Aktenzeichen Au 2 K 16.30643
Leitsatz
Auch wenn im Zielstaat grundsätzlich Medikamente und ärztliche Behandlung verfügbar sind, kann ein zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis vorliegen, wenn die für den betroffenen Ausländer erforderliche Behandlung oder Medikation individuell aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 4. des Bescheids vom 13. Juli 2015 – soweit festgestellt wurde, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegt – verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Vietnams vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Von den Kosten des Verfahrens hat der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3 zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Über die Klage konnte aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen der Parteien ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 13. Juli 2015 ist rechtswidrig, soweit in Ziffer 4 festgestellt wird, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegt. Der Kläger hat in dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Vietnams (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im Übrigen erweist sich der streitgegenständliche Bescheid jedoch als rechtmäßig, so dass die Klage insoweit abzuweisen war.
1. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 VwGO soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dem Kläger droht im Falle einer Abschiebung nach Vietnam eine individuelle, konkrete Gefahr in diesem Sinne.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – NVwZ 2007, 712) ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die unmittelbar am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, wenn sich die vorhandene Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände alsbald nach der Rückkehr in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt. Ein strengerer Maßstab soll in Krankheitsfällen ausnahmsweise nur dann gelten, wenn zielstaatsbezogene Verschlimmerungen von Krankheiten als allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu qualifizieren sind. Dies kommt allerdings bei Erkrankungen nur in Betracht, wenn es – etwa bei HIV – um eine große Anzahl Betroffener im Zielstaat geht und deshalb ein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG besteht.
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung mit einzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können (BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – NVwZ 2007, 712). Für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ genügt nicht die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr entspricht der Begriff der Gefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr für „diesen“ Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 1 C 9.95 – BVerwGE 99, 324).
Der Kläger leidet an einer metastasierten Lungenkarzinom-Erkrankung, welche im vorliegenden Stadium IV nach Aussage der den Kläger behandelnden Fachärzte des Klinikums …, Interdisziplinäre onkologische Tagklinik, in der Regel nicht heilbar sei. Die Standardbehandlung sei, da eine Heilung in diesem Stadium in aller Regel nicht möglich sei und bis zum Lebensende immer wieder Therapien erforderlich seien, eine palliative, d. h. eine lebensverlängernde und Komplikationen vermeidende Chemotherapie. Diese ist beim Kläger im Rahmen einer Erstlinien-Therapie im Oktober 2015 bis Februar 2016 durchgeführt worden. Die Tumorerkrankung habe auf diese Therapie angesprochen und es habe sich eine Größenregrendienz der Tumorerkrankung sowohl im Bereich der Lunge als auch im Bereich der Lebermetastasen gezeigt. Aktuell befinde sich der Kläger in einer Therapiepause, für Mai 2016 sei eine Kontrolluntersuchung geplant. Die Lebenserwartung bei dieser Erkrankung sei stark eingeschränkt und bewege sich zwischen 12 und 18 Monaten mit Therapie. Bei Unterlassen weiterer Kontrolluntersuchungen könne es einerseits zu einer Verkürzung der Überlebenszeit kommen, andererseits seien schwere Symptome zu erwarten. Von einem Abbruch der Kontrolluntersuchungen und der mit Sicherheit zukünftig notwendigen Therapien sei aus ärztlicher Sicht abzuraten. Bei Abbruch sämtlicher medizinischer Behandlungsmaßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt könnten in Kürze drohende, schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht ausgeschlossen werden.
Das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 30. Dezember 2015 zur medizinischen Versorgung (Ziffer 1.2) aus, dass generell in Vietnam eine Basisbehandlung der meisten Krankheiten möglich sei. Bereits etwas kompliziertere Behandlungen seien jedoch nur in H., H-C-M-Stadt sowie eventuell noch in einigen anderen großen Städten durchführbar. Das Ausbildungsniveau könne als solide bezeichnet werden. Die gängigen Medikamente seien erhältlich. Allerdings könne es zu qualitativen oder zeitlichen Engpässen kommen. Über private Spezialkliniken ließen sich zu entsprechenden Preisen Medikamente fast jeglicher Art innerhalb kurzer Zeit importieren. Für bedürftige ältere Menschen bestehe zudem die Möglichkeit, bei den örtlichen Volkskomitees einen Antrag auf eine Bescheinigung zu stellen, die zu einer günstigen, ggfs. auch kostenlosen Krankenbehandlung berechtige. Nach Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, H., vom 24. Februar 2015 an das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth seien in Vietnam Angestellte krankenversichert, wohingegen Arbeitslose nicht krankenversichert seien und ihre Krankheitskosten selber tragen müssten.
Aus allgemein zugänglichen Quellen (vgl. hierzu Glob Health Action, Public Health in Vietnam; Cost of treatment for breast cancer in central Vietnam, vom 4.2.2013; Tuoi Tre News, Vietnamese doctors succeed in new treatment for cancer, vom 28.2.2014, jeweils abrufbar im Internet) geht ebenfalls hervor, dass Tumorerkrankungen in Vietnam grundsätzlich behandelbar sind. Auch ACCORD (Austrian Centre for Country and Asylum Research and Documentation) führt in einer Auskunft vom 31. Januar 2011 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden aus, dass sich Vietnams Kennzahlen im Gesundheitsbereich in den letzten Jahren trotz Aufkommens neuer Probleme im Gesundheitsbereich wesentlich verbessert hätten. „Zusätzliche neue Herausforderungen des Gesundheitssystems seien: steigendes Auftreten nichtübertragbarer Krankheiten und Wohlstanderkrankungen (…), darunter mit Tabakgenuss in Verbindung stehende Krankheiten“ (abrufbar unter www.ecoi.net). Allerdings hat die staatliche Gesundheitsversicherung entschieden, die Zahlungen für spezielle Medikamente zur Behandlung von Tumorerkrankungen in einem nicht unerheblichen Maße zu reduzieren, so dass die Betroffenen fortan einen Teil der Kosten aus eigenen Mitteln zu bestreiten haben (Tuoi Tre News, Cancer patients to pay far more as Vietnam curtails insurance, vom 31.12.2014; Thanhniennews, Cancer patients face double whammy as Vietnam slashes pharma subsidies, vom 29.12.2014, jeweils im Internet abrufbar).
Vorliegend ist aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls davon auszugehen, dass trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Er verfügt nach den von ihm vorgelegten Nachweisen (Kontoauszüge) nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel, um die für seine (schwerwiegende) Erkrankung notwendige spezielle medizinische Versorgung zu erlangen, insbesondere um sicherzustellen, dass die Kontrolluntersuchungen und die mit Sicherheit notwendigen systematischen Therapien durchgeführt bzw. fortgesetzt werden können.
In der Folge würde sich im Falle einer Abschiebung nach Vietnam nach den ärztlichen Stellungnahmen die Tumorerkrankung des Klägers aller Voraussicht nach deutlich verschlechtern; er wäre dann einer konkreten erheblichen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt, da bei Abbruch sämtlicher medizinischer Behandlungsmaßnahmen in Kürze drohende, schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht ausgeschlossen werden könnten. Damit sind die gesetzlichen Vorgaben für das Bestehen eines Abschiebungshindernisses gegeben. Der Kläger hat folglich Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass die Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Vietnams vorliegen.
2. Im Übrigen war die Klage abzuweisen, weil weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG noch für die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen. Da das Gericht insofern den Feststellungen im streitgegenständlichen Bescheid folgt, wird von einer weiteren Darstellung abgesehen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Weder droht dem Kläger im Fall einer Rückkehr Folter oder eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung, noch läuft er Gefahr, aufgrund allgemeiner schlechter humanitärer Bedingungen im Einzelfall einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.