Aktenzeichen S 28 KA 270/15
SGB V SGB V § 73 I
SGB X SGB X § 45 II 3, IV
Leitsatz
1. Selektivvertragliche Behandlungsfälle sind im Rahmen der Fallzählung für den Aufschlag in Höhe von 10% auf die Gebührenordnungsposition 03040 nicht zu berücksichtigen. (amtlicher Leitsatz)
Dem Wortlaut von § 21 I, II BMV-Ä ist nicht zu entnehmen, dass unter Behandlungsfälle nicht HzV-Behandlungsfälle fallen. Dies ergibt sich jedoch aus systematischen Erwägungen. (red. LS Dunja Barkow von Creytz)
Die gesamtvertraglich in § 21 I 1 BMV-Ä definierten „Behandlungsfälle“ erfassen grundsätzlich nur solche Behandlungen an Versicherten, die im Rahmen der hausärztlichen Regelversorgung vorgenommen werden. Für die Definition des Behandlungsfalles im selektivvertraglichen Bereich besäßen die Gesamtvertragspartner auch keine Zuständigkeit. (red. LS Dunja Barkow von Creytz)
Tenor
1. Der Honorarbescheid vom 18.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.02.2015 wird, soweit das klägerische Honorar für 4/2013 i. H. v. 2.860,90 € sachlich und rechnerisch berichtigt wurde, aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Klägerin und die Beklagte tragen jeweils die Hälfte der Kosten des Verfahrens.
Gründe
Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zusetzung eines Aufschlags i. H. v. 10% auf die im Quartal 2/2014 erfolgten Ansätze der GOP 03040 (1.). Der Honorarbescheid der Beklagten vom 18.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2015 ist jedoch rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit das klägerische Honorar für das Quartal 4/2013 i. H. v. 2.860,90 € sachlich und rechnerisch berichtigt wurde (2.).
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage liegen allesamt vor.
Die Klage ist jedoch nur teilweise begründet.
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf den zehnprozentigen Aufschlag auf die GOP 03040.
Obligater Leistungsinhalt der GOP 03040 ist die Vorhaltung der zur Erfüllung von Aufgaben der hausärztlichen Grundversorgung notwendigen Strukturen, einmal im Behandlungsfall.
Nach der Leistungslegende ist bei Praxen mit weniger als 400 Behandlungsfällen je Arzt gemäß Nr. 11 der Präambel 3.1 (Behandlungsfälle der Praxis gemäß Nr. 11 der Präambel 3.1 dividiert durch Anzahl der Ärzte gemäß Nr. 1 der Präambel 3.1) ein Abschlag in Höhe von 10% auf die Gebührenordnungsposition 03040 vorzunehmen. Bei Praxen mit mehr als 1200 Behandlungsfällen je Arzt gemäß Nr. 11 der Präambel 3.1 ist ein Aufschlag in Höhe von 10% auf die Gebührenordnungsposition 03040 vorzunehmen. Für die Bestimmung der Anzahl der Ärzte gemäß Nr. 1 der Präambel 3.1 ist der Umfang der Tätigkeit laut Zulassungs- bzw. Genehmigungsbescheid zu berücksichtigen.
Nr. 11 der Präambel 3.1 (Stand Quartal 1/2014) lautet: „Relevant für die Fallzählung der Vergütung der Gebührenordnungsposition 03230 sind Behandlungsfälle gemäß § 21 Abs. 1 und Abs. 2 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) bzw. § 25 Abs. 1 und Abs. 2 Arzt-/Ersatzkassenvertrag (EKV), ausgenommen Notfälle im organisierten Not(-fall)dienst (Muster 19 der Vordruck-Vereinbarung) und Überweisungsfälle zur Durchführung ausschließlich von Probenuntersuchungen oder zur Befundung von dokumentierten Untersuchungsergebnissen und Behandlungsfälle, in denen ausschließlich Kostenerstattungen des Kapitels 40 berechnet werden, sowie stationäre (belegärztliche) Behandlungsfälle.“
Gem. § 21 Abs. 1 Satz 1 BMV-Ä gilt jeweils die gesamte von derselben Arztpraxis (Vertragsarzt, Vertragspsychotherapeut, Berufsausübungsgemeinschaft, Medizinisches Versorgungszentrum) innerhalb desselben Kalendervierteljahres an demselben Versicherten ambulant zulasten derselben Krankenkasse vorgenommene Behandlung als Behandlungsfall.
Im streitgegenständlichen Quartal lagen die Voraussetzungen für den zehnprozentigen Aufschlag auf die GOP 03040 bei der Klägerin nicht vor. Die Klägerin hatte nicht mehr als 1200 Behandlungsfälle je Arzt gemäß Nr. 11 der Präambel 3.1.
Die Beklagte hat bei der Berechnung der Behandlungsfälle zutreffend die HzV-Behandlungsfälle der Vertragsärzte der Klägerin nicht mitberücksichtigt. Zwar ist dem Wortlaut von § 21 Abs. 1, Abs. 2 BMV-Ä nicht zu entnehmen, dass unter Behandlungsfälle nicht HzV-Behandlungsfälle fallen. Dies ergibt sich jedoch aus systematischen Erwägungen. Während die hausärztliche Regelversorgung gem. § 73 Abs. 1 bis 1b SGB V auf gesamtvertraglicher Grundlage organisiert ist, basiert die hausarztzentrierte Versorgung auf besonderen (Selektiv-)Verträgen. Folglich umfassen die gesamtvertraglich in § 21 Abs. 1 Satz 1 BMV-Ä definierten „Behandlungsfälle“ grundsätzlich nur solche Behandlungen an Versicherten, die im Rahmen der hausärztlichen Regelversorgung vorgenommen werden. Für die Definition des Behandlungsfalles im selektivvertraglichen Bereich besäßen die Gesamtvertragspartner auch keine Zuständigkeit.
Im Übrigen wird die GOP 03040 als „Zusatzpauschale zu den Gebührenordnungspositionen 03000 und 03030 für die Wahrnehmung des hausärztlichen Versorgungsauftrags gem. § 73 Abs. 1 SGB V“ gewährt, d. h. für die Vorhaltung der notwendigen Strukturen im Rahmen der hausärztlichen Regelversorgung. Auch dies spricht in systematischer Hinsicht dafür, dass bei der Aufschlagsregelung nur die Behandlungsfälle aus der hausärztlichen Regelversorgung relevant sind.
Die Beklagte hat schließlich zu Recht auf die zum 01.01.2015 erfolgten Änderungen der Nrn. 10 und 11 der Präambel 3.1 EBM hingewiesen, die die – aus systematischen Gründen notwendige – Differenzierung zwischen gesamtvertraglichen und selektivvertraglichen Behandlungsfällen deutlich machen. Gemäß Nr. 10 (Satz 1) der Präambel 3.1 EBM (ab 01.01.2015) sind grundsätzlich alle Behandlungsfälle im Quartal gem. § 21 Abs. 1 und Abs. 2 BMV-Ä für die Fallzählung der Vergütung der Gebührenordnungsposition 03230, gemäß Nr. 1 der Präambel zum Abschnitt 3.2.1.2 und der Vergütung der Gebührenordnungsposition 03060 relevant. Nach Nr. 11 (Satz 1) der Präambel 3.1 EBM (ab 01.01.2015) ist zusätzlich relevant für die Fallzählung gemäß Nr. 1 der Präambel 3.2.1.2 sowie zur Bemessung der Vergütung der Gebührenordnungsposition 03060 die Anzahl der selektivvertraglichen Behandlungsfälle im Quartal bei Ärzten, die an einem Selektivvertrag gemäß § 73b SGB V (HzV-Verträge) und/oder an einem Vertrag zur knappschaftsärztlichen Versorgung teilnehmen.
Mit der zum 01.01.2015 neu gefassten Nr. 11 der Präambel 3.1 EBM wurde erstmalig die Berücksichtigung auch der selektivvertraglichen Behandlungsfälle neben den Behandlungsfällen gem. § 21 Abs. 1 und Abs. 2 BMV-Ä normiert. Daraus folgt, dass die im streitgegenständlichen Quartal geltende Nr. 11 der Präambel 3.1 EBM, die (lediglich) auf Behandlungsfälle gemäß § 21 Abs. 1 und Abs. 2 BMV-Ä bzw. § 25 Abs. 1 und Abs. 2 EKV abstellt, nur gesamtvertragliche Behandlungsfälle und nicht auch selektivvertragliche Behandlungsfälle erfasst.
Hiermit unvereinbar ist jedoch die Vorgehensweise der Beklagten, im Rahmen der zehnprozentigen Abschlagsregelung auf die GOP 03040 bei Praxen mit weniger als 400 Behandlungsfällen je Arzt die selektivvertraglichen Behandlungsfälle miteinzuberechnen. Für die Kammer ist nachvollziehbar, dass die Klägerin dieses widersprüchliche Verhalten der Beklagten beanstandet. Sie kann sich jedoch nicht aus Gleichbehandlungsgründen darauf berufen, da es sich um eine rechtswidrige Verwaltungspraxis handelt.
2. Soweit das klägerische Honorar für das Quartal 4/2013 i. H. v. 2.860,90 € sachlich und rechnerisch berichtigt wurde, ist der Honorarbescheid der Beklagten vom 18.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2015 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die sachlich-rechnerische Richtigstellung ist § 106a Abs. 2 Satz 1 SGB V. In wessen Verantwortungsbereich die sachlich-rechnerische Unrichtigkeit fällt, ist unerheblich; einzige tatbestandliche Voraussetzung ist die Rechtswidrigkeit des Honorarbescheides (BSG, Urteil vom 28.08.2013, Az. B 6 KA 43/12 R, Rn. 14 m. w. N.).
Der Honorarbescheid 4/2013 ist rechtswidrig, soweit die Beklagte der Klägerin den zehnprozentigen Aufschlag auf die GOP 03040 gewährt hat. Denn die Klägerin hatte, bei Berücksichtigung nur der gesamtvertraglichen Behandlungsfälle, unstreitig nicht mehr als 1200 Behandlungsfälle je Arzt gemäß Nr. 11 der Präambel 3.1.
Die Beklagte war daher grundsätzlich zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung befugt. Dieser Befugnis stehen jedoch zugunsten der Klägerin zu berücksichtigende Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegen.
Nach der Rechtsprechung des BSG ist die Richtigstellungsbefugnis der Kassenärztlichen Vereinigung begrenzt, wenn die Besonderheiten der Honorierung vertragsärztlicher Leistungen, die in der Rechtsprechung für die Verdrängung der Regelung des § 45 SGB X durch die Vorschriften über die sachlich-rechnerische Richtigstellung angeführt worden sind, nicht konkret tangiert sind (BSG, ebenda, Rn. 28 m. w. N.).
Das BSG (ebenda) hat zu dieser Fallgestaltung ausgeführt: „Diese Fallgruppe erfasst die fehlerhafte Abrechnung im Einzelfall etwa infolge eines Rechenfehlers oder der versehentlichen Verwendung eines falschen Berechnungsfaktors. Auch in einem solchen Fall wird die Honorarberichtigung zwar nach den einschlägigen bundesmantelvertraglichen Regelungen durchgeführt, im Rahmen des Berichtigungsverfahrens sind indes die speziellen Vertrauensschutztatbestände des § 45 Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 SGB X entsprechend heranzuziehen (vgl. BSGE 93, 69, 76 = SozR 4-2500 § 85 Nr. 11, RdNr. 18). Ein solcher Sachverhalt gibt keinen Anlass, von den allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen abzuweichen, wonach die Behörde vorbehaltlich der besonderen Tatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. Abs. 4 SGB X das Risiko dafür trägt, dass sie einen für den Bürger günstigen Verwaltungsakt erlässt, der sich nachträglich als teilweise rechtswidrig erweist“.
Zu dieser Fallgruppe gehören auch Fehler, die ihre Ursachen in der computergestützten Massenbescheidung haben (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.01.2014, Az. L 7 KA 76/11, Rn. 39; Engelhard in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand 12/2015, § 106a Rn. 33e). Denn die computergestützte Massenbescheidung ist keine Besonderheit der vertragsärztlichen Vergütung, sondern prägt die Tätigkeit vieler Zweige der Sozialversicherung (LSG Berlin-Brandenburg, ebenda).
Infolgedessen sind die speziellen Vertrauensschutztatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. Abs. 4 SGB X entsprechend heranzuziehen. Gem. § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X wird nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X ist vorliegend nicht einschlägig. Infolge der Verweisung auf § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten auf die Prüfung des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X und die Frage getätigten Vertrauens nicht an.
Nach Überzeugung der Kammer liegt keiner der Tatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vor. Insbesondere beruhten die Ansätze des zehnprozentigen Aufschlags durch die Beklagte im Quartal 4/2013 nicht auf Angaben, die die Vertragsärzte der Klägerin vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht haben (Nr. 2), da die Beklagte die Aufschläge aufgrund ihrer eigenen statistischen Zahlen vornahm (vgl. auch die Leistungslegende zu GOP 03040, wonach die GOP 03040 durch die zuständige Kassenärztliche Vereinigung zugesetzt wird). Ebenso wenig ist davon auszugehen, dass die Vertragsärzte der Klägerin die (teilweise) Rechtswidrigkeit des Honorarbescheids für das Quartal 4/2013 kannten oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannten (Nr. 3). Bei dem Quartal 4/2013 handelte es sich um das erste Abrechnungsquartal der damals neu eingeführten GOP 03040. Dem Wortlaut der Nr. 11 der Präambel 3.1 sowie des § 21 Abs. 1, Abs. 2 BMV-Ä kann nicht entnommen werden, dass lediglich auf die Zahl der gesamtvertraglichen Behandlungsfälle abzustellen ist (s. oben). Schließlich hat Dr. C. in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass er ca. im September 2013 auf einer Veranstaltung der Beklagten mit Dr. E. und Dr. F. in B-Stadt gewesen sei, in der mitgeteilt worden sei, dass bei dem zehnprozentigen Aufschlag zur Ziffer 03040 die HzV-Patienten mit zu berücksichtigen seien. Auch hieraus ist zu schließen, dass die Vertragsärzte der Klägerin die Rechtswidrigkeit des Honorarbescheids 4/2013 weder kannten noch infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannten.
Aus alledem folgt, dass die Voraussetzungen zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung analog § 45 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. Abs. 4 SGB X nicht vorlagen. Die Klägerin kann sich auf Vertrauensschutz berufen. Der Vertrauensschutz steht der Berichtigungsbefugnis der Beklagten hinsichtlich der für das Quartal 4/2013 zu viel vergüteten 2.860,90 € entgegen.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.