Aktenzeichen Au 5 K 17.31546
Leitsatz
Auf die an sich im Zielstaat vorhandenen und grundsätzlich zugänglichen Behandlungsmöglichkeiten kann es dann nicht ankommen, wenn diese, insbesondere bei Vorliegen einer PTBS, wegen einer im Herkunftsland zu erwartenden Retraumatisierung auf Grund einer Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 4. bis 6. des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. März 2017 verpflichtet, festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
III. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der Entscheidung ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu Grunde zu legen, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG.
1. Soweit die Klage mit Schriftsatz vom 29. November 2017 teilweise sinngemäß zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nur mehr der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bis Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2. Soweit der Kläger seine Klage im Schriftsatz vom 29. November 2017 noch aufrechterhalten hat, ist sie zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 2. März 2017 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Nrn. 4 bis 6 insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten, als dieser einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie der Kläger hier ausschließlich geltend macht, liegt nach Satz 2 der Regelung nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG München, B.v. 26.4.2016 – M 16 S7 16.30786 -, juris Rn. 16). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Afghanistan) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich, § 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG.
Allerdings kann es auf die an sich im Zielstaat vorhandenen und grundsätzlich zugänglichen Behandlungsmöglichkeiten dann nicht ankommen, wenn diese wegen der insbesondere bei Vorliegen einer PTBS im Herkunftsland zu erwartenden Re-Traumatisierung auf Grund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind (vgl. Nds. OVG, U.v. 28.6.2011 – 8 LB 221/09 – juris Rn. 29; VG München, B.v. 26.4.2016 – a.a.O., juris Rn. 19).
Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Zudem sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, ist nach der Rechtsprechung in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8/07 – juris Rn. 15; OVG Berlin-Bbg, B.v. 27.9.2016 – OVG 3 N 24.15 – juris Rn. 17).
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat der Kläger hier das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinreichend glaubhaft gemacht. Ausweislich der im gerichtlichen Verfahren vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme der Facharztpraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,, vom 16. Oktober 2017, leidet der Kläger sowohl an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD F43.1) als auch an einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD F32.1). Die beim Kläger vorliegende posttraumatische Belastungsstörung sei Folge des erlebten nächtlichen Überfalls und der Brandschatzung seines Familienwohnhauses, der Entführung und anschließenden Ermordung seines Vaters sowie den Erlebnissen auf der Flucht von Afghanistan nach Deutschland im Jahr 2015 im Alter von nur 15 Jahren. Die PTBS drücke sich in wiederkehrenden Intrusionen, Übererregung, sowie Vermeidungsverhalten aus. Zudem bestünden Ein- und Durchschlafstörungen sowie häufig wiederkehrende Alpträume. Hinzukämen die Symptome einer mittelgradigen depressiven Episode mit Grübeln, einer bedrückten, freudlosen Grundstimmung, einer negativen Zukunftserwartung, sowie selbstverletzendem Verhalten und suizidalen Gedanken. Diese Diagnosen würden sich aufgrund der Verhaltensbeobachtung, Exploration mit dem Patienten und testpsychologischen Befunden ergeben. Die erlebten Situationen würden das Merkmal eines Traumas erfüllen. Der Kläger habe Gefühle von starker Hilflosigkeit, Todesangst um seine Person sowie um ihm nahestehende Menschen sowie von Derealisationserleben. Mehrere dieser Situationen erfüllten das Merkmal eines Traumas, so dass eine Politraumatisierung beim Kläger gegeben sei. Unter der Medikation mit Mirtazapin habe sich eine Verbesserung der Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten eingestellt. Zusammenfassend beschreibt die vorgelegte fachärztliche Stellungnahme eine psychische Erkrankung schwerwiegenden Ausmaßes beim Kläger. Beim Kläger liegt eine mehrfache Traumatisierung in Bezug auf die Ereignisse in Afghanistan als auch bezogen auf seine Flucht als Minderjähriger nach Europa vor. Nachvollziehbar werden die Ursachen der beim Kläger vorliegenden multiplen psychischen Erkrankung benannt. Der Vortrag des Klägers ist in diesem Zusammenhang auch nicht als gänzlich unschlüssig zu bezeichnen. Das Attest enthält weitere Angaben darüber, seit wann sich der Kläger in ärztlicher Behandlung befunden hat bzw. noch befindet. Insbesondere ist der Beginn der ärztlichen Behandlungen und die erforderlich werdende und zur Anwendung gebrachte Therapie dargelegt. Auch lässt sich dem fachärztlichen Attest entnehmen, dass die vom Kläger geschilderten psychischen Beschwerden durch fachärztlicherseits gebotene Verhaltenstests bestätigt wurden. Das Attest gibt Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf in Form medikamentöser Behandlung und begleitender Therapie. Das Gericht hat vor diesem Hintergrund keinen Anlass, an der Richtigkeit der fachärztlichen Aussagen zu zweifeln und daher auch keine Notwendigkeit gesehen, ein zusätzliches Sachverständigengutachten einzuholen.
Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass die PTBS und die mittelgradige depressive Episode behandlungsbedürftig sind. Seit September 2017 befindet sich der Kläger in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung, deren Fortführung beabsichtigt und ärztlich indiziert ist.
Im Einzelfall hat das Gericht auch keine Zweifel, dass der Kläger die erforderliche Behandlung der PTBS und der gleichzeitig vorliegenden mittelgradigen Depression in Afghanistan zumindest faktisch nicht mit hinreichender Sicherheit erhalten könnte. Zwar geht das Gericht nicht generell davon aus, dass psychische Erkrankungen in Afghanistan nicht hinreichend behandelt werden können, vielmehr ist jeweils eine Würdigung der Umstände des konkreten Einzelfalls erforderlich. Hier kommt beim Kläger jedoch hinzu, dass dieser sowohl an einer PTBS als auch an einer mittelgradigen depressiven Episode mit selbstverletzendem Verhalten und latenter Suizidalität leidet. Gerade diese Mehrfacherkrankung des Klägers macht eine Behandlung im Zielstaat Afghanistan schwierig. Eine insoweit ausreichende Therapie für den konkreten Behandlungsbedarf des Klägers, nach fachärztlicher Auffassung neben einer medikamentösen Behandlung auch eine psychotherapeutische Maßnahme, steht nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit für den Kläger im Zielstaat tatsächlich zur Verfügung. Ausweislich des Berichtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 (Stand September 2016) findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen (insbesondere Kriegstraumata) abgesehen von einzelnen Pilotprojekten nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Gleichzeitig würden viele Afghaninnen und Afghanen unter psychischen Symptomen der Depression, Angststörung oder posttraumatischer Belastungsstörung leiden. Lediglich in Kabul gebe es zwei psychiatrische Einrichtungen. Insbesondere notwendig werdende Folgebehandlungen seien oft schwierig zu leisten. Traditionell mangele es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie würden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen „behandelt“ oder es werde versucht, ihnen in einer „Therapie“ mit Brot, Wasser und Pfeffer den „bösen Geist auszutreiben“ (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 23, 24). Die multiple Erkrankung des Klägers aufgrund der Erlebnisse in Afghanistan und die Aussagen im Lagebericht des Auswärtigen Amtes zugrunde legend kann für den Kläger deshalb nicht mit hinreichender Sicherheit angenommen werden, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan zeitnah die für ihn erforderliche Psychotherapie erhalten bzw. fortsetzen kann.
Weiter ist zur Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass sich die psychische Erkrankung des Klägers (PTBS und mittelgradige depressive Episode) ohne Behandlung nach einer Rückkehr nach Afghanistan alsbald und wesentlich verschlimmern würde. Bei einem Abbruch der Behandlung ist nach fachärztlicher Einschätzung auch eine suizidale Handlung im Rahmen einer schweren Störung beim Kläger naheliegend. Gemessen an dieser fachärztlichen Einschätzung, an der das Gericht keine Zweifel hat, ist festzustellen, dass sich die multiple psychische Erkrankung des Klägers bei einer Rückkehr nach Afghanistan verschlimmern würde. Auf Grund der latenten Suizidalität ist auch mit einer wesentlichen, das Leben bedrohenden Verschlimmerung zu rechnen bzw. diese nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen.
3. Nach alledem ist auf Grundlage der vorgelegten psychologischen Stellungnahme, die auch die erforderliche Aktualität aufweist, nach Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass dem Kläger ein Schutzanspruch im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht, nicht nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Nrn. 4., 5. und 6. des Bescheides, die dieser Feststellung entgegenstehen, waren daher antragsgemäß aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, wobei das Gericht zu Grunde gelegt hat, dass die sinngemäße Klagerücknahme des Klägers zwei Drittel des ursprünglichen Streitgegenstandes betrifft, während der Kläger hinsichtlich der weiter aufrechterhaltenen Klage vollständig obsiegt.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).