Aktenzeichen M 28 K 17.1763
BauGB § 133 Abs. 2 S. 1
AO § 169 Abs. 2 S. 1, § 170 Abs. 1
BayVwVfG Art. 41
Leitsatz
1 Die straßenrechtliche Widmung darf als Allgemeinverfügung öffentlich bekannt gemacht werden. Eine dieser aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit beigefügte Anordnung der Rückwirkung ist nichtig, führt jedoch nicht zur gänzlichen Unwirksamkeit der Widmung. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2 Nach den Regeln zur materiellen Beweislast geht im Falle eines non liquet die Unerweislichkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen, der daraus eine für sich günstige Rechtsfolge herleitet. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Erschließungsbeitragsbescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Klage ist als Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) zulässig. Die Sperrfrist von drei Monaten seit Einlegung des Widerspruchs am 10. November 2016 (§ 75 Satz 2 VwGO) ist abgelaufen. Es ist auch kein zureichender Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, dass über den Widerspruch bislang noch nicht entschieden ist (§ 75 Satz 1 VwGO).
Die Klage ist begründet. Der Erschließungsbeitragsbescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil von Festsetzungsverjährung auszugehen ist.
1. Die Festsetzungsverjährung einer Erschließungsbeitragsforderung richtet sich nach Art. 10 Nr. 2 KAG, Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) bb) – dd), Abs. 2 KAG i.V.m. §§ 169 ff. AO. Gemäß Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) cc), Abs. 2 KAG i.V.m. § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Abgabe entstanden ist. Die Festsetzungsfrist beträgt gemäß Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) bb) KAG i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 1 AO vier Jahre. Für das Entstehen der sachlichen Beitragspflichten gemäß Art. 5a Abs. 9 KAG i.V.m. § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB ist maßgebend der Zeitpunkt, in dem die Erschließungsanlage endgültig hergestellt ist und alle weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflichten erfüllt sind, wobei die Reihenfolge unerheblich ist (Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Auflage 2012, § 19 Rn. 4 m.w.N.). Das Entstehen der Beitragspflichten infolge endgültiger Herstellung der Erschließungsanlage setzt voraus, dass der umlagefähige Aufwand ermittlungsfähig ist. Dies ist regelmäßig im Zeitpunkt des Eingangs der letzten, nach Abschluss der Bauarbeiten erteilten Unternehmerrechnung der Fall (Driehaus, a.a.O., § 19 Rn. 9 ff. m.w.N.). Weitere gesetzliche Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflichten sind, dass eine rechtswirksame Erschließungsbeitragssatzung vorhanden ist, die Erschließungsanlage straßenrechtlich gewidmet ist sowie ein Bebauungsplan in Kraft getreten ist, dem die Herstellung der Anlage unter Berücksichtigung von Art. 5a Abs. 9 KAG i.V.m. § 125 Abs. 3 BauGB entspricht, oder eine planersetzende Planung im Sinne des Art. 5a Abs. 9 KAG i.V.m. § 125 Abs. 2 BauGB vorliegt (Driehaus, a.a.O., § 19 Rn. 15 ff.).
Vorliegend ist hinsichtlich des K* … einschließlich seiner unselbstständigen Stichstraßen davon auszugehen, dass die sachlichen Beitragspflichten, nachdem bereits zuvor alle sonstigen Voraussetzung einschließlich der straßenrechtlichen Widmung vorlagen, mit In-Kraft-Treten der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 56 zum 21. Oktober 2011 als zeitlich letzte Voraussetzung für das Entstehen der sachlichen Beitragspflichten entstanden sind (dazu sogleich im Einzelnen unter 2.). Davon ausgehend begann die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 2011 und endete nach vier Jahren zum 31. Dezember 2015. Mithin war zum Zeitpunkt der Festsetzung der streitgegenständlichen Beitragsforderung mit Bescheid vom 26. Oktober 2016 bereits Festsetzungsverjährung eingetreten.
2. Die gerichtliche Überzeugung, dass die sachlichen Beitragspflichten im Jahr 2011 entstanden waren, beruht auf Folgendem: Die Beklagte verfügte zu diesem Zeitpunkt über eine wirksame Erschießungsbeitragssatzung (Satzung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen – Erschließungsbeitragssatzung – vom 13. Oktober 1992). Gemessen an den Angaben der Beklagten waren der K* … und seine unselbstständigen Stichstraßen mit Abschluss der Bauarbeiten durch Aufbringung der Asphaltdeckschicht im Jahr 1997 endgültig hergestellt. Die letzte Unternehmerrechnung ging im Jahr 2006 ein (Bl. 76 WA). Hinsichtlich der Widmung ist unter Berücksichtigung der Regeln zur materiellen Beweislast im Fall eines non liquet davon auszugehen, dass der k* … und seine unselbstständigen Stichstraßen nicht erst durch die Widmungsverfügungen vom 20. März 2012, sondern bereits durch die Widmungsverfügungen vom 29. April 2009 wirksam gewidmet worden waren (dazu sogleich im Einzelnen unter 3.). Als zeitlich letzte Voraussetzung für das Entstehen der sachlichen Beitragspflichten trat am 21. Oktober 2011 die 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 56 in Kraft, mit welcher der zuvor bestehende Verstoß gegen § 125 BauGB beseitigt wurde, durch die mithin ein Bebauungsplan in Kraft trat, dem die Herstellung der Anlage entsprach.
3. Aus folgenden Gründen ist entgegen der Auffassung der Beklagten davon auszugehen, dass der K* … und seine unselbstständigen Stichstraßen bereits durch die Widmungsverfügungen vom 29. April 2009 wirksam gewidmet worden waren:
a) Der Umstand, dass diese Widmungen rückwirkend zum 6. März 2000 verfügt waren, führt entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zur deren gänzlicher Unwirksamkeit: Nichtig ist die Widmung, soweit sie rückwirkend erfolgt ist; nichtig ist nicht die Widmung als solche, sondern nur die Anordnung deren Rückwirkung (SächsOVG, U. v. 8.6.2012 – 5 A 455/09 – juris Rn. 31; BayVGH, B. v. 12.3.2003 – 6 CS 02.2979 – juris Rn. 12 ff.; so auch noch die Rechtsauffassung der Beklagten auf S. 3 unter d) des Schriftsatzes vom 25. April 2012 im früheren Verfahren M 2 K 11.4386, der in der mündlichen Verhandlung zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemacht wurde).
b) Ferner ist die Widmung zwar ein Verwaltungsakt und bedarf deshalb zu ihrer Wirksamkeit der Bekanntgabe gemäß Art. 41 BayVwVfG, wobei sie als Allgemeinverfügung öffentlich bekanntgemacht werden darf (vgl. Art. 41 Abs. 3 BayVwVfG). Das Vorbringen der Beklagten, sie habe die Widmungsverfügungen vom 29. April 2009 nicht bekannt gemacht, ist indes unerweislich geblieben (nonliquet). Die Unerweislichkeit dieser Tatsache geht im vorliegenden Einzelfall bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände zu Lasten der insoweit materiell beweispflichtigen Beklagten:
aa) Vorliegend ist trotz Aufklärungsbemühens seitens der Beklagten und des Gerichts auch zuletzt noch unerweislich geblieben, dass die Widmungsverfügungen vom 29. April 2009 nicht öffentlich bekannt gemacht worden sind. Zwar hat die Beklagte dies vorgetragen. Dies schließt sie allein daraus, dass sie in ihren Unterlagen keinen Nachweis über deren öffentliche Bekanntmachung gefunden hat. Indes kann die Beklagte nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung auch nicht ausschließen, dass die entsprechende Bekanntmachung mit dem Vermerk über das Anheften und Abnehmen der Bekanntmachung verloren gegangen ist. Es wäre auch gänzlich unplausibel davon auszugehen, dass ein solcher Geschehensablauf nicht in Betracht käme. Ferner lässt sich auch dem in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Schreiben des Bevollmächtigten der Beklagten vom 7. März 2012 entnehmen, dass die Beklagte auch damals schon lediglich davon ausging, die Bekanntmachung sei „möglicherweise“ noch nicht erfolgt. Mithin hat die Beklagte auch bereits 2012 andere Möglichkeiten, wie etwa einen Verlust des Nachweises über die Bekanntmachung, keineswegs ausgeschlossen gehabt. Hinzu kommt, dass sich die Beklagte etwa im Vorlageschreiben an das Landratsamt vom 18. Mai 2017 (Bl. 95 WA) hinsichtlich der fehlenden Festsetzungsverjährung nur auf die Rückwirkungsproblematik, nicht hingegen auf eine fehlende Bekanntmachung der Widmungsverfügungen berufen hatte. Letztgenanntes wäre indes zu erwarten gewesen, wenn sich die Beklagte sicher gewesen wäre, dass keine Bekanntmachung erfolgte. Auch sonst sind für das Gericht keine durchgreifenden Indizien vorgetragen oder sonst erkennbar geworden, die hinreichend verlässlich für das Unterbleiben einer öffentlichen Bekanntmachung sprächen: So ist etwa der Umstand, dass sich auf der Rückseite der Widmungsverfügung für den K* … vom 29. April 2009 keine Eintragungen bei den Bekanntmachungsnachweisen befinden (Bl. 118 WA), nicht aussagekräftig. Denn auch auf der Rückseite der Widmungsverfügung vom 20. März 2012 ist dort nichts eingetragen (Bl. 116 WA), obwohl doch hinsichtlich dieser Verfügung nachweislich (Bl. 114 WA) eine öffentliche Bekanntgabe durch Aushang an den Amtstafeln erfolgte. Das Gericht hat zuletzt auch keine weiteren Möglichkeiten zu einer weitergehenden Aufklärung gesehen: Die Beklagte hatte schon mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2017 selbst vortragen lassen, sie habe ihre kompletten Akten dem Landratsamt vorgelegt, über das Landratsamt sei die Aktenvorlage an das Gericht erfolgt. Auch hat die Beklagte nach eigener Einlassung trotz mehrfacher Überprüfung in ihrem Straßenbestandsverzeichnis (entgegen Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BayStrWG) keine Karteikarte für den k* … gefunden. Mit Hilfe des Bestandsverzeichnisses können deshalb keine neuen Erkenntnisse gewonnen werden. In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte auf gerichtliche Frage zudem vorgetragen, die Widmungsunterlagen seien im Zusammenhang mit den Unterlagen für die Erschließungsbeitragsabrechnung aufbewahrt worden. Mithin existieren über die bereits vorgelegten Widmungsunterlagen hinaus auch nicht etwa geordnete und paginierte Widmungsakten, aus denen sich möglicherweise neue Erkenntnisse ergeben könnten. Auf weitere gerichtliche Fragen hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung dann erläutert, dass es auch kein Tagebuch oder ähnliche Unterlagen gebe, aus denen die an der gemeindlichen Anschlagtafel ausgehängten Bekanntmachungen ersichtlich wären, sowie dass auch kein Aktenvermerk zeitnah anlässlich der Überprüfung der Bekanntmachungen angefertigt worden sei. Bei dieser Sachlage hat das Gericht keine Möglichkeiten mehr gesehen, die Frage einer Bekanntmachung der Widmungsverfügungen vom 29. April 2009 näher aufzuklären. Mithin ist die Tatsache, dass die Widmungsverfügungen vom 29. April 2009 wie von der Beklagten vorgetragen nicht bekannt gemacht worden sind, unerweislich geblieben (non liquet).
bb) Die Unerweislichkeit dieser Tatsache geht zu Lasten der insoweit materiell beweispflichtigen Beklagten. Auch im Verwaltungsstreitverfahren greift vorbehaltlich besonderer Regelungen der allgemeine Rechtsgrundsatz ein, dass die Unerweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter ihm günstige Rechtsfolgen ableitet, zu seinen Lasten geht (BVerwG, U. v. 21.5.2008 – 6 C 13.07 – juris Rn. 41 m.w.N.; Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, § 108 Rn. 5). Besondere gesetzliche Regelungen zur Verteilung der materiellen Beweislast bestehen vorliegend nicht. Gemessen am Günstigkeitsprinzip obliegt der Nachweis der Tatsache, dass die Widmungsverfügungen vom 29. April 2009 – obwohl unstreitig verfügt – nicht bekanntgemacht worden sind, der Beklagten: Denn nur dann, wenn keine Bekanntmachung erfolgt wäre, wäre keine Festsetzungsverjährung eingetreten, weil dann die sachlichen Beitragspflichten erst mit den wirksamen Widmungsverfügungen vom 20. März 2012 entstanden wären. Für die materielle Beweislast der Beklagten streitet zusätzlich der Umstand, dass die Bekanntmachung einer verfügten und von einem Gemeinderatsbeschluss getragenen Widmungsverfügung den Regelfall, hingegen ein Unterbleiben der Bekanntmachung den Ausnahmefall darstellt. Nicht zuletzt ergibt sich die materielle Beweislast der Beklagten zudem auch daraus, dass die Bekanntmachung einer Widmungsverfügung zweifellos nicht der Sphäre der Klagepartei, sondern allein jener der Beklagten zuzuordnen ist. Im Gegensatz zur Klagepartei wäre es der Beklagten trotz der Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, eine negative Tatsache nachzuweisen, mit Hilfe einer sorgfältigen und vollständigen Aktenführung auch durchaus möglich gewesen, das Unterlassen der Bekanntgabe der Widmungsverfügungen nachzuweisen.
Nach alldem war der Bescheid vom 26. Oktober 2016 wegen entgegenstehender Festsetzungsverjährung aufzuheben. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
Die Berufung war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO nicht vorliegen (§ 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO).