Aktenzeichen III ZR 175/19
§ 666 BGB
§ 78a SGB 8
§ 78b SGB 8
§ 78c SGB 8
§ 78f SGB 8
§ 61 SGB 10
§ 75 SGB 12
§§ 75ff SGB 12
Leitsatz
1. Bedient sich der Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Gewährung von Leistungen nach § 78a SGB VIII eines freien (privaten) Trägers der Jugendhilfe, erfolgen die Leistungserbringung und Finanzierung auf der Grundlage des jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses, das sich an den zum sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis (§§ 75 ff SGB XII in der bis zum 31. Dezember 2019 gültigen Fassung) entwickelten Grundsätzen orientiert (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vom 7. Mai 2015 – III ZR 304/14, BGHZ 205, 260 und vom 31. März 2016 – III ZR 267/15, BGHZ 209, 316).
2. Bei einem auf Treu und Glauben gestützten Auskunftsbegehren muss der Anspruchsberechtigte zunächst alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternehmen, die Auskunft auf andere Weise zu erlangen. Ein vorrangige, den Auskunftsanspruch nach § 242 BGB ausschließende Informationsmöglichkeit ist gegeben, wenn der Berechtigte (hier: Träger der öffentlichen Jugendhilfe) es selbst in der Hand hat, sich die erforderlichen Informationen nach Einleitung eines förmlichen Prüfungsverfahrens zu beschaffen, das vom Verpflichteten (hier: freier Träger einer Jugendhilfeeinrichtung) aktive Mitwirkung verlangt und dem Berechtigten das Recht einräumt, alle den Prüfungsgegenstand betreffenden Auskünfte zu erhalten und sich die erforderlichen Unterlagen vorlegen zu lassen (Bestätigung und Fortführung des Senatsurteils vom 8. Februar 2018 – III ZR 65/17, WM 2018, 508).
Verfahrensgang
vorgehend OLG München, 5. Dezember 2019, Az: 32 U 2067/19, Urteilvorgehend LG München I, 22. März 2019, Az: 26 O 10471/18
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberlandesgerichts München – 32. Zivilsenat – vom 5. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsrechtszugs hat die Klägerin zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt als Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe die Beklagten im Wege der Stufenklage auf Auskunft über das in deren Einrichtungen der freien Jugendhilfe eingesetzte Personal in Anspruch.
2
Die Beklagten sind Träger der freien Jugendhilfe und betrieben in dem streitigen Zeitraum vom 1. Dezember 2006 bis zum 30. September 2015 überwiegend im Stadtgebiet der Klägerin sechs (teil-)stationäre Einrichtungen der freien Jugendhilfe. Dabei wurden die Einrichtungen “ISE 24 Jungen” und “ISE 24 Mädchen” (jeweils intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung) sowie “SBW” (sozialpädagogisch betreutes Wohnen) und “Neue WG” (heilpädagogische Wohngruppe) von der Beklagten zu 1 betrieben, während der Beklagte zu 2 die Trägerschaft hinsichtlich zweier Heilpädagogischer Tagesstätten (“HPT F. ” und “HPT U. “) innehatte. Die Einrichtungen “HPT F. ” und “Neue WG” wurden am 1. beziehungsweise 31. Juli 2014 geschlossen.
3
Der Betrieb der Einrichtungen erfolgte jeweils auf der Grundlage einer Betriebserlaubnis der Regierung von O. nach § 45 SGB VIII (Anlagen K 21, 25, 29, 33 und 38). Für sämtliche Einrichtungen bestanden Leistungs- und Entgeltvereinbarungen nach § 78b Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 78c SGB VIII (Anlagen K 22-24, 26-28, 30-32, 34-37, 39), wobei für die “Neue WG” lediglich eine vorläufige Entgeltregelung getroffen wurde (Anlage K 40). Bestandteil der Leistungsvereinbarungen ist jeweils ein Abschnitt “Personelle Ausstattung”. Darin wird in Tabellenform den einzelnen Einrichtungsbereichen (Leitung, Verwaltung, Gruppenübergreifende Dienste, Erziehung und Betreuung, Wirtschafts- und Versorgungsdienste, Technische Dienste) jeweils eine bestimmte Stellenanzahl mit Angaben zu Funktion, Qualifikation und zu leistenden Wochenstunden zugewiesen.
4
Darüber hinaus lag den Rechtsbeziehungen der Parteien ein Rahmenvertrag (zuletzt in der Fassung vom 1. September 2013) nach § 78f SGB VIII zugrunde, den die kommunalen Spitzenverbände in Bayern mit den bayerischen Verbänden der Träger der freien Jugendhilfe und den Vereinigungen sonstiger Leistungserbringer in Bayern vereinbarten. Dieser enthält unter anderem folgende Bestimmungen:
“§ 1 Gegenstand, Geltungsbereich
(1) Der Rahmenvertrag regelt den Inhalt der nach § 78b Abs. 1 und 2 SGB VIII vorgesehenen Leistungs-, Entgelt-, Qualitätsentwicklungs- und Prüfungsvereinbarungen für die Erbringung von Leistungen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.
§ 4 Leistungen
(1) Die Leistungsangebote der einzelnen Träger von Einrichtungen werden nach Inhalt, Umfang und Qualität auf der Grundlage der Rahmenleistungsvereinbarungen für die vollstationären und teilstationären Einrichtungen erstellt.
…
(8) Wesentliche Änderungen der Leistungsangebote bedürfen der vorherigen Anzeige gegenüber dem für den Sitz der Einrichtung zuständigen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe und gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe, der die Einrichtung hauptsächlich in Anspruch nimmt (Hauptbeleger).
§ 10 Personalaufwand
…
(4) Vorgesehene oder vorhandene Planstellen, die länger als acht Wochen unbesetzt sind, werden der Geschäftsstelle der Regionalen Kommission gemeldet. Sollte die Stelle nach 12 Wochen noch nicht besetzt sein, werden einvernehmliche Anpassungsregelungen in der Regionalen Kommission angestrebt.”
5
Abschnitt V des Rahmenvertrags enthält in §§ 18 bis 21 detaillierte Regelungen für die Einleitung und Durchführung eines förmlichen Prüfungsverfahrens. Gemäß § 18 Abs. 1 kann der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe zusätzlich zum Hilfeplanverfahren (§ 36 SGB VIII) als einer fortlaufenden Qualitätsprüfung der Einrichtung gesonderte Prüfungsverfahren einleiten, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die erbrachten Leistungen dem vereinbarten Entgelt nicht (mehr) entsprechen oder die Einrichtung die Anforderungen zur Erbringung einer Leistung in der vereinbarten Qualität nicht (mehr) erfüllt. Derartige Anhaltspunkte für ein Prüfungsverfahren sind gemäß § 18 Abs. 2 insbesondere ein von der Leistungsvereinbarung nicht unerheblich abweichender Personaleinsatz, Abweichungen von den Vereinbarungen über Qualifikation und Personalschlüssel des in den Einrichtungen eingesetzten Personals oder die Nichterfüllung der Anzeigepflicht gemäß § 10 Abs. 4. Nach Einleitung eines förmlichen Prüfungsverfahrens ist der Träger der Einrichtung verpflichtet, die Prüfung zu ermöglichen und aktiv daran mitzuwirken (§ 19 Abs. 1 Satz 1). Bezogen auf den Gegenstand der Prüfung hat er dem Prüfer die auskunftsberechtigten Personen zu benennen, die diesem auf Verlangen die für die Wahrnehmung seiner Aufgaben erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen haben (§ 19 Abs. 3 Satz 2). Angestrebt wird eine einvernehmliche Umsetzung der Prüfungsergebnisse. Sollte diese scheitern, räumt § 20 Satz 1 sowohl dem Einrichtungsträger als auch dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe ein außerordentliches fristloses Kündigungsrecht hinsichtlich der Leistungserbringungsvereinbarungen nach § 78b Abs. 1 SGB VIII ein.
6
Gegenüber den einzelnen Leistungsberechtigten (Hilfeempfängern) erließ die Klägerin jeweils Bewilligungs- und Kostenübernahmebescheide. Darin gewährte sie Leistungen nach § 78a SGB VIII für einen bestimmten Zeitraum und übernahm die anfallenden Kosten, die genau beziffert wurden (Betreuungstagessatz, Regelsatz, Kaltmiete, Mietnebenkosten). Die Beklagten erhielten Abschriften der Bescheide. Im Anschluss daran vergütete die Klägerin auf dieser Grundlage den Beklagten die den Leistungsberechtigten zuvor in Rechnung gestellten Beträge.
7
Nachdem im Februar 2014 Hinweise von (ehemaligen) Mitarbeitern der Beklagten zu 1 darauf hindeuteten, dass der Personaleinsatz den Vorgaben in den Betriebserlaubnissen und Leistungsvereinbarungen nicht entspreche, leitete die Klägerin hinsichtlich der Einrichtungen “ISE 24” und “SBW” sowie vier weiterer – hier nicht gegenständlicher – Einrichtungen förmliche Prüfungsverfahren nach §§ 18 ff des Rahmenvertrags ein. Als Gegenstand der Prüfung bezeichnete sie “die Übereinstimmung des tatsächlichen Personaleinsatzes mit den Anforderungen zur Personalausstattung gemäß Leistungsbeschreibung in Bezug auf Leitungsstellen, sozialpädagogische Fachkräfte und Hilfskräfte und die Erfüllung der sich daraus ergebenden Meldepflichten nach § 10 Abs. 4 des Rahmenvertrages”. Geprüft wurde der Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Dezember 2015. In den unter dem 21. Juni 2017 bezüglich der Einrichtungen “SBW” und “ISE 24” erstellten abschließenden Prüfberichten (Anlagen K 10 und K 11) hielt die Klägerin als Gesamtergebnis fest, dass während des Jahres 2015 jeweils eine “beachtliche Personalminderbesetzung” bestanden habe. Für den weiteren Prüfungszeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Dezember 2014 ging sie davon aus, dass aller Voraussicht nach ebenfalls eine Unterbesetzung vorgelegen habe.
8
Noch vor Beendigung der eingeleiteten Prüfungsverfahren erhob die Klägerin mit am 1. Oktober 2015 eingegangenem Schriftsatz beim Verwaltungsgericht München Klage gegen die Beklagten auf Auskunft und Rechenschaft über die Personalausstattung und die erbrachten Leistungen in den Einrichtungen “ISE 24 Jungen”, “ISE 24 Mädchen”, “SBW”, “Neue WG”, “HPT F. ” und “HPT U. ” bezogen auf den Geltungszeitraum der jeweiligen Leistungs- und Entgeltvereinbarungen (2006 bis 2015), auf Duldung der Prüfung der vorzulegenden Belege durch das Revisionsamt der Klägerin sowie auf eidesstattliche Versicherung der Vollständigkeit und Richtigkeit der erteilten Auskünfte und der vorgelegten Unterlagen. Nachdem sie das Auskunftsbegehren hinsichtlich der einzelnen Einrichtungen präzisiert hatte (Vorlage von Personalmeldungen nach § 47 SGB VIII, Arbeitsverträgen und Arbeitszeitnachweisen, Gehaltsabrechnungen, Jahreslohnsteuerbescheinigungen und Honorarverträgen, Dienstplänen, Nachweisen zu Überstundeneinsatz und fachlicher Qualifikation der Beschäftigten), erklärte das Verwaltungsgericht den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig und verwies den Rechtsstreit an das L. M. . Die dagegen gerichtete Beschwerde der Klägerin wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zurück.
9
Die Klägerin hat geltend gemacht, dass in den Einrichtungen der Beklagten ein vereinbarungsgemäßer, den Vorgaben der Leistungs- und Entgeltvereinbarungen entsprechender Personaleinsatz nicht stattgefunden habe. Die Betreuungsleistungen seien mangelhaft erbracht worden. Ihr stünden daher Rückforderungs- und Schadensersatzansprüche zu. Zahlungen seien zudem immer nur unter der Voraussetzung erfolgt, dass die Beklagten die Leistungen entsprechend den Vorgaben der Leistungs- und Entgeltvereinbarungen erbrächten.
10
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt sie ihre Klageanträge weiter.
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