Aktenzeichen 12 C 15.2382
VwGO VwGO §§ 166, 188 S. 2, 1
SGB X SGB X § 48 I 2 Nr. 2
ZPO ZPO § 114 I 1
Leitsatz
1 Inhaber eines Anspruchs auf Unterhaltsvorschussleistungen nach § 1 I UVG ist nicht der alleinerziehende Elternteil, sondern das unterhaltsberechtigte Kind, das im Verfahren ggf. durch den alleinerziehenden Elternteil gesetzlich vertreten wird. Fallen die Voraussetzungen für die Gewähr des Unterhaltsvorschusses weg, muss die Aufhebung der Bewilligung und die Rückforderung zu Unrecht gewährter Leistungen nach §§ 44 ff. SGB X gegenüber dem anspruchsberechtigten Kind erfolgen. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Eine von Forderungen gegenüber dem Kind als Anspruchsinhaber unabhängige Ersatzpflicht für zu Unrecht geleisteten Unterhaltsvorschuss trifft anknüpfend an eine Pflichtverletzung nach § 5 I UVG den alleinerziehenden Elternteil oder den gesetzlichen Vertreter des Kindes. (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Der Anspruch auf die Leistung eines Unterhaltsvorschusses entfällt, wenn ein Elternteil das bei dem anderen Elternteil wohnenden Kind in der Weise “wesentlich mitbetreut”, dass kein typischer Fall eines Alleinerziehenden mehr vorliegt. Eine “wesentliche Mitbetreuung” liegt nicht erst bei der Vereinbarung eines sog. Wechselmodells vor, sondern bereits dann, wenn der Elternteil, bei dem das Kind sich überwiegend aufhält, eine spürbare Entlastung in der Kinderbetreuung erfährt. Umgekehrt scheidet eine „wesentliche Mitbetreuung“ dann aus, wenn sich das Kind beim anderen Elternteil in der Regel nur „besuchsweise“ aufhält und der alleinerziehende Elternteil die Erziehung und Betreuung des Kindes maßgeblich prägt. (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Ist aufgrund des zeitlichen Umfangs des vereinbarten Umgangsrechts nicht auszuschließen, dass ein Fall der “wesentlichen Mitbetreuung” vorliegt, bedarf es einer Prüfung im Einzelfall, ob dem anderen Elternteil im Hinblick auf die Erziehung der Kinder, die Ausgestaltung des Umgangs und die Schaffung emotionaler Bezugspunkte eine (qualitativ) wesentlich mitbestimmende Rolle zukommt. Liegt hingegen trotz einer zeitlich weitreichenden Entlastung durch den anderen Elternteil die überwiegende Erziehungsverantwortung eindeutig bei einem Elternteil, kommt die Annahme der „wesentlichen Mitbetreuung“ und damit der Wegfall des Anspruchs auf Unterhaltsvorschussleistungen nicht in Betracht. (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Die Pflicht aus § 6 IV UVG, die Änderung leistungserheblicher Umstände unverzüglich der Bewilligungsbehörde mitzuteilen, verletzt derjenige fahrlässig, der entgegen den schriftlichen Hinweisen im Antrag bzw. im Bewilligungsbescheid wesentliche Änderungen im zeitlichen Umfang des Umgangsrecht nicht angibt. (red. LS Clemens Kurzidem)
Verfahrensgang
B 3 K 15.505 2015-10-01 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth
Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 1. Oktober 2015 (Az. B 3 K 15.505) wird aufgehoben und der Klägerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Jensch bewilligt.
Gründe
1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung für eine unterhaltsvorschussrechtliche Streitigkeit ist zulässig und in der Sache begründet, da die Klage gemessen am prozesskostenhilferechtlichen Maßstab im Sinne von § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hinreichende Erfolgsaussichten besitzt.
1.1 Nach § 1 Abs. 1 Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) kommt nicht dem alleinerziehenden Elternteil, sondern dem unterhaltsberechtigten Kind ein Anspruch auf Leistung eines Unterhaltsvorschusses zu. Liegen daher die Tatbestandsvoraussetzungen für die Leistungsbewilligung nicht oder nicht mehr vor, muss die Aufhebung der Bewilligung nach den §§ 44 ff. Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und ggf. die Rückforderung zu Unrecht geleisteten Unterhaltsvorschusses gegenüber dem Kind als Anspruchsinhaber, nicht hingegen gegenüber dem alleinerziehenden Elternteil erfolgen. Demgegenüber trifft nach § 5 Abs. 1 UVG unter den dort genannten Tatbestandsvoraussetzungen ausschließlich den alleinerziehenden Elternteil oder den gesetzlichen Vertreter des Kindes eine von Forderungen gegenüber dem Anspruchsinhaber unabhängige Ersatzpflicht für zu Unrecht geleisteten Unterhaltsvorschuss. Diese Ersatzpflicht setzt die vorherige Aufhebung der Unterhaltsvorschussbewilligung gegenüber dem anspruchsberechtigten Kind nicht voraus. Sie knüpft vielmehr an eine Pflichtverletzung des alleinerziehenden Elternteils an (vgl. BayVGH, B. v. 16.2.2007 – 12 C 06.3229 – juris Rn. 6; BVerwG, U. v. 26.1.2001 – 5 C 19.10 – NJW 2011, 2068 ff. Rn. 15 f.; HessVGH, B. v. 2.7.2013 – 10 D 2134/12 – NJW 2013, 3321 ff. Rn. 5).
Im vorliegenden Fall geht bereits aus den Bewilligungsbescheiden der Beklagten vom 15. Januar 2014 (Bl. 17 ff. und Bl. 20 ff. der Verfahrensakte der Beklagten) nicht hervor, dass Unterhaltsvorschuss hier den Kindern der Klägerin, nicht hingegen der Klägerin selbst geleistet wird. Adressiert sind die Bescheide ausschließlich an die Klägerin, ohne dass erkennbar wäre, dass sie hinsichtlich der Geltendmachung des Unterhaltsvorschusses als gesetzliche Vertreterin ihrer Kinder auftritt. Dies gilt in gleicher Weise für die Einstellungs- und Rückforderungsbescheide vom 17. April 2014 (Bl. 84 f., 86 f. der Verfahrensakte der Beklagten), die wiederum ausschließlich an die Klägerin adressiert sind und ein gesetzliches Vertretungsverhältnis nicht einmal ansatzweise aufzeigen. Auch der Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberfranken (Bl. 25 ff. der Widerspruchsakte) berücksichtigt die alleinige Anspruchsberechtigung der Kinder der Kläger nicht. Ferner wurde der Widerspruch vom Bevollmächtigten der Klägerin auch in deren eigenem Namen erhoben und gegenüber der Klägerin von der Regierung von Oberfranken entsprechend verbeschieden. Schließlich erfolgte die Klageerhebung ebenfalls im eigenen Namen der Klägerin. Dass sie als gesetzliche Vertreterin ihrer Kinder gegen die Einstellung der Unterhaltsvorschussbewilligung vorgehen wollte, lässt sich den dem Senat vorliegenden Akten nicht entnehmen. Von daher spricht Vieles dafür, dass die Beklagte die (rückwirkende) Einstellung der Bewilligung von Unterhaltsvorschussleistungen an den falschen Adressaten, nämlich die Kindsmutter anstelle der Kinder gerichtet hat (vgl. zur umgekehrten Fallkonstellation der Adressierung allein an das anspruchsberechtigte Kind HessVGH, B. v. 2.7.2013 – 10 D 2134/12 – NJW 2013, 3321 ff. Rn. 3 ff.), was insoweit zur Rechtswidrigkeit des Bescheids führt.
Weiter ist anzumerken, dass § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) als Rechtsgrundlage für die Einstellung der Unterhaltsvorschussleistungen, auf die sich die Regierung von Oberfranken im Widerspruchsbescheid beruft, vorliegend wohl deshalb keine Anwendung finden kann, weil der Tatbestand auf eine Pflichtverletzung des „Betroffenen“ abstellt, hingegen die in Rede stehende Pflicht des § 6 Abs. 4 UVG nicht die Kinder als nach § 1 Abs. 1 UVG Anspruchsinhaber und von einer Einstellung des Unterhaltsvorschusses „Betroffene“, sondern den alleinerziehenden Elternteil bzw. den gesetzlichen Vertreter der Kinder trifft. Insoweit wäre möglicherweise eine andere Rechtsgrundlage für die Einstellung der Unterhaltsvorschussleistungen in Betracht zu ziehen (vgl. hierzu HessVGH, B. v. 2.7.2013 – 10 D 2134/12 – NJW 2013, 3321 ff. Rn. 5). Auch dies berücksichtigen weder die streitgegenständlichen Einstellungs- und Rückforderungsbescheide noch der Widerspruchsbescheid. Inwieweit die streitbefangenen Bescheide ggf. einer Auslegung bzw. einer Umdeutung zugänglich sind, bedarf im Prozesskostenhilfeverfahren keiner Entscheidung. Jedenfalls bestehen bereits insoweit im Sinne von § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hinreichende Erfolgsaussichten der Klage, die – da die Klägerin nach der im Beschwerdeverfahren eingereichten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt – zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung führen.
1.2 Offene Erfolgsaussichten besitzt die Klage darüber hinaus auch insoweit, als der vom Beklagten gegenüber der Klägerin nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 UVG geltend gemachte Ersatz von Unterhaltsvorschussleistungen im Streit steht. Ob, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, seit der vergleichsweisen Regelung des Umgangsrechts zwischen der Klägerin und ihrem geschiedenen Ehemann vom 14. Februar 2014 und deren tatsächlichem Vollzug die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 UVG, konkret das „Leben bei einem der Elternteile“ noch vorliegen, lässt sich aufgrund der bislang ermittelten Sachlage anhand der Vorgaben der Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 11.10.2012 – 5 C 20.11 – NJW 2013, 405 ff. Rn. 20 ff.), nicht beantworten, so dass insoweit voraussichtlich eine Beweisaufnahme erforderlich sein wird. Dies rechtfertigt nach ständiger Praxis des Senats ebenfalls die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
Es ist in der Rechtsprechung geklärt (BVerwG, U. v. 11.10.2012 – 5 C 20.11 – NJW 2013, 405 ff. Rn. 20 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 15.12.2015 – 12 A 1053.14 – juris Rn. 29 ff.; BayVGH, B. v. 14.1.2013 – 12 C 12.2737 – juris Rn. 7 ff.), dass dann, wenn ein Elternteil das bei dem anderen Elternteil wohnende Kind „wesentlich mitbetreut“ und den anderen Elternteil damit in einer Weise entlastet, dass kein typischer Fall eines „Alleinerziehenden“ mehr vorliegt, kein Anspruch auf die Leistung eines Unterhaltsvorschusses mehr besteht. Eine dergestalt „wesentliche Mitbetreuung“ kann nicht erst bei der (familienrechtlichen) Vereinbarung des sog. Wechselmodells angenommen werden, bei der sich beide Elternteile die Betreuung des gemeinsamen Kinds hälftig teilen, sondern bereits dann, wenn der Elternteil, bei dem das Kind sich überwiegend aufhält, zeitlich eine spürbare Entlastung in der Kinderbetreuung erfährt (OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 15.12.2015 – 12 A 1053.14 – juris Rn. 31; BayVGH, B. v. 14.1.2013 – 12 C 12.2737 – juris Rn.10). Umgekehrt scheidet eine „wesentliche Mitbetreuung“ dann aus, wenn sich das Kind beim anderen Elternteil in der Regel nur „besuchsweise“ aufhält und der alleinerziehende Elternteil die Erziehung und Betreuung des Kindes maßgeblich prägt (OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 15.12.2015 – 12 A 1053.14 – juris Rn. 33; BayVGH, B. v. 14.01.2013 – 12 C 12.2737 – juris Rn. 10 a.E.).
In Fallkonstellationen wie der vorliegenden, bei denen vom zeitlichen Umfang des vereinbarten Umgangs mit den Kindern die Annahme einer „wesentlichen Mitbetreuung“ durch den anderen Elternteil nicht von vornherein auszuschließen ist (vgl. hierzu BayVGH, B. v.16.2.2007 – 12 C 06.3229 – juris Rn. 4 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 15.12.2015 – 12 A 1053.14 – juris Rn. 35 ff.; B. v. 21.7.2014 – 12 A 1053/14 – juris Rn. 13), bedarf es daher der Klärung im Einzelfall, ob dem anderen Elternteil im Hinblick auf die Erziehung der Kinder, die Ausgestaltung des Umgangs und die Schaffung emotionaler Bezugspunkte eine (qualitativ) wesentlich mitbestimmende Rolle zukommt. Liegt hingegen trotz einer zeitlich weitreichenden Entlastung durch den anderen Elternteil die überwiegende Erziehungsverantwortung eindeutig bei einem Elternteil, kommt die Annahme der „wesentlichen Mitbetreuung“ und damit der Wegfall des Anspruchs auf Unterhaltsvorschussleistungen nicht in Betracht (vgl. hierzu Ziffer 1.3.1 der Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Unterhaltsvorschussgesetzes [VwUVG 2016] in der ab 1.1.2016 geltenden Fassung).
Ob im vorliegenden Fall die überwiegende Erziehungsverantwortung unter Berücksichtigung der praktizierten Umgangsregelung eindeutig von der Klägerin wahrgenommen wird, bedarf der Klärung im Hauptsacheverfahren, ggf. im Wege einer Beweisaufnahme. Hierbei wird einerseits zu ermitteln sein, ob die Klägerin – wie sie im Beschwerdeverfahren vorträgt – die alleinige Verantwortung beispielsweise für die Anschaffung von Kleidung und Spielzeug der Kinder trägt, schulische Angelegenheiten maßgeblich bestimmt (einschließlich Hausaufgabenbetreuung) und alleiniger (oder zumindest wesentlicher) emotionaler Bezugspunkt der Kinder ist, andererseits welche Rolle dem Vater der Kinder bei der Erziehung über den zeitlichen Rahmen des Umgangs hinaus tatsächlich zukommt und wie es zu bewerten ist, dass eines der Kinder beim Vater gemeldet ist und er für dieses Kind Kindergeld bezieht (zur indiziellen Wirkung des Kindergeldbezugs BVerwG, U. v. 11.10.2012 – 5 C 20.11 – NJW 2013, 405 ff. Rn. 21). Insoweit erweisen sich die Erfolgsaussichten der Klage daher als offen.
1.3 Ohne dass es im Beschwerdeverfahren hierauf noch entscheidungserheblich ankäme, weist der Senat darauf hin, dass die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe ihre Pflicht aus § 6 Abs. 4 UVG, der Beklagten „Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind“, unverzüglich mitzuteilen, zumindest fahrlässig verletzt, keine Bedenken bestehen. Denn sowohl das Antragsformular wie auch der Bewilligungsbescheid der Beklagten enthalten den expliziten Hinweis auf die Mitteilungspflicht, wenn „sich der Betreuungsumfang des Kindes durch den anderen Elternteil nicht nur geringfügig erhöht“ bzw. bei „Mitbetreuung des Kindes durch den anderen Elternteil“. Angesichts der vergleichsweisen Vereinbarung eines deutlich zugunsten des Kindsvaters erweiterten Umgangsrechts kann die Klägerin mit ihrem Vortrag, sie sei von keiner „wesentlichen Änderung“ der Verhältnisse ausgegangen, nicht durchdringen. Auch könnte sie der Umstand, dass eine (andere) Stelle des Jugendamts am Abschluss der vergleichsweisen Umgangsregelung beteiligt war, nicht von ihrer Mitteilungspflicht nach § 6 Abs. 4 UVG (vgl. Sächsisches OVG, B. v. 8.1.2016 – 5 D 54/15 – juris Rn. 8 ff.) entlasten. Ob die Klägerin demnach eine Pflicht zum Ersatz des geleisteten Unterhaltsvorschusses nach § 5 Abs. 1 Satz 1 UVG trifft, hängt mithin maßgeblich von den Feststellungen zum Vorliegen einer „wesentlichen Mitbetreuung“ durch den Kindsvater ab und kann nur im Hauptverfahren beantwortet werden.
2. Einer Kostenentscheidung bedurfte es im vorliegenden Fall nicht, da nach § 188 Satz 2, 1 VwGO in Angelegenheiten des Unterhaltsvorschussrechts Gerichtskosten nicht erhoben und nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO im Prozesskostenhilfebeschwerdeverfahren Kosten nicht erstattet werden. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.