Medizinrecht

Abschiebungsverbot wegen Niereninsuffizienz – Armenien

Aktenzeichen  AN 6 K 17.34985

Datum:
5.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41166
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1.    Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 26. Juli 2017 verpflichtet, bei dem Kläger das Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Armeniens festzustellen. 
2.    Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Gerichtskosten werden nicht erhoben. 

Gründe

Die vorliegende Klage, mit der der Kläger den Bundesamtsbescheid vom 26. Juli 2017 lediglich in Ziffern 4-6 angreift und nebst entsprechender Bescheidsaufhebung die Verpflichtung des BAMF zur Feststellung humanitären Abschiebungsschutzes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger begehrt, ist sowohl zulässig als auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) bezogen auf sein Heimatland Armenien begründet.
Die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind vorliegend erfüllt und das Rest-Ermessen des BAMF hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Rahmen dieser Bestimmung ist zugleich auf Null zu Gunsten des Klägers reduziert.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie für den Kläger hier ausschließlich geltend gemacht wird, liegt nach Satz 2 dieser Vorschrift nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG Augsburg, U.v. 1.10.2018 – Au 5 K 17.32950). Eine entsprechende Gefahr kann sich auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung dort tatsächlich nicht erlangen kann. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation dem betroffenen Ausländer aus finanziellen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1.02). Allerdings muss sich der Ausländer grundsätzlich auf den im Heimatland vorhandenen Versorgungsstand im Gesundheitswesen verweisen lassen. Denn § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG garantiert keinen Anspruch auf „optimale Behandlung“ einer Erkrankung oder auf Teilhabe an dem medizinischen Standard in Deutschland. Der Abschiebungsschutz soll den Ausländer vielmehr vor einer gravierenden Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter bewahren (OVG NW, B.v. 14.6.2005 – 11 A 4518/02.A). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Armenien) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich (§ 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG).
Gemessen an diesen Maßstäben ist im Fall des Klägers entgegen der Auffassung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid zum maßgeblichen gegenwärtigen Zeitpunkt bei Zugrundelegung seiner Erkrankungen und der Verhältnisse in seinem Heimatland Armenien – unter Berücksichtigung der Folgen der laufenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um Berg-Karabach und der Corona-Pandemie – vom Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen bei Rückführung in das Heimatland auszugehen.
Der Kläger ist nach den vorgelegten ärztlichen Attesten überlebensnotwendig auf eine ununterbrochene Hämodialysebehandlung (seit längerem durchgeführt in der Frequenz von 3-mal wöchentlich bei jeweils mindestens 4 Stunden Dauer) angewiesen, die neben der üblichen diesbezüglichen Medikation u.a. auch noch durch die Verabreichung zweier blutdrucksenkender Medikamente begleitet wird; bereits eine Unterbrechung der Hämodialyse von nur wenigen Tagen führt bei ihm zu lebensbedrohlichen Konsequenzen. Eine theoretisch zur Behebung seiner terminalen Niereninsuffizienz auch noch mögliche Nierentransplantation steht zur Zeit weder hier in Deutschland noch geschweige denn in Armenien zur Debatte. In seiner durch die Dialysebedürftigkeit geschwächten allgemeinen körperlichen Verfassung ist er zusätzlich bei ununterbrochener, mehrfach pro Woche bestehender Behandlungsnotwendigkeit in einem Dialysezentrum besonders bedroht durch eine etwaige Covid-19-Infektion und deren potenziell schweren Folgen bis hin zum Tod.
In Armenien würde er nunmehr folgende wesentliche Verhältnisse antreffen:
Wie aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Berichten der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung, eines WIKIPEDIA-Artikels über die Covid-19-Pandemie in Armenien und der Verlautbarung der WKO Österreich zu entnehmen ist, ist auch Armenien heftig von einer ersten Welle der COVID-19-Pandemie erfasst worden. Das bereits vorher finanziell unterversorgte Gesundheitssystem versagte, nur noch Infizierte mit erheblichen Symptomen konnten in die Krankenhäuser aufgenommen werden. Die Pandemie hatte außerdem auch massive Auswirkungen auf das dortige gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben und die Infrastruktur des schwachen Gesundheitssystems. Die Corona-Pandemie hat in Armenien zu Einkommenseinbußen, Entlassungen und Betriebsschließungen geführt. Nach der obligatorischen Schließung sahen sich Tausende von Menschen in Armenien, die entweder im Ausland – hauptsächlich in Russland – oder als Tagelöhner im Dienstleistungs- und Bausektor, arbeiten, ernsthaften finanziellen Einbußen ausgesetzt (Heinrich-Böll-Stiftung: „Das Coronavirus hat Armenien den Krieg erklärt“ vom 15.6.2020). Schon in Folge der ersten Infektionswelle war die Erkrankungsrate erheblich (z. B. am 7.7.2020: 17.064 Infizierte und 285 Tote bei einer Bevölkerung von knapp 3 Millionen Menschen). Nach einer Abschwächung der Zahl der täglichen Neu-Infektionen über die Sommermonate ist es aber nunmehr wieder zu einem starken Anstieg der Infektionszahlen gekommen. Am 30. Oktober 2020 war nunmehr eine Zahl von 89.813 Fällen seit Beginn der Pandemie in Armenien erfasst, davon allein 25.039 erst in den letzten 14 Tagen vom 16. bis 29. Oktober 2020; die Zahl der erfassten Todesfälle in Zusammenhang mit der Virusinfektion wird zu diesem Zeitpunkt schon mit 1.341 angegeben (Wikipedia-Statistik zu Corona-Fällen in Armenien Stand 30. Oktober 2020).
Zugleich werden die armenische Gesellschaft und Wirtschaft und insbesondere die öffentliche Infrastruktur Armeniens aktuell heftig von den Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach getroffen, die Armenien zu einer Mobilisierung seiner Bevölkerung und Ressourcen für die offen entflammten Kampfhandlungen in der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region gezwungen haben und die zuletzt einen für Armenien ungünstigen Verlauf genommen haben. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die umstrittene Kaukasus-Region war Ende September 2020 wieder voll entbrannt. Seit Beginn der Kämpfe wurden nach offiziellen Angaben beider Konfliktparteien mehr als 1.200 Menschen getötet. Tatsächlich dürfte allein die Zahl der Toten aber deutlich höher liegen, so hatte Russlands Präsident Putin schon von fast 5.000 Toten durch die Gefechte gesprochen. Nachdem sich Armenien und Aserbaidschan auch am 30. Oktober 2020 bei Gesprächen nicht auf eine Feuerpause einigen konnten, musste der armenische Regierungschef Paschinjan den russischen Präsidenten Putin offiziell um Hilfe im Konflikt bitten; Paschinjan habe Putin um den Beginn dringender Konsultation gebeten, es solle über Art und Umfang der Hilfe gesprochen werden, die die Russische Föderation Armenien zur Verfügung stellen kann, um seine Sicherheit zu gewährleisten (vgl. faz.net „Armenien bittet Russland um Hilfe“ vom 31.10.2020).
In Konsequenz dieser Entwicklungen muss für den Fall des Klägers, der nicht zur armenischen Oberschicht gehört, durch seine Erkrankung schwer gehandicapt ist und auch glaubhaft nicht über ganz besondere einsetzbare finanzielle Ressourcen verfügt, mit mehr als beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass er gegenwärtig und in nächster Zukunft bei Rückführung nach Armenien als neu aus dem Ausland zurückkehrende Person in den Turbulenzen, in die das ohnehin unterentwickelte armenische Gesundheitssystem durch die Pandemie und durch die Versorgung der Opfer des Berg-Karabachkonflikts geraten ist, nicht mit der für ihn überlebensnotwendigen Kontinuität seiner Dialysebehandlung rechnen kann (deren Sicherstellung auch schon zu „normalen“ Zeiten doch erhebliche Anstrengungen bedeutet hätte), zumal auch noch das zusätzliche Erfordernis seiner Bluthochdruckmedikation in Betracht zu ziehen ist. Die Gefährdungslage des Klägers wird weiter noch dadurch gesteigert, dass er, wie bereits erwähnt, in seinem geschwächten Gesundheitszustand als Hämodialyse-Patient den Gefahren der Covid-19-Pandemie besonders ausgesetzt ist, wobei einleuchtendermaßen bei ihm die Gefahr einer solchen Infektion dadurch erheblich erhöht ist, dass er für sein Überleben einer dreimal wöchentlichen Aufnahme und Behandlung in einem Dialysezentrum mit all den damit verbundenen potentiellen Infektionsquellen bedarf. Damit droht dem Kläger zur Überzeugung der Kammer aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Abschiebung nach Armenien gegenwärtig und in nächster Zukunft eine zumindest wesentliche Verschlechterung einer zumindest schwerwiegenden Erkrankung und damit eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG.
Der mit der Klage begehrten Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebehindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Armeniens im Fall des Klägers steht dabei auch nicht das bei dieser Vorschrift auf der Rechtsfolgenseite bestehende Rest-Ermessen des Bundesamtes entgegen, obwohl der Kläger offenkundig das Asylverfahren lediglich dazu benutzt hat, um sich Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zur Behandlung seiner Niereninsuffizienz zu verschaffen.
Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich gemäß seinem Wortlaut um eine „Soll“-Vorschrift. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, soll als Rechtsfolge von einer Abschiebung abgesehen werden (vgl. insofern auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420 S. 91: „soll […] normalerweise […]“). Die Regelung in einer Rechtsvorschrift, dass eine Behörde sich in bestimmter Weise verhalten soll, bedeutet zwar eine strikte Bindung für den Regelfall, gestattet jedoch Abweichungen in atypischen Fällen, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der „automatische“ Eintritt der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird. Dieses reduzierte, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei Entscheidungen über Asylanträge nach dem Asylgesetz, wie hier, zugewiesene Ermessen greift nach ständiger Rechtsprechung der Kammer jedenfalls dann Platz, wenn ein Ausländer allein deshalb hier einen Asylantrag unter Missbrauch dieses Verfahrens stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, und wenn zudem aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind (vgl. dazu zuletzt näher U.v. 9.7.2020 – AN 6 K 17. 35831 – juris).
Diese Voraussetzungen für die Ermessenseröffnung liegen beim Kläger auch ohne weiteres vor, nachdem er schon in Armenien – nach seinem Empfinden unzureichend effizient – dialysiert wurde und hier in Deutschland fortwährender Hämo-Dialyse mit Begleitbehandlung bedarf und er nach seinen eigenen Angaben bei seiner Anhörung zu seinem Asylantrag in erster Linie wegen seiner gesundheitlichen Lage nach Deutschland gekommen ist, er möchte sich medizinisch behandeln lassen und sich in Deutschland niederlassen, hier habe man bessere Möglichkeiten, sich medizinisch versorgen zu lassen.
Jedoch ist ausnahmsweise im Fall des Klägers das in der skizzierten Missbrauchskonstellation eröffnete Ermessen des Bundesamtes zu seinen Gunsten auf Null reduziert. Das Gericht schätzt, wie dargelegt, die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei den gegenwärtigen Verhältnissen in Armenien als Rückkehrer nicht in der gebotenen Kontinuität und Qualität die Hämodialysebehandlung erhalten wird, als sehr hoch ein. Die Nicht-Gewährung einer Hämodialyse würde aber für den Kläger innerhalb einer Woche den sicheren Tod bedeuten (Attest des Dialysezentrums … vom 12. Oktober 2020), während bei fortlaufender Hämodialyse die Lebenserwartung des Klägers – bei unter den gegebenen Umständen aus Sicht des Klägers guter Lebensqualität – auf absehbare Zeit nicht begrenzt erscheint. Unter diesen Umständen ist vor dem Hintergrund von Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Zuerkennung von Abschiebeschutz unmittelbar geboten.
Da dem Kläger mithin der Anspruch auf Zuerkennung des Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich seines Heimatlandes Armenien zukommt, können aus dem streitgegenständlichen Bescheid auch die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung (Nr. 5) und der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG (Nr. 6) keinen Bestand haben. Diese sind mit aufzuheben, weil entgegen Nr. 5 das zuzuerkennende Abschiebungsverbot der Androhung der Abschiebung in das betreffende Land gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zwingend entgegensteht und weil im Ausspruch in Nr. 6 überhaupt erst die Verhängung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Einzelfall begründet liegt (vgl. dazu BVerwG, B.v. 13.7.2017 – juris, LS 1, Rn. 70 ff), die aber wiederum eine Abschiebungsandrohung voraussetzen würde.
Da somit der hier zur Entscheidung stehenden Klage uneingeschränkt stattgegeben wird, erfolgt die Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1 VwGO zu Lasten der Beklagten.
Gerichtskosten fallen nicht an, da das Verfahren gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei ist.
Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

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