Handels- und Gesellschaftsrecht

Anspruch auf Ersatz von materiellen und immateriellen Schäden aus Ansteckung mit dem HIV- Virus

Aktenzeichen  20 U 2486/16

Datum:
8.2.2017
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 101377
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 242, § 249, § 253 Abs. 2, § 254 Abs. 1, § 823 Abs. 1
ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

23 O 14459/14 2017-01-18 Endurteil LGMUENCHENI LG München I

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten und die Anschlussberufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 03.05.2016, Az. 23 O 14459/14, in Ziffern 1, 2, 3 und 5 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 71.000 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 24.12.2013 zu bezahlen.
2. Der Beklagte wird verurteilt, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten der Klägerin in Höhe von 2.806,38 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 23.12.2013 zu zahlen.
3. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin 2/3 der materiellen Schäden sowie die immateriellen Schäden unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 1/3 zu ersetzen, die der Klägerin aus der Ansteckung mit dem HIV-Virus durch den Beklagten nach dem 18.01.2017 künftig entstehen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.
5. Die Kosten des Verfahrens erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben.
II. Im Übrigen werden die Berufung und die Anschlussberufung zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
IV. Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts, soweit die Berufung zurückgewiesen wurde, sind vorläufig vollstreckbar. Jede Partei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Klägerin verlangt von dem Beklagten Ersatz von materiellen und immateriellen Schäden, weil dieser sie mit dem HI-Virus infiziert habe.
Die Klägerin und der Beklagte lernten sich im März 2012 kennen und es entwickelte sich eine zunächst freundschaftliche Beziehung. Im Rahmen gemeinsamer Gespräche äußerte der Beklagte gegenüber der Klägerin, dass eine ehemalige Freundin von ihm an einer Immunschwächekrankheit gestorben sei. Im weiteren Verlauf der Beziehung verlangte die Klägerin, die wegen einer Allergie auf die Verwendung von Kondomen beim Geschlechtsverkehr verzichten wollte, von dem Beklagten, dass er sich ärztlich untersuchen und dabei auch einen HIV-Test machen lassen solle.
Am 22.06.2012 begab sich der Beklagte zu dem Urologen und ließ einen Gesundheitscheck, jedoch keinen HIV-Test vornehmen. Am 20.07.2012 suchte der Beklagte die Klägerin in ihrer Wohnung auf, übergab ihr in einem Briefumschlag das Untersuchungsergebnis von und erklärte, dass alles mit ihm in Ordnung sei. An diesem Tag kam es erstmals zum einvernehmlichen ungeschützten Geschlechtsverkehr zwischen den Parteien. In der Folgezeit kam es noch zweimal zum Geschlechtsverkehr, zuletzt jedenfalls bei der gemeinsamen Toskana-Reise im September 2012.
Bereits nach dem ersten Geschlechtsverkehr stellte die Klägerin am nächsten Tag starke Beschwerden im Intimbereich fest. Am 28.09.2012 nach der Toskana-Reise hatte die Klägerin über das gesamte Wochenende Brechdurchfall, konnte keine Flüssigkeiten und Nahrung bei sich behalten und hatte hohes Fieber. Des Weiteren bildete sich ein Ausschlag auf der Haut. Am 02.10.2012 wurde die Klägerin in der Schreiberklinik stationär aufgenommen, wo sich ihr Zustand weiter erheblich verschlechterte. Es wurde ein SIRS mit Multiorganversagen (akute Nephropathie, akute Pankreatitis, akute Hepatitis) und eine Gastroenteritis diagnostiziert. Die Klägerin konnte ca. 14 Tage lang nur breiartige und ungewürzte Nahrung zu sich nehmen. Ihr Zustand war lebensbedrohlich. Ein durchgeführter HIV-Test ergab, dass die Klägerin mit dem HI-Virus infiziert war. Der Klägerin fielen in der Folge die Haare aus, sie wurde medikamentös behandelt, was erhebliche psychische Nebenwirkungen nach sich zog. Die Einnahme der Medikamente, die auch zu Gewichtszunahme und Gewebeeinlagerungen führten, wird lebenslang erfolgen müssen. Die Erkrankung führte außerdem zu einer Entzündung des gesamten Mundraums und von 11 Zähnen, die im Frühjahr 2012 mit neuen Kronen versehen worden waren. Deshalb mussten in mehreren Sitzungen die Kronen entfernt und erneuert werden, wobei eine örtliche Betäubung wegen des infektiösen Zustands der Klägerin nicht möglich war.
Mit Schreiben des Klägervertreters vom 30.11.2012 wurde der Beklagte aufgefordert, die Ansprüche der Klägerin dem Grunde nach anzuerkennen und vorab einen Betrag in Höhe von 5.000 € zu zahlen (Anlage K 7). Am 17.12.2012 zahlte der Beklagte an die Klägerin 5.000 €; weitere Zahlungen oder Erklärungen erfolgten nicht.
Die Klägerin trug in erster Instanz vor, der Beklagte habe sie mit HIV infiziert und dabei von seiner Infektion gewusst. Er habe ihr gegenüber vor dem ersten Geschlechtsverkehr wahrheitswidrig geäußert, dass er schon früher einen HIV-Test gemacht habe und dieser negativ ausgefallen sei. Sie selbst sei bei Vorlage des Briefumschlages am 20.07.2012 davon ausgegangen, dass der Beklagte einen HIV-Test gemacht habe. Wenn sie gewusst hätte, dass der Beklagte mit HIV infiziert gewesen sei, hätte sie den Geschlechtsverkehr mit diesem nicht durchgeführt.
Aufgrund der Schwere ihrer Verletzungen und Beeinträchtigungen sei ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 160.000 € angemessen. Nachdem der Beklagte einen Betrag von 5.000 € bereits bezahlt habe, sei ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 155.000 € zu bezahlen. Da die Folgen der Erkrankung zum jetzigen Zeitpunkt im Einzelnen noch nicht absehbar seien, müsse auch die Ersatzpflicht bezüglich künftiger materieller und immaterieller Schäden festgestellt werden. Bezüglich der außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren sei der Ansatz einer 1,8-fachen Gebühr gerechtfertigt.
Die Klägerin beantragte daher in erster Instanz,
den Beklagten zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes nebst Zinsen und vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten zu verurteilen sowie festzustellen, dass der Beklagte der Klägerin zum Ersatz sämtlicher materieller und immaterieller Schäden – soweit sie nach der letzten mündlichen Verhandlung entstehen – verpflichtet ist, die der Klägerin aus der Ansteckung mit dem HIV-Virus durch den Beklagten künftig entstehen.
Der Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen. Im Wege der Widerklage beantragte der Beklagte,
die Klägerin zur Zahlung von 5.000 € an den Beklagten zu verurteilen.
Die Klägerin beantragte,
die Widerklage abzuweisen.
Der Beklagte bestritt, die Klägerin mit dem HI-Virus angesteckt zu haben. Auch sei ihm nicht bekannt gewesen, dass er selbst mit dem HI-Virus infiziert gewesen sei. Erst nachdem er von der Erkrankung der Klägerin erfahren habe, habe er einen HIV-Test gemacht und dann am 17.10.2012 von seiner HIV-Infektion Kenntnis erhalten. Er habe der Klägerin auch vor dem ersten Geschlechtsverkehr ausdrücklich mitgeteilt, dass beim Urologen gerade kein HIV-Test durchgeführt worden sei. Eine Notwendigkeit hierfür habe der Urologe nicht gesehen. Die Zahlung der 5.000 € sei ohne Anerkennung einer Rechtspflicht erfolgt, er habe gehofft, dass die Klägerin dann in der Öffentlichkeit nicht über seine Infektion reden würde. Nachdem diese Zahlung ohne Rechtsgrund erfolgt sei, müsse die Klägerin den Betrag zurückzahlen.
Ergänzend wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
Mit Endurteil vom 03.05.2016 hat das Landgericht nach Anhörung beider Parteien, Einholung eines Sachverständigengutachtens und Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten der Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 110.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.480,44 € stattgegeben. Darüber hinaus hat das Landgericht die Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz der künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus der Ansteckung der Klägerin mit dem HI-Virus festgestellt, soweit diese nach dem 13.04.2016 entstehen. Im Übrigen wurden Klage und Widerklage abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass der Klägerin gegen den Beklagten ein deliktischer Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. §§ 249 ff., 253 Abs. 2 BGB zustehe. Die Infektion der Klägerin mit dem HI-Virus stelle eine tatbestandliche Gesundheitsverletzung dar. Der Beklagte habe die Klägerin durch den ungeschützten Geschlechtsverkehr am 20.07.2012 oder durch einen der späteren zweimaligen Geschlechtsverkehre infiziert. Hiervon sei das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme, insbesondere auch den Ausführungen des Sachverständigen überzeugt. Der Beklagte habe dabei auch rechtswidrig gehandelt; eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung der Klägerin liege nicht vor. Zwar habe die Klägerin freiwillig den ungeschützten Geschlechtsverkehr mit dem Beklagten durchgeführt, jedoch dabei keine Kenntnis von dessen Infektion gehabt und auf die Durchführung eines HIV-Tests mit negativem Ergebnis vertrauen dürfen. Ferner habe der Beklagte fahrlässig, wenn auch nicht vorsätzlich gehandelt. Die Beweisaufnahme habe nicht ergeben, dass der Beklagte tatsächlich von seiner HIV-Infektion gewusst habe. Er habe jedoch seine gegenüber der Klägerin bestehenden Sorgfaltspflichten schuldhaft verletzt, indem er sie über die Existenz eines negativen HIV-Tests getäuscht und so zu einem ungeschützten Geschlechtsverkehr verleitet habe. Nach der persönlichen Anhörung der Parteien sei das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin von dem Beklagten vor dem ersten Geschlechtsverkehr verlangt habe, dass er einen Aids-Test mache. Die Klägerin habe aufgrund dessen davon ausgehen können, dass ein Aids-Test gemacht und negativ gewesen sei, als der Beklagte ihr den Briefumschlag mit der Bemerkung, dass alles in Ordnung sei, übergeben habe. Der Beklagte hingeben habe die konkrete Möglichkeit seiner Infektiosität und damit der Möglichkeit einer HIV-Übertragung erkennen können, nachdem eine frühere Lebensgefährtin von ihm an einer Immunschwäche gestorben sei. Anders als die Klägerin habe er zumindest gewusst, dass das Risiko einer HIV-Infektion bestehe, während er ihr suggeriert habe, dass dieses Risiko aufgrund eines Aids-Tests ausgeschlossen sei. Aus diesem Grund komme auch ein Mitverschulden der Klägerin nicht in Betracht. Nach Abwägung aller Umstände hat das Landgericht ein Teilschmerzensgeld in Höhe von insgesamt 115.000 € als angemessen angesehen, von dem es den bereits geleisteten Betrag von 5.000 € abgezogen hat. Ferner hat das Landgericht ein Feststellungsinteresse bezüglich künftiger materieller und immaterieller Schäden bejaht, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass auch in Zukunft bei Fortschreiten der Erkrankung Schäden entstehen würden. Hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Klägerin sei nur der Ansatz einer 1,3-fachen Gebühr gerechtfertigt. Die Widerklage sei abzuweisen, da ein Rechtsgrund für die Leistung der 5.000 € bestehe.
Ergänzend wird auf die Gründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit der Berufung; die Klägerin hat Anschlussberufung eingelegt.
Der Beklagte rügt die Verletzung materiellen Rechts. Zu Unrecht habe das Landgericht ein rechtswidriges Handeln des Beklagten angenommen und verkannt, dass sehr wohl eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung der Klägerin vorgelegen habe. Die Klägerin habe nicht davon ausgehen dürfen, dass der Beklagte einen Aids-Test gemacht habe und dieser negativ gewesen sei. Auch Fahrlässigkeit habe das Landgericht zu Unrecht bejaht. Der Beklagte habe nicht über die Existenz eines negativen HIV-Tests getäuscht und alles in seiner Macht Stehende getan, indem er der Klägerin den Umschlag mit den Befundberichten übergeben habe. Hätte die Klägerin sich die Mühe gemacht, diese zu lesen, hätte sie vor dem ersten Geschlechtsverkehr gewusst, dass kein HIV-Test gemacht worden sei. Jedenfalls sei eine etwaige Täuschungshandlung des Beklagten im Juli 2012 aber nicht kausal für den erst später eingetretenen Verletzungserfolg geworden, da die Ansteckung dem Sachverständigen zufolge mit hoher Sicherheit auf den Zeitraum zwischen den letzten Augusttagen und der ersten Septemberhälfte eingegrenzt werden könne.
Der Beklagte beantragt daher,
I. Das Urteil des Landgerichts München I vom 13.04.2016 (Az. 23 O 14459/14) teilweise abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
II. Die Klägerin und Widerbeklagte wird verurteilt, 5.000,- € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz der EZB ab Rechtshängigkeit an den Widerkläger zu bezahlen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil in seiner Begründung als richtig. Ihr sei keine eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorzuwerfen. Sie habe davon ausgehen dürfen, dass der Beklagte einen Aids-Test gemacht habe, bevor es erstmals am 20.07.2012 zum Geschlechtsverkehr zwischen den Parteien gekommen sei. Selbst wenn man in den beiden späteren sexuellen Kontakten eigenverantwortliche Selbstgefährdungshandlungen sehen wollte, so wären diese nicht ursächlich für die HIV-Infektion der Klägerin geworden. Die Ansteckung mit dem HI-Virus sei bereits bei dem ersten Geschlechtsverkehr am 20.07.2012 erfolgt. Akkupunkturbehandlungen und Qi-GongÜbungen hätten den Ausbruch der Krankheit nach der Ansteckung verzögert. Die gravierenden Beeinträchtigungen der Klägerin durch die HIV-Infektion rechtfertigten jedoch ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 160.000 €.
Mit der Anschlussberufung begehrt die Klägerin daher unter Berücksichtigung der bereits gezahlten 5.000 € und des erstinstanzlich ausgeurteilten Betrages von 110.000 € die Zahlung von weiteren 45.000 € Schmerzensgeld. Des Weiteren seien vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 1,8 Geschäftsgebühr aus einem Gegenstandswert von 170.000 € nebst Fotokopien, Post- und Telekommunikationspauschale und Umsatzsteuer zu ersetzen.
Im Rahmen der Anschlussberufung beantragt die Klägerin daher,
das angefochtene Urteil abzuändern und
1. den Beklagten zu verurteilen, ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 45.000 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 24.12.2013 zu bezahlen,
2. den Beklagten zu verurteilen, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten der Klägerin in Höhe von weiteren 1.150,61 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 23.12.2013 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Anschlussberufung zurückzuweisen.
Der Beklagte tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und bestreitet außerdem die von der Klägerin im Rahmen ihrer Anschlussberufung vorgetragenen Krankheiten, Nebenwirkungen und weiteren Begleiterscheinungen sowie deren Verursachung durch die HIV-Infektion mit Nichtwissen. Mit Schriftsatz vom 18.01.2017 (Bl. 168/169 d.A.) wurde außerdem die Existenz des HI-Virus als solches bestritten.
In der mündlichen Verhandlung über die Berufung am 18.01.2017 hat der Senat ergänzend Beweis erhoben durch Anhörung des Sachverständigen Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 18.01.2017 (Bl. 170/174 d. A.) und die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze der Parteien sowie die Hinweise des Senats vom 24.08.2016 (Bl. 139/141 d.A.) Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung des Beklagten ist teilweise begründet. Abweichend vom erstinstanzlichen Urteil sieht der Senat eine schuldhafte Selbstgefährdung der Klägerin als gegeben an, die dazu führt, dass im Rahmen ihrer deliktischen Ansprüche nach §§ 823 Abs. 1, 249 ff., 253 Abs. 2 BGB ein Mitverschulden der Klägerin gemäß § 254 BGB zu 1/3 zu berücksichtigen ist. Unter Abwägung aller Umstände einschließlich des Mitverschuldens der Klägerin hält der Senat ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 76.000 € für angemessen, so dass unter Berücksichtigung der bereits erfolgten Zahlung von 5.000 € noch ein Betrag in Höhe von 71.000 € durch den Beklagten zu leisten ist. Im Rahmen des Feststellungsantrages ist ebenfalls die Mitverschuldensquote der Klägerin zu berücksichtigen. Die auf Rückzahlung der 5.000 € gerichtete Widerklage hat weiterhin keinen Erfolg, da ein Rechtsgrund für die Zahlung (Schmerzensgeldanspruch) besteht.
Aus den vorgenannten Gründen erweist sich zugleich die zulässige Anschlussberufung als unbegründet, soweit die Klägerin die Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes von 45.000 € über die erstinstanzlich zugesprochenen 110.000 € hinaus begehrt. Lediglich im Hinblick auf die beantragten weiteren vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Klägerin hat die Anschlussberufung in Höhe von 325,94 € teilweise Erfolg.
1. In Übereinstimmung mit dem Landgericht geht der Senat von einer Gesundheitsverletzung der Klägerin durch den Beklagten durch Übertragung des HI-Virus aus. Konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen des Landgerichts zur Ansteckung der Klägerin mit HIV durch den Beklagten, die sich insbesondere auf die nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen stützen und für den Senat gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich bindend sind, liegen nicht vor. Auf die entsprechenden Ausführungen des Landgerichts wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
Hingegen vermag sich der Senat auf Grundlage des schriftlichen Sachverständigengutachtens vom 21.10.2015 (Bl. 67/71 d.A.) und der ergänzenden Anhörung des Sachverständigen im Termin vom 18.01.2017 nicht davon zu überzeugen, dass eine Ansteckung der Klägerin mit dem HI-Virus bereits beim ersten Geschlechtsverkehr am 20.07.2012 erfolgt sein kann. Bereits in seinem schriftlichen Gutachten, das im Termin vom 18.01.2017 aufrechterhalten wurde, hat der Sachverständige im Einzelnen dargelegt und nachvollziehbar begründet, dass der Infektionszeitpunkt mit hoher Sicherheit auf den Zeitraum zwischen den letzten Augusttagen und der ersten Septemberhälfte eingegrenzt werden kann (Bl. 68 d.A.). Bei seiner mündlichen Anhörung hat der Sachverständige dies dahingehend präzisiert, dass ein Infektionszeitpunkt, der noch länger als sechs Wochen vor dem 10.10.2012 (und damit vor dem genannten Zeitraum Ende August/erste Septemberhälfte) läge, nur mit einer 1%-igen Wahrscheinlichkeit in Betracht komme. Eine Infektion am 20.07.2012 sei zwar naturwissenschaftlich nicht vollständig ausschließbar, allerdings in höchstem Maße unwahrscheinlich. Nach seinem Erfahrungsschatz könne ferner durch die von der Klägerin berichteten Maßnahmen wie gesundes Leben, Qi Gong-Therapien oder Meditation das serologische Ergebnis nicht beeinflusst oder verzögert werden. Aufgrund dieser überzeugenden und in sich schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen gelangt der Senat zu der Überzeugung, dass eine Infektion der Klägerin erst bei einem der beiden späteren sexuellen Kontakte erfolgt sein kann bzw. auch tatsächlich erfolgt ist und eine Ansteckung bereits am 20.07.2012 mit hinreichender Gewissheit auszuschließen ist.
Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, wann und in welcher Form weitere sexuelle Kontakte exakt stattgefunden haben, da nach den Angaben des Sachverständigen auf der Grundlage seiner serologischen Untersuchungen gesichert ist, dass die Klägerin vom Beklagten zu einem Zeitpunkt angesteckt wurde, der deutlich nach dem 20.07.2012 liegt.
Soweit der Beklagte mit Schriftsatz vom 18.01.2017 (Bl. 168/169 d.A.) die Existenz des HI-Virus unter Vorlage einer entsprechenden Stellungnahme der Allgemeinärztin bestritten hat, folgt der Senat diesem Vortrag – unabhängig von der Frage, ob dieser berücksichtigungsfähig ist – auf Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen nicht. Der Sachverständige hat diesen Vortrag im Termin vom 18.01.2017 überzeugend entkräftet und ausgeführt, dass Entstehung und Stammbaum des Virus mittlerweile genauestens erforscht und das Virus elektronenmikroskopisch auffindbar sei.
2. Der Beklagte hat auch fahrlässig gehandelt; ein vorsätzliches Handeln kann ihm hingegen nach den insoweit nicht zu beanstandenden Feststellungen des Landgerichts, auf die der Senat Bezug nimmt, nicht nachgewiesen werden.
Zwar kann der Fahrlässigkeitsvorwurf – abweichend vom erstinstanzlichen Urteil – nicht bereits daran anknüpfen, dass der Beklagte der Klägerin am 20.07.2012 den Briefumschlag mit den Untersuchungsergebnissen von Dr. Franke mit den Worten, es sei alles in Ordnung, übergeben und nicht auf den fehlenden Aids-Test hingewiesen hat, woraufhin die Klägerin aufgrund ihres vorherigen Verlangens von der Durchführung eines Aids-Tests mit negativem Ergebnis ausgehen konnte und durfte. Denn wie dargelegt erfolgte die Ansteckung nicht bereits am 20.07.2012, sondern erst bei einem späteren sexuellen Kontakt, vor welchem aber die Klägerin ihren eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 02.06.2015 zufolge den Umschlag mit der Untersuchung des Urologen schon angeschaut hatte und ihr das Fehlen des Aids-Tests aufgefallen war (Bl. 54 d.A.), so dass eine etwaige Fehlvorstellung beseitigt war.
Dem Beklagten ist allerdings vorzuwerfen, dass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach objektiven Maßstäben dadurch verletzt hat, dass er trotz des von der Klägerin ausdrücklich verlangten und von ihm nicht durchgeführten HIV-Tests ungeschützten Geschlechtsverkehr mit der Klägerin hatte, obwohl er nicht zuletzt auch wegen des Todes seiner früheren Lebensgefährtin an einer Immunschwäche eine HIV-Erkrankung nicht ausschließen konnte. Wer es unterlässt, mögliche Auskünfte (hier einen medizinischen Test) einzuholen, handelt fahrlässig, wenn er damit hätte rechnen müssen, in eine Situation zu geraten, in der er sich infolge seiner Unkenntnis nicht richtig verhalten wird. Dies ist hier der Fall.
3. Wie die Berufung zu Recht rügt, kann der Gesichtspunkt der Selbstgefährdung bzw. des Handelns auf eigene Gefahr nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben und führt dazu, dass auf Seiten der Klägerin ein Mitverschulden nach § 254 Abs. 1 BGB zu berücksichtigen ist (vgl. hierzu Palandt/Grüneberg, BGB, 76. Auflage 2017, § 254 Rn. 32 m.w.N.).
Bei dem zur Ansteckung führenden späteren Geschlechtsverkehr wusste die Klägerin ihren eigenen Angaben zufolge, dass der Beklagte den verlangten Aids-Test nicht durchgeführt hatte sowie dass seine frühere Lebensgefährtin an einer Immunschwäche gestorben war. Sie hatte demnach grundsätzlich den gleichen Kenntnisstand wie der Beklagte, so dass von einer schuldhaften Eigengefährdung und einem Mitverschulden ihrerseits auszugehen ist. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann dieses Verhalten vorliegend weder als haftungsausschließende Einwilligung, Haftungsverzicht oder als Haftungsfreistellung nach § 242 BGB angesehen werden; auch kommt die nur ausnahmsweise mögliche vollständige Überbürdung des Schadens auf die Klägerin hier nicht in Betracht (vgl. BGH, NJW-RR 1995, 857; NJW-RR 2006, 672).
Bei einer Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge im konkreten Fall ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte den HIV-Test trotz ausdrücklichen Verlangens der Klägerin nicht hat durchführen lassen, obwohl damit keinerlei besondere Probleme oder Beeinträchtigungen verbunden gewesen wären. Damit hat er sich über den ausdrücklichen Wunsch der Klägerin hinweggesetzt und sie emotional unter Druck gesetzt, ob sie an ihrer Forderung auch im weiteren Verlauf der Beziehung festhalten will und soll. Dies wird zudem noch dadurch verstärkt, dass ein erster Geschlechtsverkehr zwischen den Parteien in Unkenntnis der Klägerin von dem nicht durchgeführten HIV-Test zwischenzeitlich bereits stattgefunden hatte, auch wenn dieser – wie oben dargelegt – noch nicht zu einer Ansteckung der Klägerin geführt hatte. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerechtfertigt, von einem überwiegenden Verursachungsbeitrag des Beklagten auszugehen und die eigenverantwortliche Selbstgefährdung der Klägerin mit einer Mitverschuldensquote von 1/3 zu bewerten.
4. Im Hinblick auf die Bemessung des Schmerzensgeldes ist der Senat aufgrund eigenständiger Prüfung (vgl. BGH NJW 2006, 1589, juris Rn. 30), bei der die vom Landgericht unter Ziff. 1 e) des Urteils (Bl. 104/106 d.A.) angesprochenen Gesichtspunkte sowie eine Mitverschuldensquote der Klägerin von 1/3 zu berücksichtigen sind, der Ansicht, dass ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 76.000 € angemessen ist. Hiervon ist die bereits geleistete Zahlung von 5.000 € abzuziehen, so dass noch ein Betrag von 71.000 € zuzusprechen war.
Soweit die Klägerin im Schriftsatz vom 16.09.2016 über die in erster Instanz unstreitigen Verletzungsfolgen, Krankheiten und Nebenwirkungen hinaus weitere Folgen und Begleiterscheinungen wie etwa Herpes genitales, Fettablagerungen im Bauchbereich und Brustvergrößerung, Osteoporose, Blasenschwäche und Verbot des Umgangs mit Katzen vorgetragen hat (Bl. 150 f. d.A.), rechtfertigt dies ein höheres Schmerzensgeld nicht, selbst wenn man diese Folgen als wahr unterstellen würde. Denn die Nebenwirkungen der einzunehmenden Medikamente, einschließlich Gewichtszunahme und Gewebeeinlagerungen (vgl. unstreitigen Tatbestand auf S. 3 des angefochtenen Urteils), die bisherigen gravierenden körperlichen Folgen der Infektion und die weiterhin zu erwartende dauernde Lebensbeeinträchtigung bis hin zu einem Tod an Aids wurden bei der Bemessung des Schmerzensgeldes bereits umfassend berücksichtigt und stehen vorliegend eindeutig im Vordergrund. Ein höherer Schmerzensgeldanspruch ergibt sich daher auch im Hinblick auf die weiteren vorgetragenen Gesichtspunkte nicht, diese sind bereits hinreichend in die Bemessung mit einbezogen und abgegolten.
Bezüglich des Feststellungsantrages auf Ersatz der künftigen materiellen und immateriellen Schäden ist das erforderliche Feststellungsinteresse in Übereinstimmung mit dem Landgericht zu bejahen.
In der Sache hat die Berufung des Beklagten angesichts des Mitverschuldens der Klägerin auch bezüglich des Feststellungsantrages teilweise Erfolg. Der Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin 2/3 der künftigen materiellen Schäden aus der Ansteckung mit dem HI-Virus zu ersetzen, soweit kein Übergang auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte stattfindet. Darüber hinaus ist der Beklagte unter denselben Voraussetzungen verpflichtet, die künftigen immateriellen Schäden aus der Ansteckung mit dem HI-Virus unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote der Klägerin von 1/3 zu tragen. Als maßgebender Zeitpunkt ist im Feststellungsantrag nunmehr die letzte mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz (18.01.2017) aufzunehmen.
6. Die Zahlung der 5.000 € durch den Beklagten ist auf den bestehenden Schmerzensgeldanspruch der Klägerin und damit mit Rechtsgrund erfolgt, so dass es bei der erstinstanzlichen Abweisung der Widerklage bleibt und die Berufung des Beklagten insoweit unbegründet ist.
7. Im Hinblick auf die obigen Ausführungen zur Angemessenheit des Schmerzensgeldes in Höhe von 76.000 € erweist sich zugleich die zulässige Anschlussberufung der Klägerin als unbegründet, soweit sie die Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes von 45.000 € über die erstinstanzlich zugesprochenen 110.000 € hinaus begehrt.
Lediglich im Hinblick auf die beantragten weiteren vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Klägerin hat die Anschlussberufung teilweise Erfolg. So hält der Senat den Ansatz einer 1,8-Geschäftsgebühr für berechtigt, nachdem auch das Landgericht selbst im Urteil richtigerweise davon ausgegangen ist, dass hier „kein einfach gelagerter Fall“ vorliegt (S. 12 des Urteils; Bl. 107 d.A.). Als Gegenstandswert ist die berechtigte Schmerzensgeldforderung in Höhe von 76.000 € zuzüglich 10.000 € für die vorgerichtlich begehrte Unterlassung anzusetzen. Hinzu kommen die geltend gemachten Fotokopien in Höhe von 39,70 € (Nr. 7000 VV-RVG), die Post- und Telekommunikationspauschale in Höhe von 20 € (Nr. 7002 VV-RVG), sowie die Umsatzsteuer (Nr. 7008 VVRVG). Insgesamt errechnen sich damit vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.806,38 € anstelle von 2.480,44 €, so dass der vom Landgericht zugesprochene Betrag um 325,94 € zu erhöhen ist.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen dafür liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO). Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Revisionsgerichts.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel