Aktenzeichen III R 46/14
§ 62 Abs 2 EStG 2009
§ 63 Abs 1 EStG 2009
§ 64 Abs 2 S 1 EStG 2009
Art 1 Buchst z EGV 883/2004
Art 2 Abs 1 EGV 883/2004
Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004
Art 11 Abs 1 EGV 883/2004
Abs 3 Buchst a EGV 883/2004
Art 67 EGV 883/2004
Art 60 Abs 1 EGV 987/2009
EStG VZ 2009
EStG VZ 2010
Leitsatz
1. NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776) .
2. NV: Für eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Elternteils müssen die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt sein (Anschluss an Senatsurteil vom 7. Juli 2016 III R 11/13) .
Verfahrensgang
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 13. November 2014, Az: 10 K 10241/11, Urteil
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. November 2014 10 K 10241/11 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Tatbestand
1
I. Der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) wohnende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater des im Dezember 1991 geborenen Sohnes F. Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und war im streitigen Zeitraum (Mai 2010 bis August 2011) nichtselbständig beschäftigt. F, der bei seiner Mutter in England aufgewachsen ist, besuchte bis Juli 2010 ein College und studierte ab September 2010 an einer Universität in England. Einkünfte und Bezüge hatte F im Streitzeitraum nicht.
2
Die Kindsmutter lebte in England und war dort selbständig tätig. In England bezog sie Familienleistungen für F bis einschließlich September 2010.
3
Im März 2011 beantragte der Kläger erstmals Kindergeld für seinen Sohn F. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Juli 2011 für die Zeit ab Mai 2010 ab, da die in England lebende Kindsmutter den Sohn F in ihren Haushalt aufgenommen habe und somit vorrangig zum Bezug von Kindergeld berechtigt sei. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 3. August 2011).
4
Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger inländisches Kindergeld für F ab Mai 2010. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit Urteil vom 13. November 2014 10 K 10241/11 zum Teil statt. Es war der Ansicht, dem Kläger stehe für seinen in England lebenden Sohn F für den Streitzeitraum Oktober 2010 bis August 2011 inländisches Kindergeld in voller Höhe und für den Streitzeitraum Mai 2010 bis September 2010 inländisches Differenzkindergeld zu. Im Übrigen wies es die Klage ab.
5
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts. Bei der Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts sei nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union –ABlEU– 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung –VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)– i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung –VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)– zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit dem Kind in Deutschland lebe. Die Kindsmutter sei somit gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt.
6
Die Familienkasse beantragt sinngemäß,das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 13. November 2014 10 K 10241/11 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7
Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.