Familienrecht

Kein Anspruch auf Inobhutnahme bei Feststellung der Volljährigkeit

Aktenzeichen  Au 3 K 16.1457

Datum:
25.4.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII SGB VIII § 42 Abs. 1 Nr. 3, § 42f Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Die qualifizierte Inaugenscheinnahme bietet jedenfalls dann keinen Anlass zur Annahme eines eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung erforderlich machenden Zweifelsfalls im Sinn des § 42 f Abs. 2 S. 1 SGB VIII, wenn weitere die Volljährigkeit bestätigende Umstände hinzutreten (Rn. 18). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger ist zur Überzeugung der Kammer zweifelsfrei volljährig und hat daher keinen Anspruch nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII auf Inobhutnahme durch das Jugendamt. Das Ergebnis der nach den Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter vom Mai 2014 durchgeführten (zweifachen) qualifizierten Inaugenscheinnahme durch insgesamt vier erfahrene Mitarbeiterinnen des Jugendamts der Beklagten wird durch zahlreiche Widersprüche im Vortrag des Klägers, das vorgelegte Lichtbild und den in der mündlichen Verhandlung gewonnenen unmittelbaren Eindruck gestützt und bestätigt. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass die qualifizierte Inaugenscheinnahme jedenfalls dann keinen Anlass zur Annahme eines eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung erforderlich machenden Zweifelsfalls im Sinne des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII bietet, wenn – wie hier – weitere die Volljährigkeit bestätigende Umstände hinzutreten (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 1.4.2016 – OVG 6 S. 7.16, OVG 6 M 20.16 – NVwZ-RR 2016, 594).
Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck ist der Kläger in Übereinstimmung mit dem von ihm in der Erstaufnahmeeinrichtung mehrfach mit seiner Unterschrift bestätigten Geburtsdatum „… 1993“ mindestens 24 Jahre alt. Das handschriftlich ausgefüllte, zweisprachige Formular „Registrierung der persönlichen Daten“ vom 11. Januar 2016, der Aufnahmeschein („White Paper“) gleichen Datums und die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender vom 19. Januar 2016, die jeweils das Geburtsdatum „… 1993“ enthalten, wurden jeweils vom Kläger unterschrieben. Mit seiner Unterschrift hat er ausdrücklich die Richtigkeit der aufgenommenen Daten bzw. der gemachten Angaben bestätigt. Das zweisprachige Formular „Registrierung der persönlichen Daten“ enthält auch den Zusatz „Mit meiner Unterschrift bestätige ich die Richtigkeit der Daten und stimme deren Aufnahme in das Melderegister zu“ auf Dari in afghanischer Schrift. Der Kläger hat ausdrücklich bestätigt, dass er diese Schrift lesen kann, so dass ausgeschlossen werden kann, dass der Eintrag „… 1993“ ohne sein Wissen bzw. ohne sein Einverständnis erfolgt ist. Die in diesem Formular vorgenommene Korrektur des Familiennamens zeigt vielmehr, dass der Kläger die Richtigkeit seiner persönlichen Daten überprüft hat. Auch zeigt ein Vergleich mit dem am 5. Januar 2016 in Mazedonien ausgestellten Dokument, dass die Daten hieraus nicht ungeprüft übernommen wurden, weil dort als Name des Klägers noch „…“ aufgenommen wurde.
Die späteren Angaben des Klägers zu seinem Alter entsprechen offenkundig nicht den Tatsachen. Seine Einlassungen bei der behördlichen Altersfeststellung, seine Mutter bzw. seine Eltern hätten ihm gesagt, dass er (ca.) 15 Jahre alt sei (Bl. 6, 19, 20 der Akte des Jugendamts) sind unvereinbar mit der Aussage beim Bundesamt, seine Mutter sei bereits seit sieben bis acht Jahren verstorben. Auch die Angaben, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinem Alter gemacht hat, sind widersprüchlich. Zunächst wiederholte er die Behauptung, seine Eltern hätten ihm gesagt, er sei 15 oder 16 Jahre alt. Davon rückte er aber immer weiter ab und behauptete schließlich, er habe von seinen Eltern immer wieder verschiedene Antworten bekommen, mal 14, mal 15 Jahre. Dies lässt sich mit dem behaupteten „ganz frühen“ Tod der Mutter auch dann nicht vereinbaren, falls die Mutter erst vor etwa drei bis vier Jahren verstorben sein sollte. Ohnehin hat der Kläger bei der Altersfeststellung durch das Jugendamt erwähnt, seine ca. 40 Jahre alten Eltern seien mit seiner Ausreise einverstanden gewesen und hätten die Flucht organisiert und auch bezahlt (Bl. 14 ff., 21 der Akte des Jugendamts). Zuvor hatte der Kläger gegenüber seinem Verfahrensbeistand Rechtsanwalt … erklärt, dass sein Vater noch in Afghanistan in der Provinz … lebe und seine Mutter vor ca. einem Jahr verstorben sei. Dementsprechend wurde in dem Beschluss des Familiengerichts vom 9. Februar 2016 festgestellt, dass die elterliche Sorge des Vaters bezüglich des Kindes … ruhe, da der Vater auf längere Zeit die elterliche Sorge tatsächlich nicht ausüben könne. In eklatantem Widerspruch hierzu gab der Kläger bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 24. Oktober 2016 an, sein Vater sei vor ca. einem Jahr und zwei Monaten von den Taliban zu Tode gefoltert worden, er selbst sei bei der Beerdigung seines Vaters ganz allein gewesen und nach dessen Ermordung noch fünf Tage im Land geblieben.
Auch hinsichtlich seiner Geschwister hat sich der Kläger sehr unterschiedlich geäußert. Bei der ersten Altersfeststellung am 26. Januar 2016 erwähnte er einen ca. 10 Jahre alten Bruder und eine ca. 6 Jahre alte Schwester, in dem Widerspruch vom 22. Februar 2016 zwei Geschwister im Alter von 8 und 12 Jahren und bei der zweiten Altersfeststellung am 3. März 2016 zwei Brüder im Alter von ca. 7 und 8 Jahren sowie eine Schwester im Alter von ca. 6 Jahren. Dagegen behauptete er bei den Anhörungen durch das Bundesamt am 24. Oktober 2016 und das Verwaltungsgericht am 25. April 2017, er habe nur einen ca. 23 Jahre alten Bruder, der Soldat bei der afghanischen Armee (gewesen) sei. Seine Einlassung, die beim Jugendamt erwähnten Geschwister seien seine Stiefgeschwister aus der zweiten Ehe seines Vaters, da dieser nach dem Tod seiner Mutter nochmal geheiratet habe, stellt eine klare Schutzbehauptung dar. Er hat auch zum angeblichen Tod seiner Mutter sehr unterschiedliche Angaben gemacht (vor ca. einem Jahr verstorben gegenüber dem Familiengericht, vor sieben bis acht Jahren verstorben gegenüber dem Bundesamt, vor etwa drei bis vier Jahren verstorben gegenüber dem Verwaltungsgericht, ca. 40 Jahre alt gegenüber dem Jugendamt). Selbst bei einem schon sieben bis acht Jahre zurückliegenden Tod der Mutter könnte die zweite Ehe des Vaters allenfalls vor acht Jahren geschlossen worden sein, so dass ein ca. 10 oder 12 Jahre alter Stiefbruder hiermit nicht in Einklang gebracht werden kann.
Auch für den Sonderbeauftragten für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, der die persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt durchgeführt hat, und die hierbei hinzugezogene Dolmetscherin ist der Kläger eindeutig volljährig (vgl. Vermerk vom 24.10.2016, S. 40 der Bundesamtsakte; Bescheid des Bundesamts vom 14.3.2017, S. 3).
Die abweichende Einschätzung der in der Klagebegründung genannten Personen führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Insoweit ist richtigzustellen, dass diese Personen nicht geäußert haben, der Kläger sei minderjährig, sondern (sinngemäß) der Kläger könnte minderjährig sein. So schreibt Rechtsanwalt … in seiner Stellungnahme vom 3. Februar 2016 gegenüber dem Familiengericht, der Betroffene sei nach seiner Einschätzung „wohl noch minderjährig“. Rechtsanwältin … trägt in ihrem Schreiben vom 8. März 2016 an das Familiengericht vor, ihr Eindruck von dem betroffenen Jugendlichen sei, dass dieser „noch minderjährig sein dürfte“. Rechtsanwältin … äußert in ihrem Schreiben vom 12. August 2016 an das Familiengericht, auch ihres Erachtens scheine der Jugendliche noch minderjährig zu sein. Sämtliche Rechtsanwälte haben dabei – ebenso wie der aktuelle Vormund des Klägers – als amtlich bestellte Interessenvertreter des Klägers gehandelt, so dass es in der Natur der Sache liegt, dass sie das Ergebnis der Altersfeststellung des Jugendamts angezweifelt haben. Soweit der Koordinatorin für berufsschulpflichtige Asylbewerber und Flüchtlinge bei der Regierung von … ein Alter von 15 Jahren wahrscheinlicher erschienen ist als ein Alter von 23 Jahren, ist dies offenbar darauf zurückzuführen, dass sie der entsprechenden familiengerichtlichen Bescheinigung mehr vertraute als der ein Alter von 23 Jahren ausweisenden ausländerbehördlichen Bescheinigung.
Das Familiengericht hat sich jedoch vor Erlass der maßgeblichen Beschlüsse vom 26. Januar 2016 (Bestellung eines Verfahrensbeistands im Verfahren wegen elterlicher Sorge), 9. Februar 2016 (Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge des Vaters) und 12. Februar 2016 (Anordnung der Vormundschaft) keinen persönlichen Eindruck vom Kläger verschafft. Die Beschlüsse ergingen im Bürowege, wobei in dem zuerst genannten Beschluss als Geburtsdatum des Klägers der … 2001 abweichend von der Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender allein deshalb angegeben wurde, weil der Kläger gegenüber einem Mitarbeiter der Beklagten angegeben hatte, erst 15 Jahre alt zu sein. Das (fiktive) Geburtsdatum „… 2001“ wurde dann ungeprüft in alle weiteren familiengerichtlichen Beschlüsse und Bescheinigungen übernommen.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen, weil er unterlegen ist (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die Kostenentscheidung war gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.

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