Aktenzeichen 1 BvR 1883/10
Art 6 Abs 4 GG
Art 6 Abs 5 GG
Art 8 MRK
§ 46 SGB 6
Verfahrensgang
vorgehend BSG, 22. April 2010, Az: B 5 R 74/10 B, Beschlussvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 2. Dezember 2009, Az: L 4 R 446/09, Beschlussvorgehend SG Mainz, 3. September 2009, Az: S 1 R 546/07, Urteil
Gründe
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                            Die Beschwerdeführerin begehrt die Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund des
      Todes ihres nichtehelichen Lebensgefährten.
   
I.
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                            Die im Februar 1960 geborene Beschwerdeführerin hatte mit ihrem am 30. November 2004 verstorbenen Lebensgefährten nach eigener
      Darstellung bis zu dessen Tod sechzehn Jahre zusammengelebt. Der Beziehung entstammt eine im Mai 2000 geborene Tochter. Die
      Beschwerdeführerin und ihr Lebensgefährte schlossen am 15. Juli 2004 nach buddhistischem Zen-Ritus in Frankreich eine Ehe.
      Nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin beabsichtigten sie auch eine standesamtliche Eheschließung, die auf den 21. Februar
      2005 terminiert gewesen sei.
   
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                            Nach dem Tod ihres Lebenspartners beantragte die Beschwerdeführerin im Dezember 2004 eine Witwenrente beim zuständigen Rentenversicherungsträger.
      Dieser lehnte den Antrag unter Hinweis auf die fehlende Witweneigenschaft im Sinne von § 46 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch
      (SGB VI) ab. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos.
   
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                            Die hiergegen gerichtete Klage wurde vom Sozialgericht mit angegriffenem Urteil abgewiesen. Das Landessozialgericht lehnte
      sodann die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren mit angegriffenem Beschluss mangels Erfolgsaussichten
      ab. Die Berufung selbst wurde vom Landessozialgericht mit nicht vorgelegtem und nicht angegriffenem Beschluss zurückgewiesen.
      Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom Bundessozialgericht mit angegriffenem Beschluss als unzulässig verworfen, weil sie
      keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung benannt habe und auch nicht die Klärungsbedürftigkeit des von ihr angesprochenen
      Fragekomplexes dargelegt habe.
   
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                            Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, dass die Gerichte den Begriff der „Witwe“ in einer mit Art. 6 GG
      in Verbindung mit Art. 8 EMRK nicht zu vereinbarenden Weise ausgelegt hätten. Zwar verstünden die deutschen Gesetze, wenn
      sie den Begriff „Witwe“ oder „Witwer“ verwenden, durchweg die Überlebenden aus einer formal geschlossenen Ehe. Eine davon
      abweichende Auslegung gebiete aber der fürsorgerische Gedanken, der auch Überlebende aus einer nichtehelichen Partnerschaft
      als schutzbedürftig erscheinen lasse, der verfassungsrechtliche Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG, der nicht nur ehelich
      begründete Familien umfasse, sowie Art. 8 EMRK, der auch faktische Beziehungen schütze. In dieselbe Richtung weise auch Art.
      23 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Dass eine verfassungskonforme Interpretation des
      Begriffs „Witwe“ jede überlebende Partnerin einer familiären Beziehung unabhängig vom bürgerlich rechtlichen Familienstand
      jedenfalls dann erfasse, wenn sie zugleich Mutter eines gemeinsamen Kindes sei, ergebe sich zudem aus Art. 6 Abs. 4 und Abs.
      5 GG. Bei einer anderen Auslegung des Witwenbegriffs stelle sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelungen.
      Die Verweigerung einer Witwenrente verstoße darüber hinaus gegen Art. 14 EMRK und Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK.
   
II.
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                            Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG
      nicht vorliegen. Sie hat keine Aussicht auf Erfolg.
   
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                            1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landessozialgerichts über die Ablehnung von Prozesskostenhilfe
      für das Berufungsverfahren richtet, ist sie verfristet (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Der Beschluss ist am 9. Dezember 2009
      beim Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin eingegangen; die Verfassungsbeschwerde ist indes erst am 22. Mai 2010 erhoben
      worden.
   
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                            2. Die Verfassungsbeschwerde ist – unbeschadet der Beantwortung weiterer Zulässigkeitsfragen – unbegründet, soweit sie sich
      gegen die Sachentscheidung des Sozialgerichts richtet. Die Auslegung des Begriffs „Witwe“ in § 46 SGB VI durch das Sozialgericht
      dahingehend, dass nur die Überlebende einer zivilrechtlich geschlossenen Ehe hierunter zu verstehen sei, ist verfassungsrechtlich
      nicht zu beanstanden.
   
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                            a) Das Bundesverfassungsgericht prüft die Auslegung und die Anwendung einfachen Rechts nur darauf, ob sie Auslegungsfehler
      enthält, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen Grundrechte beruhen, und ob
      sie willkürlich ist (vgl. BVerfGE 18, 85 ; 85, 248 ; 108, 351 ).
   
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                            b) Dies ist hier nicht Fall. Zum einen ist die Auslegung des Sozialgerichts nicht willkürlich. Die Beschwerdeführerin geht
      selbst und zu Recht davon aus, dass die deutschen Gesetze – hier konkret § 46 SGB VI – unter „Witwe“ nur den Überlebenden
      einer – hier unstreitig nicht vorliegenden – zivilrechtlich wirksam geschlossenen Ehe verstehen (vgl. etwa BSGE 53, 137 ;
      BSG, Urteil vom 30. März 1994 – 4 RA 18/93 -, NJW 1995, S. 3270 ; Löns, in: Kreikebohm, SGB VI, 3. Aufl. 2008, § 46
      Rn. 4). Diese Auslegung des einfachen Rechts liegt auch der Rechtsprechung der Bundesverfassungsgerichts zugrunde (vgl. BVerfGE
      112, 50 ).
   
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                            c) Sie ist zum anderen auch mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, dass es
      dem Gesetzgeber wegen des besonderen verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe, den Art. 6 Abs. 1 GG anordnet, nicht verwehrt
      ist, die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen (vgl. BVerfGE 6, 55 ; 105, 313 ; 124, 199 ; BVerfGK
      12, 169 ). Dies gilt insbesondere im Verhältnis der Ehe zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften (vgl. BVerfGE 117,
      316 ); sie fallen nicht unter den Begriff der Ehe (vgl. BVerfGE 36, 146 ; 82, 6 ; 112, 50 ; BVerfG, Beschluss
      der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. Juli 2003 – 1 BvR 1587/99 -, NJW 2003, S. 3691). Daher ist es gerechtfertigt, die
      Partner im Falle der Auflösung der Ehe durch Tod besser zu stellen als Menschen, die in weniger verbindlichen Paarbeziehungen
      zusammenleben (vgl. BVerfGE 124, 199 ). Dem entspricht die Nichteinbeziehung von überlebenden nichtehelichen Lebensgefährten
      in die Hinterbliebenenrente der gesetzlichen Rentenversicherung.
   
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                            d) Etwas anderes folgt auch nicht aus Art. 6 Abs. 4 und Abs. 5 GG, deren Verletzung die Beschwerdeführerin rügt. Art. 6 Abs.
      4 GG betrifft nur Situationen, in denen die Mutter Nachteile erleidet, die auf ihre Mutterschaft zurückzuführen sind (vgl.
      BVerfGE 60, 68 ), nicht aber Regelungen für Sachverhalte, die nicht allein Mütter betreffen (vgl. BVerfGE 87, 1 ;
      94, 241 ; Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, 2003, S. 177 ff.). Der Ausschluss nichtehelicher Partner von
      der Hinterbliebenenrente in § 46 SGB VI knüpft aber weder an die Mutterschaft an noch betrifft er ausschließlich Mütter. Art.
      6 Abs. 5 GG schließlich begünstigt nur nichteheliche Kinder, nicht aber deren Eltern (vgl. BVerfGE 79, 203 ; 112, 50
      ).
   
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                            Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
   




