Aktenzeichen 3 OWi 92/18
StPO § 147 Abs. 1, § 244 Abs. 2
Leitsatz
1. Das Akteneinsichtsrecht aus § 147 Abs. 1 StPO iVm § 46 OWiG besteht nur hinsichtlich der Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären; hierzu gehören in Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren der Inhalt der Messreihen, die digitalisierte Fall-Datei, die ausgedruckte XML-Datei und die Lebensakte nicht. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für das Gericht besteht weder aus § 244 Abs. 2 StPO iVm § 46 OWiG noch aus den Grundsätzen des fairen Verfahrens und der effektiven Verteidigung eine Pflicht zur Beiziehung der Lebensakte, der Messdatei, der Konformitätsbescheinigung bzw. Konformitätserklärung oder der Vorabnahme des Schulungsnachweises des Messbeamten zur Akte. (Rn. 3 – 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Betroffene hat im Bußgeldverfahren keinen Anspruch auf Herausgabe der Messdatei als digitale Kopie, der Lebensakte des Messgerätes, der Konformitätserklärung und Konformitäts-bescheinigung und des Schulungsnachweises des verantwortlichen Messbeamten sowie Name und Schulungsbescheinigung des Auswertebeamten. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
Der Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung über die beantragte Herausgabe der
1.Messdatei als digitale Kopie im TUFF-Format mit dazu gehörenden Token und Passwort
2.der Lebensakte des Gerätes
3.der Konformitätserklärung und Konformitätsbescheinigung und
4.des Schulungsnachweises des verantwortlichen Messbeamten sowie Name und Schulungsbescheinigung des Auswertebeamten
4.
wird auf seine Kosten als unbegründet zurückgewiesen.
Gründe
Ein Anspruch auf Einsichtnahme in die genannten Dateien besteht nicht. Insbesondere ergibt sich ein solcher Anspruch auch nicht für den Verteidiger aus § 147 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 OWiG, da die genannten Dateien nicht Bestandteil der Akte sind (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 04.04.2016, 3 Ss OWi 1444/15).
§ 147 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 OWiG gewährt nur ein Akteneinsichtsrecht in die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären. Dazu gehören nur die Akten und Aktenteile, einschließlich der Bild- und Tonbandaufnahmen, auf welche der Schuldvorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird, und die zur Begründung des Ausspruchs über die Rechtsfolgen herangezogen werden. (Karlsruher Kommentar-Kurz, OWiG, § 60 Rdnr. 97). Die eigentlich für das Strafrecht mit den viel erheblicheren Rechtsfolgen entwickelten Grundsätze sind auch auf die Verkehrsordnungswidrigkeiten mit weniger einschneidenden Ahndungen übertragbar. Regelmäßig werden Schuldspruch und Rechtsfolgen nicht auf den Inhalt der Messreihen, die digitalisierte Fall-Datei, die ausgedruckte XML-Datei oder die Lebensakte gestützt, weil diese nicht beigezogen werden.
Das Gericht ist auch nicht verpflichtet, die Lebensakte nach § 244 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 OWiG beizuziehen und einzusehen. Soweit eine Lebensakte bzw. Aufzeichnungen zu dem Gerät geführt werden, geschieht dies auf freiwilliger Basis der Verwaltungsbehörde. Denn die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) hat in ihrer Stellungnahme zur Forderung nach Herausgabe von Lebensakten von Geräten, deren Bauart von der PTB für die amtliche Überwachung des Straßenverkehrs zugelassen worden ist, erklärt: „Zu berücksichtigen ist, dass jedes geeichte Gerät eichamtlich gesichert ist, so dass Reparaturen oder sonstige Eingriffe nur nach Brechen von eichamtlichen Siegeln, Plomben u.ä. möglich ist.“ Aus diesem Grund ist die beweiserhebliche Frage, ob die Eichsiegel bei der Messung unversehrt waren nicht jedoch, was in der Lebensakte oder den Aufzeichnungen steht. Diese Frage zur Eichung und den Siegeln wird das Gericht im Rahmen der Beweisaufnahme zu klären haben, Hinweise zur Frage der Eichung und Siegel ergeben sich meist schon aus den in den Akten befindlichen Eichscheinen und dem Messprotokoll.
Soweit teilweise vertreten wird, das Recht auf Akteneinsicht umfasse alle Unterlagen, die auch einem Sachverständigen zur Verfügung gestellt würden, vermag dem nicht gefolgt zu werden. Ein solches Recht besteht grundsätzlich nicht (Meyer-Goßner: StPO, 53. Auflage, Rndr. 18 b zu § 147 StPO). Beweismittel im Sinne der StPO ist das Gutachten und nicht die Unterlagen, die zu seiner Entstehung geführt haben.
Soweit ein Anspruch auf Einsicht in die Dateien aus den Grundsätzen des fairen Verfahrens und der effektiven Verteidigung hergeleitet wird, überzeugt dies nicht. Es entspricht dem fairen Verfahren, wenn der Verteidigung alle Unterlagen vorliegen, die auch dem Gericht vorliegen und die vom Gericht für die Entscheidung herangezogen werden. Das faire Verfahren setzt aber nicht voraus, dass der Verteidigung Dateien und Unterlagen zur Verfügung stehen, die für die gerichtliche Entscheidungsfindung nicht nötig sind. Die Herausgabe derartiger Dateien führt dazu, dass der Verteidigung weitergehende Unterlagen als dem Gericht zur Verfügung stehen. Dabei handelt es sich regelmäßig um Unterlagen, die nur mit gehobener technischer Ausbildung verstanden und nachvollzogen werden könnten. Diese Datenflut wird dann dafür genutzt, um abwegige Fehlerquellen zu behaupten, die meist dann auch noch mit privat bezahlten Gutachten „untermauert“ werden sollten. Um diese Datenflut überhaupt zu beherrschen, müsste das Gericht nahezu in jedem Fall die Hilfe eines Sachverständigen in Anspruch nehmen, erst recht, wenn die Dateien von privaten Sachverständigen entsprechend den erteilten Aufträgen bewertet werden. Dem fairen Verfahren entspricht es viel mehr, wenn die Verteidigung aus den gleichen Quellen schöpft und schöpfen kann wie das Gericht. Diese Quellen sind der Akteninhalt und der Inbegriff der Hauptverhandlung.
Im vorliegenden Fall ist weder vorgetragen noch zu erwarten, dass das Gericht seiner Entscheidung die Messdatei, die Lebensakte oder die Konformitätsbescheinigung bwz. Konformitätserklärung zugrunde legen wird oder will. Auch ist nicht zu erwarten, dass das Gericht die Gebrauchsanweisung des Herstellers dem Urteil zugrunde legt. Daher besteht für eine Herausgabe keine Rechtsgrundlage.
Soweit das Gericht den Schulungsnachweis des Messbeamten der Entscheidung zugrunde legen will, wird es diesen zur Akte nehmen bzw. als Anlage zum Hauptverhandlungsprotokoll. Für eine Verpflichtung zur Beinahme zur Akte vorab ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich. Allenfalls wird dieser dann im Rahmen der Akteneinsicht dem Verteidiger zur Kenntnis gegeben werden oder in der Hauptverhandlung verlesen. Es ist Aufgabe des Gerichts zu überprüfen, ob der Messbeamte die notwendige Sachkunde und Ausbildung hatte und das Gerät ordnungsgemäß bediente. Diese Feststellung ist letztlich in der Hauptverhandlung zu treffen. Unterlässt das Gericht dies, wird die Entscheidung in der Rechtsbeschwerde fallen.
Es entspricht jedoch nicht den gesetzlichen Regelungen, dass durch die Verteidiger (schon oft durch standardisierte Schriftsätze) ein Berg an Unterlagen vorab zur Akte angefordert wird, die für die eigentliche Entscheidung keine Relevanz haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 62 Abs. 2 S. 2 OWiG, 473 Abs. 4 StPO.
Die Entscheidung des Gerichtes ist gem. § 62 Abs. 2, S. 2 OWiG nicht anfechtbar.