Aktenzeichen M 18 K 17.30309
Leitsatz
In Afghanistan ist nicht gesichert, dass ein an schwerwiegenden psychischen Problemen leidender Asylbewerber seine Medikamente für den täglichen Bedarf und einen Therapieplatz besorgen bzw. bezahlen kann. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … … … wird in den Nrn. 4 – 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
III. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, ist das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
Bezüglich des Antrags auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass für den Kläger hinsichtlich Afghanistans ein Abschiebungsverbot vorliegt, ist die Klage begründet.
Ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG steht dem Kläger zu. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll festgestellt werden, wenn im Zielstaat für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Bei Erkrankungen liegt eine erhebliche konkrete Gefahr nach Maßgabe des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
Nach Überzeugung des Gerichts hat der Kläger substantiiert vorgetragen derzeit an schwerwiegenden psychischen Problemen zu leiden. Laut den Angaben in den fachärztlichen Stellungnahmen, die bereits im Rahmen des Asylverfahrens vorgelegt wurden, leidet der Kläger an einem posttraumatischen Belastungssyndrom, einer mittelgradigen Depression, einer generalisierten Angststörung und unter psychisch bedingten Spannungskopfschmerzen. Das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F 43.1), einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD 10: S 32.1) und Kopfschmerzen vom Spannungstyp (ICD 10: G 44.2) gelten laut dem psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 14. August 2018 medizinisch als gesichert. Der Kläger befindet sich nach den Ermittlungen des Sachverständigen seit Juli 2017 in psychotherapeutischer Behandlung. Aufgrund von Nebenwirkungen hat der Kläger die verschriebenen antidepressiv wirkenden Medikamente nach kurzer Einnahme selbstständig abgesetzt.
Die Erkrankung des Klägers ist nach Einschätzung des Gerichts auch als schwerwiegend anzusehen. Nach Angabe des Sachverständigen leidet der Kläger an ausgeprägten Flashbacks, die sich insbesondere in Form von Albträumen äußern. Eine erhöhte psychische Sensitivität und Erregung mit Ein- und Durchschlafstörungen, mit Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz und erhöhte Schreckhaftigkeit wird im Gutachten festgestellt. Ein manifestes depressives Syndrom liegt vor. Der Kläger leidet unter immer wiederkehrenden Suizidgedanken, wobei er aktuell von akuter Suizidalität glaubhaft distanziert sei (Seite 24, 19f, 31 des Gutachtens). Eine dauerhafte medikamentöse Einstellung sowie regelmäßige psychotherapeutische Behandlungen sind aus gutachterlicher Sicht dringend erforderlich für eine medizinisch adäquate Therapie (S. 33 des Gutachtens). Ein weiterer Hinweis auf die Schwere der Erkrankung des Klägers ist darin zu sehen, dass dieser trotz einer engmaschigen jugendhilferechtlichen Betreuung aufgrund seiner psychischen Probleme ein Schulabschluss bzw. eine berufsvorbereitende Maßnahme nicht erfolgreich abschließen konnte (S. 13f des Gutachtens).
Eine konkrete, erhebliche Gefahr für das Leben bzw. den Leib des Klägers ist bei Abschiebung nach Afghanistan aufgrund der schwerwiegenden Erkrankung zu erwarten. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – juris). Eine Gefahr ist „erheblich“, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 8).
Die Gefahr einer eintretenden erheblichen Gesundheits- bzw. Lebensgefahr ist im Fall des Klägers bei Rückführung nach Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit konkret zu erwarten. Nach der Einschätzung des Sachverständigen würde eine Unterbrechung der aktuell stattfindenden Behandlung, zum Beispiel durch Abschiebung, mit einem sehr hohen Maß an Wahrscheinlichkeit zu einer aus psychiatrischer Sicht sehr ernstzunehmenden psychischen Dekompensierung und auch Destabilisierung beim Kläger führen. Es sei nicht auszuschließen, dass der Kläger sich selbst suizidieren würde. Zusammenfassend wird festgehalten, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung von Deutschland nach Afghanistan aus medizinischer Sicht in eine Situation mit massiver Selbstgefährdung gebracht werden würde (S. 34 des Gutachtens). Diese erhebliche Selbstgefährdung gründet in der aus Sicht des Klägers hoffnungslosen und aussichtslosen Situation in Afghanistan, geprägt von Ohnmacht und Verzweiflung bei der bestehenden Bedrohungskulisse durch die väterliche Seite der Großfamilie (S. 18ff, 34 des Gutachtens), sodass die Symptomverschlechterung aufgrund der erlebten Ohnmacht bei einer Rückführung nach Einschätzung des Gerichts bald nach der Abschiebung eintreten würden.
Bei Rückkehr nach Afghanistan ist nicht gesichert, dass es dem Kläger möglich sein wird, seine Medikamente für den täglichen Bedarf und einen Therapieplatz zu besorgen bzw. zu bezahlen. Angesichts der Mengen an Binnenvertriebenen und Rückkehrern und der dadurch erfolgten aktuellen Überlastung der städtischen Infrastruktur, des Gesundheitssektors und Arbeitsmarktes scheint es mehr als unsicher ist, ob es dem Kläger gelingen wird, die finanziellen Mittel für die Medikamente aufzubringen und sich diese in ausreichenden Mengen verfügbar zu machen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundeamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 29.6.2018, S. 314ff, 318ff; UNHCR-Richtlinie vom 30. August 2018, S. 16f). Die psychotherapeutische Behandlung bei M., die seit Juli 2017 regelmäßig stattfindet, kann nach der aktuellen Erkenntnismittel Lage in Afghanistan schon aufgrund Kapazitätsprobleme im Gesundheitssystem und der gesellschaftlichen Einstellung zu psychischen Problemen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht fortgeführt werden. In Afghanistan sind psychotherapeutische Behandlungen nur in sehr wenigen Krankenhäusern verfügbar und von sehr hohen Kosten begleitet. So gibt es für alle Bewohner Afghanistans lediglich eine spezialisierte Klinik, drei Psychiater und zehn Psychologen (siehe EASO COI Afghanistan, Key Socioeconomic indicators, state protection and mobility in Kabul City, Mazar-e-Sharif and Herat City, August 2017, S. 53f). Weiter ist nach Sachverständigensicht eine medikamentöse Behandlung und Einstellung des Klägers aus medizinischer Sicht dringend erforderlich. Aufgrund der bei gängigen Antidepressiva bestehenden Nebenwirkungen beim Kläger ist davon auszugehen, dass eine engmaschige Betreuung bei der Einstellung der Medikamente notwendig ist. Das Gericht bezweifelt aufgrund der vorliegenden Kapazitätsengpässe, dass eine angemessene medizinische Betreuung in Afghanistan möglich ist.
Der Kläger kann zwar auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen. Dieses Netzwerk ist jedoch stark reduziert (Mutter, vier Geschwister und drei Onkel), lebt unter ärmlichen Bedingungen (S. 21) und ist aufgrund der seit der Ausreise des Klägers starken Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation möglicherweise nicht mehr finanzkräftig und finanzierungswillig. Ob die Onkel mütterlicherseits bzw. Geschwister den Unterhalt des Klägers inklusive der in Afghanistan teuren Medikamenten sichern, ist auch angesichts der fehlenden Anerkennung von psychischen Erkrankungen in Afghanistan (siehe EASO COI Afghanistan, Key Socioeconomic indicators, state protection and mobility in Kabul City, Mazar-e-Sharif and Herat City, S. 51f, (53)) nicht abzusehen, dazumal aktuell kein Kontakt zur Familie besteht.
Es ist daher nach den Angaben im Sachverständigengutachten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger – selbst bei weiter durchgeführter medikamentöser bzw. therapeutischer Behandlung – relativ bald nach seiner Abschiebung nach Afghanistan eine erhebliche Dekompensierung und Destabilisierung bis hin zur Selbstgefährdung erleiden werde.
Da dem Kläger bei Abschiebung nach Afghanistan eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und/oder Leben aufgrund seiner schwerwiegenden, sich wahrscheinlich bei Rückkehr erheblich verschlechternden Erkrankung droht, ist der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes in den Ziffern 4 bis 6 aufzuheben und dem Kläger Abschiebungsschutz zu gewähren.
Die Kostenfolge ergibt sich für die Klagerücknahme bezüglich des § 4 AsylG aus § 155 Abs. 2 VwGO und wegen des Obsiegens des Klägers bezüglich des aufrechterhaltenen Klageantrages aus § 154 Abs. 1 VwGO. Aus der Gewichtung der Klageanträge ergibt sich die Kostenverteilung von zwei Drittel zu Lasten des Klägers und einem Drittel zu Lasten der Beklagten. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei nach § 83b AsylG.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708, 711 ZPO.