Aktenzeichen 12 UF 12/19
Leitsatz
1 Die Eltern können den Einsatz einer Fixierung beim Schulwegtransfer, eines Gurtes am Rollstuhl, eines Tisches/Bügels am Rollstuhl, einer Fixierung der Extremitäten, einer Fixierung im Stehständer und des Einsatzes eines Rumpfmieders ihres Kindes im Rahmen seines Kindergartenbesuchs in Ausübung ihrer elterlichen Sorge selbst genehmigen und bedürfen insoweit keiner familiengerichtlichen Genehmigung. Eine Genehmigungsbedürftigkeit kann sich erst ergeben, wenn das Kind sich bereits in einer von § 1631b Abs. 2 BGB umfassten Einrichtung aufhält. (Rn. 11 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
1 F 1504/18 2018-11-23 Bes AGROSENHEIM AG Rosenheim
Tenor
1. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim wird zurückgewiesen.
2. Von einer Erhebung der Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
3. Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5000 € festgesetzt.
Gründe
Die Eltern des Beschwerdeführers, des betroffenen Kindes K. H., geb. ..2013, beantragten die familiengerichtliche Genehmigung des Einsatzes einer Fixierung beim Schulwegtransfer, eines Gurtes am Rollstuhl, eines Tisches/Bügels am Rollstuhl, einer Fixierung der Extremitäten, einer Fixierung im Stehständer und des Einsatzes eines Rumpfmieders. Das Amtsgericht sah kein Genehmigungserfordernis.
Der Beschwerdeführer ist minderjährig und leidet an einer neurodegenerativen Erkrankung mit Denovo-Mutation im CLPB-Gen mit Immundefekt, mikrozytärer Anämie, 3-Methylglutoconaziduri und 3-Methylglutarazidurie, Heptomegalie, schwerer psychomotorischer Retardierung, Tetraspastik sowie Epilepsie. Die Diagnose wird bestätigt durch ärztliche Atteste vom 24.07.2018 und 02.10.2018 von Dr. C. B. Konstantin besucht die Einrichtung Fortschritt Konduktiv Heilpädagogische Tagesstätte R. Nach dem ärztlichen Attest vom 02.10.2018 dienen die Fixierungsmaßnahmen ausschließlich therapeutischen bzw. medizinischen Zwecken, hingegen nicht dazu, die Fortbewegung des Kindes Konstantin zu unterbinden. Aufgrund seiner Erkrankung ist Konstantin massiv in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Er kann kaum frei sitzen und eine Fortbewegung ist nur mit technischen Hilfsmitteln, wie einem Rollstuhl, möglich. Im Stehständer müssen Arme und Beine fixiert werden, damit Konstantin aufrecht stehen kann. Die Maßnahme dient dazu, orthopädische Fehlstellungen der Wirbelsäule zu vermeiden.
Das Amtsgericht hat das Genehmigungsverfahren eingestellt, da es eine Genehmigung für nicht erforderlich hält. Konstantins Möglichkeit zur Fortbewegung werde nicht eingeschränkt, sondern erweitert und die eingesetzten Geräte dienten therapeutischen und medizinischen Zwecken sowie dem Selbstschutz des Kindes.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Verfahrensbeistands im Namen des Betroffenen.
Der Verfahrensbeistand ist der Auffassung, dass der Betroffene sich durch Benutzung seiner Stimme nicht äußern könne und einer Elternentscheidung wehrlos ausgesetzt sei. Die Eltern könnten möglicherweise die Einrichtung dazu motivieren, wesentlich mehr therapeutische Maßnahmen zu unternehmen als das Kind überhaupt aus seiner subjektiven Vorstellung haben möchte. Es komme nicht darauf an, welche Absicht die Beteiligten hätten, ob gut oder schlecht. Es dürfe aus der Bundestagsdrucksache zu § 1631 b Abs. 2 BGB nicht der Schluss gezogen werden, dass alle Maßnahmen umgesetzt werden dürfen, wenn sie dem Kind nutzen.
Nicht geklärt sei, welche Maßnahmen genehmigungsbedürftig seien, wenn dem Kind keine Möglichkeit zur Verfügung stehe, sich aus eigener Kraft zu bewegen und damit ein Prozess für die Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung nicht entstehen könne. Daraus könne nicht abgeleitet werden, dass alle therapeutischen Maßnahmen genehmigungsfrei seien, die abstrakt dazu geeignet seien, die Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung zu fördern.
Das Beschwerdegericht habe, sofern sich das Kind nicht äußern könne, durch ein Sachverständigengutachten zu klären, welche Einwirkungen auf den Körper des Kindes zu erwarten seien und wie sich diese körperlich und psychisch auswirken können. Die zur Entscheidung stehenden Maßnahmen dürften nur als letztes Mittel angewendet werden. Zu prüfen sei, ob im Rahmen eines therapeutischen Prozesses andere Maßnahmen angewandt werden könnten, die weniger einschneidend seien.
Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Von einer weiteren mündliche Verhandlung in der Beschwerdeinstanz wurde abgesehen.
II.
Die Beschwerde des Verfahrensbeistandes im Namen des betroffenen Kindes ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet, § 59 FamFG.
Der Verfahrensbeistand handelt im Interesse des Kindes und ist berechtigt, im Namen des Kindes Beschwerde einzulegen, § 158 Abs. 4 S.5 FamFG. Da er mit der Beschwerde die Einhaltung gesetzlicher Genehmigungserfordernisse zum Schutze des Kindes einfordert, ist er auch beschwerdebefugt nach § 59 Abs. 1 FamFG.
Das Amtsgericht Rosenheim ist zu Recht davon ausgegangen, dass vorliegend die Fixierungsmaßnahmen keiner Genehmigung durch das Familiengericht bedürfen. Die Eltern können den Einsatz einer Fixierung beim Schulwegtransfer, eines Gurtes am Rollstuhl, eines Tisches/Bügels am Rollstuhl, einer Fixierung der Extremitäten, einer Fixierung im Stehständer und des Einsatzes eines Rumpfmieders bei Konstantin im Rahmen seines Kindergartenbesuchs in der heilpädagogischen Tagesstätte in Rosenheim in Ausübung ihrer elterlichen Sorge selbst genehmigen.
Soweit es um Maßnahmen zur Fixierung auf dem Transfer von zuhause zur heilpädagogischen Einrichtung geht, ist § 1631 b Abs. 2 BGB nicht anwendbar. Eine Genehmigungsbedürftigkeit kann sich erst ergeben, wenn das Kind sich bereits in einer von § 1631 b Abs. 2 BGB umfassten Einrichtung aufhält. Auch auf den Einsatz eines Rumpfmieders ist § 1631 b Abs. 2 BGB nicht anwendbar, da es sich um eine reine Stützmaßnahme für die Körpermitte handelt, die die Freiheit des Kindes nicht tangiert.
Für die übrigen Fixierungsmaßnahmen ist allein darauf abzustellen, ob sie die Fortbewegungsfreiheit des betroffenen Kindes einschränken. Sinn und Zweck des § 1631 b Abs. 2 BGB ist es, den Minderjährigen davor zu schützen, dass seine Fortbewegungsfreiheit und Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung ohne Genehmigung und zu anderen als den gesetzlich vorgesehenen Zwecken eingeschränkt wird. Geschützt wird hingegen nicht die allgemeine Handlungsfreiheit. Dient die konkrete Maßnahme ausschließlich anderen Zwecken wie etwa therapeutischen oder medizinischen Zwecken, die als Nebenwirkung möglicherweise die Bewegungsfreiheit einschränken, unterliegt die Entscheidung der Eltern über ihren Einsatz nicht dem Vorbehalt der richterlichen Genehmigung (vgl. BT-Drucksache 18/11278, Seite 17).
Die im konkreten Fall anzuwendenden Maßnahmen unterfallen daher nicht dem Genehmigungserfordernis des § 1631 b Abs. 2 BGB.
In erster Linie ist daher darauf abzustellen, ob der Einsatz eines Beckengurts den minderjährigen Konstantin während seines Kindergartenbesuchs in seiner Fortbewegungsfreiheit einschränkt. Dies ist zu verneinen. Ohne einen Beckengurt oder Bügel könnte Konstantin im Rollstuhl nicht stabil sitzen und sich entsprechend seinem Willen fortbewegen und am Kindergartengeschehen, teilnehmen. Das wird ihm durch den Einsatz einer Fixierung gerade erst ermöglicht. Auch der Stehständer mit Beckengurt bietet Konstantin die Möglichkeit, sich aufzurichten. Das wäre ihm ohne Beckengurt und Fixierung der Extremitäten gerade nicht möglich. Konstantin soll aus therapeutischen Gründen zeitweise eine aufrechte Haltung einnehmen, um orthopädische Fehlstellungen an der Wirbelsäule zu verhindern. Die Fixierung am Stehständer dient daher ausschließlich therapeutischen Zwecken und nicht der Einschränkung der Fortbewegungsmöglichkeit.
Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, dass der Betroffene sich durch Benutzung seiner Stimme nicht äußern könne und einer Elternentscheidung wehrlos ausgesetzt sei. § 1631 b Abs. 2 BGB bietet jedoch keinen Schutz davor, dass Eltern Therapiemaßnahmen befürworten, die der Minderjährige nicht mitmachen möchte. Diese Entscheidung gehört in den Bereich der elterlichen Verantwortung und ist einer staatlichen Kontrolle entzogen. Auch nichtbehinderte Kinder müssen sich der Tatsache stellen, dass die Eltern im Rahmen ihres Rechts zur Erziehung erzieherische Maßnahmen befürworten können, die das Kind möglicherweise nicht will. Ein Schutz des Kindes ergibt sich, sofern es nicht um eine Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit geht, nicht über eine Genehmigungsbedürftigkeit der Therapiemaßnahmen, sondern über § 1666 BGB. Sollten Therapiemaßnahmen das Kindeswohl gefährden, müssten entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Dafür gibt es jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Konstantin hat zu erkennen gegeben, dass er mit den Maßnahmen einverstanden ist. Selbst wenn sein Einverständnis nicht eindeutig erkennbar geworden sein sollte, so ergaben sich offensichtlich keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung des seelischen oder körperlichen Wohls des Kindes. Zu bedenken ist auch, dass die Möglichkeit besteht, dass die Eltern oder die Personen in der Einrichtung Fixierungsmaßnahmen nicht nutzen, um ein betroffenes Kind therapieren zu können, obwohl das Kind therapiert werden möchte. Auch hier gibt es einen Schutz nur über § 1666 BGB, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. § 1631 b Abs. 2 BGB soll nicht dazu dienen, die beabsichtigten Therapiemaßnahmen auf ihre Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit zu überprüfen. Hier ist davon auszugehen, dass Eltern nicht nur die rechtliche, sondern auch die persönliche Verantwortung für ihre Kinder tragen; ihre Beziehung ist von einer engen persönlichen Nähe geprägt. Eltern handeln gegenüber ihren Kindern im Gegensatz zu einem Betreuer, der für Erwachsene entscheidet, nicht aufgrund staatlicher Bestellung, sondern in Ausübung ihres Elternrechts aus Art.6 Abs. 2 S.2 GG. Dieses garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können daher grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer auch ggfs. in einer Einrichtung lebenden behinderten Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden. Sie können daher entscheiden, welche Therapiemaßnahmen ergriffen werden sollen zum Wohle ihrer Kinder und welche nicht. Solange die Fortbewegungsfreiheit dabei nicht eingeschränkt wird, bedürfen sie dazu keiner richterlichen Genehmigung.
Davon zu unterscheiden wäre eine Fixierung eines Kindes z.B. in der Nacht, das sich grundsätzlich fortbewegen könnte und zu seinem Schutz fixiert wird. Hier wäre die Fortbewegungsfreiheit betroffen und eine richterliche Genehmigung erforderlich. Eine Freiheitsentziehung setzt aber auch voraus, dass sie gegen den Willen des hiervon Betroffenen erfolgt. Am Verlassen des derzeitigen Aufenthaltsorts durch Freiheitsentziehung gehindert sind nur die Personen, die überhaupt in der Lage sind, diesen zu verlassen, und das auch wollen.(BGH FamRZ 2015, 567). Konstantin kann sich ohne die getroffenen Maßnahmen nicht fortbewegen oder aufstehen. Vielmehr wird ihm durch den Einsatz eines Rollstuhls und Stehständers im Rahmen seines Kindergartenbesuchs erst eine Fortbewegung ermöglicht. Der Einsatz eines Beckengurtes und Fixierung der Extremitäten macht die Nutzung der Hilfsmittel möglich und verhindert damit nicht etwa eine beabsichtigte Fortbewegung. Der Stehständer dient im Übrigen allein therapeutischen Zwecken, um einer orthopädischen Fehlstellung vorzubeugen. Das Einnehmen einer aufrechten Haltung stellt damit eine therapeutische Maßnahme dar.
Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen.
Von einer erneuten mündlichen Verhandlung oder Anhörung Konstantins wurde abgesehen nach § 68 Abs. 3 FamFG. Neuere Erkenntnisse sind nicht zu erwarten. Die Anhörung Konstantins durch das Amtsgericht erfolgte zeitnah.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 84, 81 Abs. 1 S.1 FamFG. Von einer Erhebung von Gerichtskosten wurde abgesehen, da die Beschwerde im überwiegenden Interesse des betroffenen Kindes eingelegt wurde. Außergerichtliche Auslagen werden nicht erstattet.
Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf §§ 40, 42 Abs. 2, 3 FamGKG.
Die Rechtsbeschwerde wird nach § 70 Abs. 2 Nr. 1 FamFG zugelassen, da die zu klärende Rechtsfrage bisher höchstrichterlich nicht entschieden wurde. Eine einheitliche Rechtsprechung liegt noch nicht vor. Die Klärung der Genehmigungsbedürftigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen ist von grundsätzlicher Bedeutung, insbesondere im Hinblick darauf, dass bei Annahme einer Genehmigungsbedürftigkeit daraus umfassend Anhörungspflichten der zuständigen Amtsgerichte entstehen.