vom 11. November 2014 hob die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld ab November 2009 auf und forderte das für den Zeitraum Januar 2010 bis September 2010 gezahlte Kindergeld in Höhe von 1.656 € zurück. Im dagegen gerichteten Einspruchsverfahren trug die Klägerin vor, dass D ihre Ausbildung wegen der Geburt ihres Kindes und der infolge des gewaltsamen Todes ihres Vaters erlittenen seelischen Belastungen unterbrochen habe. Der Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 9. Februar 2015 als unbegründet zurückgewiesen.
Mit der dagegen erhobenen Klage wiederholt die Klägerin das Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren und wendet sich gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung. Ihre Tochter sei aus rein objektiven Gründen an der Fortsetzung ihrer begonnenen Ausbildung gehindert gewesen. Die Ausbildung sei nicht aus eigenem Entschluss unterbrochen worden. Aufgrund der Geburt ihres Sohnes habe die Tochter der Klägerin aufgrund des bis einschließlich 3. Oktober 2009 geltenden Beschäftigungsverbotes i.S.d. § 3 Abs. 22 Mutterschutzgesetz (MuSchG) die begonnene Ausbildung im September 2009 nicht fortsetzen können, eine unterjährige Fortsetzung der Ausbildung sei nicht vorgesehen, wie sich auch aus der Bestätigung der Berufsfachschule vom 16. September 2015 ergebe. Nach den allgemeinen Bestimmungen der ausbildenden Einrichtung habe sie deswegen von der Ausbildung abgemeldet werden müssen, dies habe jedoch nicht die endgültige Aufgabe der Ausbildung bedeutet. Ein Bemühen um einen Ausbildungsplatz ab November 2009 sei nicht erforderlich gewesen, da bereits ein Ausbildungsplatz vorhanden war, der zum September 2010 wieder angetreten werden konnte. Auch für das Schuljahr 2011/2012 habe die Möglichkeit der Fortsetzung ihrer Schulausbildung an der Berufsfachschule bestanden (Schreiben der Berufsschule vom 30. März 2011).
Ihre Tochter sei außerdem im streitigen Zeitraum wegen einer erheblichen seelischen Behinderung nicht in der Lage gewesen, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und die Ausbildung fortzusetzen. Als sie von ihrer Schwangerschaft erfahren habe, sei sie erst 18 Jahre alt gewesen und von der neuen Situation völlig überfordert gewesen. Zudem sei es zu heftigen Streitereien mit dem Kindsvater gekommen. Erschwerend sei hinzugekommen, dass der Vater von D im Januar 2009 ermordet worden sei. Der zusätzlich zu verarbeitende Verlust des Vaters in der psychisch hoch vulnerablen Phase der Schwangerschaft habe ihre Tochter nicht nur aufgrund der möglichen Stigmatisierung im sozialen Umfeld, sondern auch durch das Fehlen wichtiger stabilisierender familiärer Strukturen vor weitere Anforderungen gestellt, wie sich auch aus dem Bericht ihres behandelnden Psychotherapeuten Dr. H ergebe. Über den Tod ihres Vaters sei in der Presse detailliert berichtet worden. In der Folge habe bei D eine nahezu obsessive mentale Beschäftigung mit den furchtbaren Bildern des Gewaltverbrechens begonnen, die eine massive Grübelneigung mit starken Schlafstörungen und dysphorischer Verstimmung auslöste. Zudem habe sie unter massivem kreisrunden Haarausfall an mehreren Stellen des Kopfes gelitten, was sie als junge Frau zusätzlich sehr belastet habe. Der Enkelsohn der Klägerin zeige verschiedene Entwicklungsauffälligkeiten, insbesondere seine motorischen Fähigkeiten hätten sich erst deutlich verzögert entwickelt. D sei aufgrund der seelischen Belastung im streitigen Zeitraum nicht in der Lage gewesen, einer Beschäftigung oder Ausbildung nach zu kommen. Die seelische Behinderung sei mitursächlich für die Unterbrechung ihrer Ausbildung gewesen (vgl. ärztliches Attest von Dr. H. vom 8. Oktober 2015). Der gesundheitliche Zustand habe es nicht zugelassen, die Ausbildung im September 2010 wieder aufzunehmen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 11. November 2014 und die Einspruchsentscheidung vom 9. Februar 2015 aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist zur Begründung im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung. Ergänzend trägt sie vor, dass in der Schulbestätigung vom 23. Januar 2015 ausgeführt worden ist, dass D ihre Schulausbildung aufgrund seelischer Probleme nicht mehr besuchen konnte und sich deshalb von der Berufsfachschule für das Schuljahr 2009/2010 abgemeldet habe. Obwohl laut Bescheinigung vom 10. März 2015 nach einem erfolgreichem Abschluss der 10. Jahrgangsstufe im Jahr 2009 ein Übertritt in die 11. Klasse erfolgen hätte können, sei die Schulausbildung bislang nicht wieder aufgenommen worden. Somit sei keine Unterbrechung der Schulausbildung erfolgt, vielmehr sei der Abbruch der Schulausbildung auf die Inanspruchnahme von Elternzeit oder die seelische Erkrankung des Kindes zurückzuführen, nicht hingegen auf das Beschäftigungsverbot während des Mutterschutzes bis 3. Oktober 2009.
Außerdem habe D in der Zeit vom 8. August 2009 bis 8. Juli 2010 Elterngeld bezogen und Elternzeit in Anspruch genommen. Eine Berücksichtigung gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2c EStG sei daher nicht möglich. Im Übrigen sei zwar das Vorliegen eines Beschäftigungsverbots nach §§ 3, 6 MuSchG für den Anspruch auf Kindergeld unschädlich, jedoch seien Unterbrechungszeiten wegen Kindesbetreuung wegen der Inanspruchnahme für Elternzeit gemäß §§ 15 bis 21 BEEG nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 15. Juli 2003 VIII R 47/02, BStBl II 2003, 848).
Wegen des weiteren Sachverhalts und hinsichtlich des rechtlichen Vortrags wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die vorgelegten Unterlagen und Akten verwiesen.
II.
Die Klage ist begründet.
1. Zu Unrecht hat die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum November 2009 bis September 2010 gemäß § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) auf gehoben und das für den Zeitraum Januar 2010 bis August 2010 gezahlte Kindergeld nach § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) zurückgefordert.
Für D, die ihr 18. Lebensjahr vollendet hat, besteht im streitigen Zeitraum ein Anspruch auf Kindergeld.
Nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ist ein Kind zu berücksichtigen, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH befindet sich in Berufsausbildung, zu der nach einhelliger Rechtsprechung auch die Schulausbildung rechnet, wer auf den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen gerichtete Maßnahmen ergreift, die als Grundlage für die Ausübung des angestrebten Berufs geeignet sind (BFH-Urteil vom 19. Februar 2002 VIII R 83/00, BStBl II 2002, 469, m.w.N.). Wird eine solche Ausbildung unterbrochen, hat dies grundsätzlich zur Folge, dass das Kind während der Zeit der Unterbrechung nicht i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG für einen Beruf ausgebildet wird. Ein volljähriges Kind, dass seine Berufsausbildung zwecks Betreuung des eigenen Kindes unterbricht, befindet sich während dieser Zeit grundsätzlich nicht in Berufsausbildung (vgl. BFH-Urteil vom 15. Juli 2003 VIII R 47/02, BStBl II 2003, 848). Dagegen ist eine Unterbrechung der Ausbildung infolge Erkrankung und während der Schutzfristen nach §§ 3 Abs. 2 und 6 Abs. 1 Satz 1 MuSchG jedoch nach höchstrichterlicher Rechtsprechung und der von der Verwaltung vertretenen Auffassung grundsätzlich unschädlich (BFH-Urteile vom 13. Juni 2013 III R 58/12, BStBl II 2014, 834, vom 20. Juli 2006 – III R 69/04, BFH/NV 2006, 2067 und vom 15. Juli 2003 VIII R 47/02 BStBl II 2003, 848, DA-FamEStG A 14.11). In solchen Fällen hat ein Kind den Willen, sich der Ausbildung zu unterziehen, ist aber aus objektiven Gründen wegen Erkrankung oder wegen des Beschäftigungsverbots nach dem MuSchG daran gehindert, weil ihm die Durchführung der Ausbildungsmaßnahmen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Bei dieser Sachlage ist es geboten, ein solches Kind, das einen Ausbildungsplatz hat und ausbildungswillig ist, aus objektiven Gründen aber zeitweise nicht in der Lage ist, sich der Ausbildung zu unterziehen, nicht anders zu behandeln, als ein Kind, das sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht, einen solchen aber nicht findet und das deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG berücksichtigt wird.
Unter Zugrundelegung der genannten Grundsätze ist davon auszugehen, dass die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld im Zeitraum November 2009 bis August 2010 vorliegen. Aufgrund der vorliegenden Unterlagen steht fest, dass D wegen des bis zum 3. Oktober 2009 bestehenden Mutterschutzes ihre Ausbildung an der Berufsschule und Berufsfachschule für Kinderpflege zu Beginn des Schuljahres 2009/2010 nicht fortsetzen konnte. Ein Eintritt in das laufende Schuljahr war nicht möglich, wie sich aus der Bescheinigung der Berufsfachschule vom 16. September 2015 ergibt. Vielmehr musste der Beginn des neuen Schuljahres 2010/2011 im September 2010 abgewartet werden. D war daher aus objektiven Gründen daran gehindert, ihre Ausbildung im Zeitraum Januar 2010 bis August 2010, für den das Kindergeld zurückgefordert worden ist, fortzusetzen, obwohl sie ausbildungswillig war. Sie ist daher ebenso zu behandeln wie ein Kind, das sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht, einen solchen aber nicht findet und deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2c EStG zu berücksichtigen ist.
Für den streitigen Zeitraum September 2010 war D ebenfalls aus objektiven Gründen gehindert, ihre Ausbildung fortzusetzen. Der Umstand, dass ihr auch für das Schuljahr 2011/2012 wiederum ein Schulplatz zugesagt worden ist (Schreiben der Berufsfachschule vom 30. März 2011), zeigt, dass D nach wie vor ausbildungswillig gewesen ist, da eine (Wieder-)Anmeldung für die 11. Klasse sonst nicht stattgefunden hätte. Sie konnte ihren Schulbesuch an der Berufsfachschule jedoch aufgrund ihrer seelischen Behinderung, die ihr im ärztlichen Attest von Dr. H vom 8. Oktober 2015 bescheinigt worden ist, nicht wieder aufnehmen. Wegen ihrer Erkrankung war sie aus objektiven Gründen an der Fortsetzung ihrer Ausbildung gehindert, weil ihr die Durchführung der Ausbildungsmaßnahmen nicht zumutbar gewesen ist. Ihre Erkrankung steht einer Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG daher nicht entgegen (vgl. BFH-Urteile vom 15. Juli 2003 VIII R 47/02, BStBl II 2003, 848 und vom 24. September 2009 III R 79/06, BFH/NV 2010, 614).
2. Es erscheint als sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90 a Finanzgerichtsordnung – FGO). Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und des Vollstreckungsschutzes folgt aus den §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.