Familienrecht

Unterhaltsvorschuss: Mitbetreuung durch den anderen Elternteil

Aktenzeichen  Au 3 K 18.2073

Datum:
4.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 27912
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 74 Abs. 1 S. 1
VwGO § 58 Abs. 2 S. 2
VwGO § 60 Abs. 2
SGB X § 48 Abs. 1
UVG § 1 Abs. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

Ob im Sinn des Unterhaltsvorschussgesetzes ein Kind bei einem Elternteil lebt, also dieser Elternteil alleinerziehend ist, ist aufgrund einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu beurteilen. Eine die Alleinerziehung ausschließende wesentliche Entlastung des den Unterhaltsvorschuss beantragenden Elternteils bei der Pflege und Erziehung des Kindes kann daher auch gegeben sein, wenn der andere Elternteil die Betreuung des Kindes in zeitlicher Hinsicht nur zu weniger als einem Drittel übernimmt. Soweit die Richtlinien zur Durchführung des Unterhaltsvorschussgesetzes (UVG-RL), die das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend mit Wirkung ab 1. Januar 2019 erlassen hat, hierzu im Widerspruch stehen, sind sie nicht gesetzeskonform.

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von … vom 14. November 2018 wird aufgehoben, soweit er den Zeitraum vom 1. Februar 2018 bis 11. Februar 2018 betrifft. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gegenstand der Klage sind nur die Unterhaltsvorschussleistungen vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2019. Ab dem 1. Mai 2019 wurden der Klägerin wieder Unterhaltsvorschussleistungen bewilligt, so dass sich der angegriffene Bescheid insoweit erledigt hat.
Die Klage ist zulässig, aber nur insoweit begründet, als sie den Zeitraum vom 1. Februar 2018 bis 11. Februar 2018 betrifft. Im Übrigen ist der streitgegenständliche Bescheid rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere scheitert sie nicht an der Einhaltung der Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Zwar hat bei einer subjektiven Klageänderung auf Klägerseite auch die neue Klägerin die Klagefrist zu beachten und muss eine bereits eingetretene Bestandskraft gegen sich gelten lassen (vgl. W.R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 74 Rn. 7). Allerdings war der Klägerin vorliegend gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 60 Abs. 2 VwGO Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren. Höhere Gewalt im Sinn von § 58 Abs. 2 Satz 2 VwGO kann nämlich insbesondere bei einer falschen und irreführenden Rechtsbehelfsbelehrung:angenommen werden, wenn gerade sie ursächlich für die Fristversäumung war (vgl. W.R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 58 Rn. 20). Nach der dem Widerspruchsbescheid vom 14. November 2018 beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung:konnte die Mutter der Klägerin Klage gegen den Bescheid erheben. Diese teilweise auch in der Rechtsprechung vertretene Auffassung einer aus § 9 UVG folgenden Prozessstandschaft überzeugt nicht (so aber OVG Berlin-Bbg., U.v. 13.12.2018 – OVG 6 B 9.17 – BeckRS; m.w.N.). Die rein verfahrensrechtliche Bestimmung kann keine materielle Rechtsposition vermitteln. Insbesondre widerspricht eine derartige Auffassung den familienrechtlichen Wertungen, die auch im Recht des Unterhaltsvorschusses zu berücksichtigen ist. So sieht § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB keine Prozessstandschaft, sondern lediglich ein Alleinvertretungsrecht des Elternteils vor, in dessen Obhut sich das Kind befindet (Kemper in Schulze, Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Auflage 2019, § 1629 BGB Rn. 5).
2. Für den Zeitraum vom 1. Februar 2018 bis 11. Februar 2018 ist der Bescheid mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ermöglicht nämlich nur eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft. Gemäß §§ 39 Abs. 1 Satz 1, 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X wurde der streitgegenständliche Bescheid am 11. Februar 2018 wirksam, so dass die Einstellung der Leistung erst mit Wirkung ab dem 12. Februar 2018 erfolgen durfte. Die Aufhebung konnte jedoch entsprechend des Rechtsgedankens des § 2 Abs. 1 Satz 3 UVG für einen Teil des Monats erfolgen. Ein Tatbestand, der nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X auch eine rückwirkende Änderung erlauben würde, ist nicht gegeben. Insbesondere ist § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X nicht einschlägig, weil „Betroffene“ im Sinn dieser Vorschrift die Klägerin ist und diese keine eigene Mitteilungspflicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat (vgl. BayVGH, B.v. 22.4.2016 – 12 C 15.2382 – BeckRS Rn. 4).
3. Im Übrigen ist die Klage jedoch unbegründet. Eine wesentliche Änderung im Sinn von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegt vor, weil die Klägerin im Zeitraum vom 12. Februar 2018 bis 30. April 2019 in wesentlichen Umfang von ihrem Vater mitbetreut wurde und daher nicht mehr gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG nur bei einem ihrer Elternteile lebte.
a) Ein Kind lebt im Sinn des § 1 I Nr. 2 UVG bei einem seiner Elternteile, wenn es mit ihm eine auf Dauer angelegte häusliche Gemeinschaft unterhält, in der es auch betreut wird. Dem Sinn und Zweck des Unterhaltsvorschussgesetzes entsprechend ist das Merkmal nur dann erfüllt, wenn der alleinstehende Elternteil wegen des Ausfalls des anderen Elternteils die doppelte Belastung mit Erziehung und Unterhaltsgewährung in seiner Person zu tragen hat. Von einer Alleinerziehung kann dagegen nicht ausgegangen werden, wenn die Eltern die Erziehungsaufgaben so untereinander aufteilen, dass keiner der Elternteile diese Aufgabe ganz oder weit überwiegend allein erfüllen muss. Das Vorliegen der Alleinerziehung ist dabei auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei ist nicht zu fordern, dass die Erziehungs- und Betreuungsanteile in quantitativer und qualitativer Hinsicht gleich sind. Im Hinblick auf den Zweck des § 1 UVG, die Belastungen für Kinder zu mildern, die bei einem alleinerziehenden Elternteil leben, lassen sich Erschwernisse, die eine finanzielle Besserstellung durch die Gewährung von Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erfordern, schon dann nicht mehr feststellen, wenn der andere Elternteil im wesentlichen Umfang – wenn auch nicht gleichwertig – an der erzieherischen Leistung mitwirkt. Eine Alleinerziehung im vorgenannten Sinn liegt dagegen regelmäßig dann vor, wenn ein Elternteil die Verantwortung für die Betreuung und Versorgung seines Kindes in einem solchen Maße trägt, dass schon bei einer überschlägigen Prüfung im Sinn einer Evidenzkontrolle diese Betreuungsleistung nach ihrer Qualität und Quantität eindeutig dominierend in den Vordergrund tritt, die etwaigen Betreuungsleistungen des anderen Elternteils dagegen lediglich als gelegentliches Mitwirken, etwa im Rahmen von Besuchsaufenthalten, erscheinen (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 11.10.2012 – 5 C 20.11 – BeckRS und BayVGH, B.v. 14.1.2013 – 12 C 12.2737 – BeckRS; jeweils m.w.N.).
b) In der neueren Rechtsprechung wird dabei teilweise die Ansicht vertreten, dass erst ab einem quantitativen Umfang von mindestens einem Drittel der Betreuungszeit durch den anderen Elternteil eine Alleinerziehung ausgeschlossen werden könne, wenn nicht außergewöhnliche Betreuungsleistungen die fehlende 1/3 Schwelle kompensieren würden (vgl. VG Berlin, U.v. 28.9.2016 – VG 21 K 111.16; VG Berlin, U.v. 21.2.2017 – VG 21 K 251.16; i.E. ebenso OVG Greifswald Urt. v. 10.12.2019 – 1 LB 197/18 – BeckRS). Noch weiter gehen die Richtlinien zur Durchführung des Unterhaltsvorschussgesetzes (UVG-RL), die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit Wirkung ab 1. Januar 2019, also erst nach dem hier maßgeblichen Zeitraum, erlassen hat. Danach sei als Mitbetreuung erst die Verantwortungsübernahme zu mehr als einem Drittel anzusehen. Hierzu seien zunächst quantitativ die durchschnittlichen monatlichen Betreuungstage des anderen Elternteils zu ermitteln, wobei für die Zuordnung eines Tages zu einem Elternteil maßgeblich sei, wo sich das Kind um 0:00 Uhr des jeweiligen Tages aufhalte. Wochen- und Wochenendtage seien dabei gleich zu behandeln sowie die Ferien- und die sonstigen Zeiten getrennt zu ermitteln. Ergäben sich danach weniger als 10 durchschnittliche Betreuungstage pro Monat durch den anderen Elternteil sei stets Alleinerziehung gegeben. Bei 11 bis 13 durchschnittlichen Betreuungstagen pro Monat durch den anderen Elternteil sei in der Regel von Alleinerziehung auszugehen. Allerdings sei bei gegenteiligen Anhaltspunkten eine qualitative Einzelfallprüfung durchzuführen.
c) Das Gericht folgt dem nicht. Die maßgebliche Rechtsprechung schreibt ausdrücklich sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Würdigung vor (vgl. BVerwG, U.v. 11.10.2012 – 5 C 20.11 – BeckRS Rn. 21), so dass es den insoweit aus dem Sinn und Zweck des Gesetzes ermittelten Anforderungen nicht entspricht, auf der ersten Stufe allein auf die zeitliche Aufteilung der Betreuung abzustellen. Ohnehin lässt sich der quantitative Betreuungsanteil eines Elternteils – dies zeigt auch der vorliegende Fall – nicht eindeutig ermitteln. Die Grenze von einem Drittel, ab der erst eine wesentliche Mitbetreuung und erhebliche Entlastung anzunehmen sei, erscheint zudem zu weitgehend. Vielmehr muss stets aufgrund einer umfassenden Würdigung quantitativer und qualitativer Aspekte ermittelt werden, ob der eine Elternteil tatsächlich allein für das Kind sorgt oder durch den anderen Elternteil eine wesentliche Entlastung insoweit eintritt. Warum eine quantitative Entlastung in Höhe von 30% nur eine unwesentliche Entlastung sein soll, erschließt sich nicht.
d) In zeitlicher Hinsicht ergibt sich aufgrund der mündlichen Verhandlung und des Vortrags der Beteiligten im behördlichen und gerichtlichen Verfahren folgendes Grundmodell für die Betreuung der Klägerin: Die Ferien wurden auf beide Elternteile hälftig aufgeteilt. Die Klägerin wurde zudem jedes zweite Wochenende von Freitag nach dem Turnen bis Sonntagabend vom Vater betreut. Die Wochenenden beim Vater wurden im Lauf des Jahres bis Montagabend ausgedehnt. Auch nach dem Wochenende bei der Mutter verbrachte die Klägerin den Montag beim Vater. Ab Ende 2018 bzw. Anfang 2019 wurde die Klägerin nur noch an Montagen nach Wochenenden bei der Mutter vom Vater betreut. Ungeachtet nicht näher aufzuklärender Details der Umsetzung, befand sich die Klägerin damit in nicht unerheblichem Umfang beim Vater, so dass rein zeitlich von einer wesentlichen Entlastung auszugehen ist. Gerade die hälftige Betreuung während der Ferienzeiten ebenso wie die zusätzliche Betreuung am Montag zeigen in quantitativer Hinsicht ein überdurchschnittliches Engagement des Vaters. Die Betreuungsleistungen des Vaters stellen sich auch qualitativ gegenüber der von der Mutter erbrachten Betreuungsleistung als wesentlich dar. Die Klägerin gab selbst an, dass sie an den Tagen beim Vater meistens gemeinsam gekocht hätten. Der Vater habe ihr auch Kleidung wie einen Skianzug gekauft. Bei Bedarf sei vom Vater bzw. seiner Lebensgefährtin die Kleidung der Klägerin gewaschen worden. Bezüglich schulischer Angelegenheiten gab der Vater an, dass er die Klägerin zur Selbstständigkeit angeleitet habe und nur auf Nachfrage Hilfestellungen gegeben habe. Auch die Auskunft der Schule bestätigt, dass sich die Mutter und der Vater gemeinsam um die schulischen Angelegenheiten der Klägerin gekümmert hätten. Der Vater begleitete die Klägerin zu Arztterminen, wobei er Termine beim Orthopäden und bei der Physiotherapie selbst organisierte. Die Angaben des Vaters wirkten insgesamt überzeugend, in sich schlüssig und glaubhaft. Für die Glaubhaftigkeit spricht dabei, dass er auch für den Klageerfolg günstige Umstände berichtete. So gestand er beispielsweise ein, als selbstständiger Kaufmann während der Urlaubsaufenthalte gearbeitet zu haben, oder räumte ein, dass die Klägerin an Wochenenden bei ihm nur ab und zu durchgängig bis Montag geblieben sei, regelmäßig jedoch von Sonntag auf Montag bei der Mutter übernachtet habe und erst nach der Schule wieder zu ihm gekommen sei. Die wesentliche Entlastung der Mutter der Klägerin zeigt sich rückblickend zuletzt daran, dass sie gerade ab Mai 2019 und damit in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Ende der Mitbetreuung durch den Vater ihre Arbeitszeit von 35 Stunden auf 30 Stunden herabsetzte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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