Medizinrecht

Abschiebungsverbot für psychisch erkrankte Klägerin aus Äthiopien

Aktenzeichen  W 3 K 19.30386

Datum:
22.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 18894
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, 2

 

Leitsatz

Die psychiatrische Versorgung ist in Äthiopien generell mangelhaft. Außerhalb von Addis Abeba ist eine angemessene psychiatrische Behandlung nicht erreichbar (Rn. 30 – 32). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.    Ziffern 4. und 6. und die Androhung der Abschiebung nach Äthiopien in Ziffer 5. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Mai 2016 werden aufgehoben.     
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. 
II.    Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. 
III.    Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nach der Teil-Rücknahme der Klage und entsprechender Abtrennung und Einstellung des zurückgenommenen Klageteils lediglich noch das Begehren der Klägerin, die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 4. und 6. sowie der Androhung der Abschiebung nach Äthiopien in Ziffer 5. des Bescheides des Bundesamtes vom 4. Mai 2016 zu verpflichten festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Hierbei handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BverwGE 140, 319 Rn. 16 f.; VG Würzburg, U.v. 22.3.2018 – W 5 K 16.31427 – juris Rn. 26).
Über die vorliegende Klage konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden.
Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Dies ergibt sich aus Folgendem:
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Nach Satz 2 der Vorschrift liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Auch die Gefahr, dass sich die Krankheit des Ausländers in seinem Heimatland verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58/96 – juris; U.v. 27.4.1998 – 9 C 13/97 – juris). Dasselbe gilt auch dann, wenn die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zwar grundsätzlich vorhanden, für den von der Krankheit betroffenen Ausländer im speziellen Fall aber aus finanziellen oder persönlichen Gründen nicht erreichbar sind (BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – juris; U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris). Insbesondere ist zu beachten, dass es sich um eine „äußerst gravierende“, insbesondere lebensbedrohliche Erkrankung handeln muss (Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/7538, 18). Konkret ist die durch eine Krankheit verursachte Gefahr, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (Beck OK, AuslR, Kluth/Heusch, Stand: 15.8.2016, § 60 Abs. 7 AufenthG Rn. 40 m.w.N.). Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG liegt eine ausreichende medizinische Versorgung in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Um ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot feststellen zu können, bedarf es aussagekräftiger nachvollziehbarer Nachweise, in der Regel also ärztlicher Atteste, die klare Diagnosen stellen und Aufschluss über mögliche Folgen einer unzureichenden Behandlung geben.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Aus dem Arztbrief des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatischer Medizin des Bezirks Unterfranken in Lohr am Main vom 28. Juni 2019 ergeben sich für die Klägerin die psychiatrischen Diagnosen paranoide Schizophrenie (F20.0) und wahnhafte Störungen. Zudem ist ein Verdacht auf schizophrenes Residuum (F20.5) diagnostiziert. Es wird berichtet, dass die Klägerin notfallmäßig in Begleitung von Sanitätern und Polizei zur stationären Aufnahme gekommen ist und dass sie gemäß der Diagnose von Dr. C. S. akut eigengefährdet sei. Aufgrund der Erkrankung hat die Klägerin seit einigen Tagen die Nahrungsaufnahme verweigert. Eine Krankheitseinsicht war gemäß der Angaben im Arztbrief nicht vorhanden, dafür allerdings Wahnvorstellungen. Aufgrund der Weigerung, Medikamente einzunehmen, erfolgte mit richterlicher Genehmigung eine medikamentöse Behandlung gegen den Willen der Klägerin. Trotz der Medikamentenversorgung blieb die Wahnsymptomatik unverändert bestehen. Am 26. Juni 2019 wurde die Klägerin in stabilem psychischen und physischen Zustand aus der stationären Behandlung in die häusliche Umgebung entlassen, ohne dass die Wahnvorstellungen gewichen wären.
Mit Beschluss vom 22. Mai 2019 hat das Amtsgericht die vorläufige Betreuung, befristet bis zum 21. November 2019, für die Klägerin angeordnet. Die Betreuung umfasst folgende Aufgabenkreise:
– Gesundheitsfürsorge einschließlich Entscheidung über Zwangsbehandlungen
– Aufenthaltsbestimmung einschließlich Entscheidung über die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung sowie über unterbringungsähnliche Maßnahmen
– Vermögenssorge
– Wohnungsangelegenheiten
– Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern
– Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen Aufgabenkreise
Dies wurde mit dem Vorliegen einer paranoiden Schizophrenie begründet, die es nicht zulässt, dass die Klägerin die genannten Angelegenheiten ausreichend besorgt. Das Amtsgericht stützt seinen Beschluss auf das ärztliche Zeugnis der Stationsärztin des Bezirkskrankenhauses Lohr vom 15. Mai 2019, auf den Bericht der Betreuungsbehörde Landratsamt Main-Spessart vom 17. Mai 2019 und auf den unmittelbaren Eindruck des Amtsgerichts bei der Anhörung am 21. Mai 2019. Das Gericht hat ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden festgestellt, da Entscheidungen zu treffen sind, deren Verzögerung mit erheblichen Nachteilen für die Klägerin verbunden wären.
Gemäß dem genannten Arztbrief vom 28. Juni 2019 muss die Klägerin folgende Medikamente zwingend einnehmen:
Amoxicillin, Calcium, Clarithromycin, Ferro Sanol Duo, Olanzapin und Omeprazol.
Auf dieser Grundlage ist festzustellen, dass die Klägerin an einer paranoiden Schizophrenie leidet und für den Fall unzureichender medizinischer Behandlung akut eigengefährdet ist, dies wegen der in diesem Fall fehlenden Bereitschaft, Nahrung zu sich zu nehmen. Selbst bei fachgerechter medizinischer Versorgung würde sie wegen der fehlenden Fähigkeiten, für die im Beschluss des Amtsgerichts Gemünden vom 22. Mai 2019 genannten Bereiche zu sorgen, ohne fachgerechte Hilfe alsbald verwahrlosen und einer ernsthaften Lebensgefahr ausgesetzt sein. Dies gilt erst recht bei unzureichender medizinischer Versorgung.
Demgegenüber ergibt sich aus der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – Länderanalyse -, Äthiopien: Psychiatrische Versorgung, vom 5. September 2013, welche zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden ist, dass in den ländlichen Gebieten in Äthiopien die medizinische Versorgung nicht gewährleistet ist. Die psychiatrische Versorgung ist in Äthiopien generell mangelhaft. Sie gilt als einer der am meisten vernachlässigten Bereiche der Gesundheitsversorgung. Auch heute können noch nicht einmal die Grundbedürfnisse abgedeckt werden. Diejenigen, die Zugang haben, gehören zu den wenigen Glücklichen. Das Amanuel Hospital in Addis Abeba mit 268 Betten ist die einzige psychiatrische Klinik in Äthiopien mit etwa 100 Mio. Einwohnern. Zudem gibt es einzelne Einrichtungen, die stationäre und ambulante psychiatrische Versorgung anbieten. Insgesamt stehen 451 Betten in öffentlichen und privaten Kliniken zur stationären Behandlung für das gesamte Land zur Verfügung. Die Anzahl des Personals in der psychiatrischen Versorgung ist absolut ungenügend. Bei der Einfuhr von Medikamenten gibt es zwei Hauptprobleme, einerseits den notorischen Devisenmangel, andererseits staatliche Restriktionen. Das äthiopische Gesundheitsministerium hat – wie sich aus dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ergibt – darauf hingewiesen, dass in Zukunft dafür gesorgt werden müsse, dass Psychopharmaka auch tatsächlich erhältlich und bezahlbar seien. Im privaten Bereich und zu äußerst hohen Preisen sind lediglich eine begrenzte Anzahl von Psychopharmaka erhältlich, wobei auch hier keine Kontinuität vorhanden ist. In der psychiatrischen Versorgung – wenn sie denn erreichbar ist – existieren keine Psychotherapien und begleitende Maßnahmen. Zusammenfassend stellt die Schweizerische Flüchtlingshilfe fest, dass weniger als eine von zehn Personen, die schwer psychisch krank sind, Zugang zu psychiatrischer Behandlung haben, für die stationäre Aufnahme in das Amanuel Hospital müssen lange Wartezeiten in Kauf genommen werden. Der größte Teil der an Schizophrenie Erkrankten kann nicht innerhalb des Gesundheitssektors versorgt und behandelt werden.
Aus dem Gutachten des Instituts für Afrika-Kunde vom 20. Januar 2006 an das VG Gelsenkirchen ergibt sich, dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Äthiopien bei etwa 100 US-Dollar im Jahr liegt, und dass mit diesem Einkommen eine qualifizierte psychotherapeutische Behandlung keinesfalls bezahlbar ist. Falls die erforderlichen Medikamente erhältlich sein sollten, muss davon ausgegangen werden, dass sie für Personen mit Durchschnittseinkommen nicht erschwinglich sind, sondern vielmehr nur von Personen mit hohem Einkommen erworben werden können.
Damit wird deutlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien keinesfalls eine hinreichende medizinische Versorgung erlangen kann. Dies ergibt sich schon daraus, dass sie angesichts extrem defizitärer medizinischer Ressourcen für die Klägerin nicht erreichbar sein wird. Darüber hinaus hat die Klägerin nicht die finanziellen Mittel, um eine entsprechende Behandlung und Versorgung zu bezahlen. Auch die Tatsache, dass in Addis Abeba ein Bruder der Klägerin lebt, ändert hieran nichts. Denn es ist nicht einmal ansatzweise erkennbar, dass der Bruder der Klägerin zum Personenkreis der besonders Wohlhabenden gehören könnte, die eine derartige Behandlung bezahlen könnten. Außerhalb Addis Abebas ist eine angemessene psychiatrische Behandlung ohnehin nicht erreichbar.
Wird aber die Klägerin ohne die Garantie einer entsprechenden medizinischen Versorgung nach Äthiopien abgeschoben, wird sich ihr Zustand durch die Abschiebung alsbald so verschlechtern, dass sie in lebensbedrohliche Gefahren gerät.
Da somit die Voraussetzungen für die Gewährung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, war die Prüfung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG entbehrlich (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BverwGE 140, 319 Rn. 16 f.).
Damit war Ziffer 4. des Bescheides vom 4. Mai 2016 aufzuheben. Die unter Ziffer 5. des Bescheides ausgesprochene Abschiebungsandrohung war ebenso wie die unter Ziffer 6. vorgenommene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes aufzuheben, weil diese Maßnahmen aufgrund des bestehenden Abschiebungsverbotes rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 1, § 711 ZPO.

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